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«Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer»

Feindbild Russland  – jeden Tag
von Karl-Jürgen Müller
Karl-Jürgen Müller ist Lehrer in Deutschland. Er unterrichtet die Fächer Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde.
11. Mai 2017
Der 10. Mai 2017 wird später einmal nicht in den Geschichtsbüchern stehen. Trotzdem ist auch dieser Tag so symptomatisch wie fast jeder Tag der veröffentlichten Meinung in unseren US-geprägten Ländern: Das Feindbild Russland muss immer wieder erneuert und vertieft werden. Jeglicher zarte Versuch, dabei nicht mitzumachen, erhält das Verdammungsurteil.

Was ist passiert am 10. Mai 2017? Der US-amerikanische Präsident Donald Trump hat den Chef des FBI entlassen. Sofort macht die Meldung die Runde, dies sei geschehen, um die Ermittlungen gegen den Präsidenten und dessen Wahlkampfteam zu behindern. Ermittelt werden soll, ob die russische Regierung die Präsidentenwahlen im November 2016 beeinflusst hat und ob dies in Absprache mit Trump und dessen Team geschehen ist.

Schon dem Ermittlungsauftrag selbst hängt etwas Kafkaeskes an. Literaturkenner müssen an Kafkas Roman «Der Process» denken: «Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet …»

Aber man mag es kaum glauben: Das Kafkaeske der US-amerikanischen Ermittlungen wird noch überboten durch ein Interview des CDU-Abgeordneten Jürgen Hardt, der zugleich der deutsche «Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit» ist. Auch er nahm im Deutschlandfunk (10. Mai) zur Entlassung des FBI-Chefs Stellung und forderte den US-Präsidenten auf, bei seinen Begegnungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin beim kommenden G20-Gipfel in Hamburg der Linie der anderen Nato-Regierungen, insbesondere der deutschen, zu folgen und klare Kante gegen Russland zu zeigen; denn nur so könne er beweisen, dass an den Vorwürfen gegen ihn nichts dran sei. Sprich: Sollte es der US-Präsident wagen, dem russischen Präsidenten ein Signal der Entspannung zu senden, dann wäre laut Hardt bewiesen, dass Trump Dreck am Stecken hat.

Was ist sonst noch passiert am 10. Mai? Die international bekannteste Schweizer Tageszeitung, die «Neue Zürcher Zeitung», macht nach wie vor bei all dem mit. Jeder Artikel über Russland in dieser Zeitung ist ein weiterer Teil der bekannten Feindbildpropaganda   – wirklich jeder … und das jede Woche fast jeden Tag. Am 10. Mai waren es gleich zwei Artikel im ersten Bund der Zeitung. In dem einen Artikel wird auf eine perfide Art und Weise gegen die russische Erinnerungskultur zum 9. Mai 1945 angeschrieben. Im anderen Artikel wird ausführlich über den Besuch des russischen Präsidenten bei seinem ehemaligen Mentor im Geheimdienst anlässlich dessen 90. Geburtstag polemisiert. Da spielt es plötzlich eine Rolle, welcher Champagner getrunken wird und welche Gürtelweite weitere Gäste haben. Man staunt und ist befremdet in Anbetracht so vieler journalistischer Fehlgriffe. Aber noch mehr fragt man sich: Ist es möglich, dass ein derartiger Stil im Umgang mit einem anderen Land und dessen Regierung Wirkung entfalten kann? Hatten wir nicht einmal gedacht, dass die Zeiten von «Stürmer» und Co. endgültig vorbei sind? Aber Edward Bernays, Walter Lippmann und Co. (made in USA) wirken bis heute. Man schaue sich nur den fast vierstündigen Film «The Century oft the Self» an!

Und dann denkt man an die Präsidentenwahlen in Frankreich. Wie ist es nur möglich, dass so ein Mann, allein von einschlägigen Kreisen von oben her ins Rampenlicht gestellt, ohne konzises politisches Programm, aber voller medialer Inszenierungen, zum Präsidenten eines so wichtigen europäischen Landes gewählt wird? Sind so viele Menschen im Westen erneut so manipulierbar, dass sie selbst ihre eigenen Henker wählen würden?

Goya Schlaf der Vernunft

Originaltitel: El sueño de la razón produce monstruos

«Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer»   – vor mehr als 200 Jahren malte der spanische Künstler Francisco de Goya sein weltberühmtes Gemälde. Und wo stehen wir heute?

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