Wenn’s den Teufel gibt, dann muss man ihn interviewen. Selbstverständlich. Ich treffe den meistgesuchten Journalisten der Welt in seinem TV-Studio etwas abseits des Zentrums von Moskau. Es ist ein unauffälliger Fabrik-Bau, könnte auch ein Warenlager sein. Wir fahren in einem Taxi vor. Neben mir sitzt Sergei, ein hochintelligenter Mann, Absolvent der Kennedy School in Harvard, der Kaderschmiede der US-Diplomatie. Er hat viele Jahre in den USA gelebt, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an führenden Hochschulen, auch in Princeton und Yale. Danach war er in den Regierungen dreier russischer Präsidenten tätig   – Gorbatschow, Jelzin und in der ersten Amtszeit von Putin. Heute wirkt er als Policy-Chef in einem Grosskonzern. Er kennt den Teufel seit seiner Kindheit.

«Bester Ex-Mann der Welt»

Wladimir Solowjow begrüsst uns mit einem fundierten Lächeln in seiner Garderobe, abgemagert, durchtrainiert, mit sandfarbenem Hemd, darunter ein khaki-grünes T-Shirt, ein Mann im Krieg. Auf den meisten Bildern, die über den Sechzigjährigen kursieren, ist er dreissig Kilo schwerer. Solowjow ist der erfolgreichste Talkshow-Moderator Russlands, Millionen schauen ihm zu, Abend für Abend, seinen Ausschweifungen, dem patriotischen Zorn, seinen Hollywood-reifen Übertreibungen und Macho-Posen, wirkungsvolles Schauspiel der Empörung, etwa als er einst den Briten einen nuklearen Vergeltungsschlag androhte mit einer Superwaffe namens Poseidon, die die Insel unter einer radioaktiv verseuchten Tsunami-Welle begraben werde.

«Ich bin Jude, gegen Nazis, Europa nimmt mir mein Eigentum weg. Nichts Neues unter der Sonne.»

Spätestens seit dieser Eskapade gilt Solowjow im Westen als Dschingis Khan des Journalismus, als Hetzer von Putins Gnaden, als derart gemeingefährlich, dass ihn die Amerikaner und die EU schon ein paar Tage vor (!) dem Einmarsch der Russen in der Ukraine auf alle Sanktionslisten setzten. Der Moderator, dessen jüdische Mutter Schulvorsteherin in Moskau war, arbeitete zuvor übrigens als Dozent an amerikanischen Universitäten. Sergei erzählt mir, Solowjow sei blitzgescheit und unabhängig, kein Kreml-höriger Putin-Lautsprecher, sondern ein eigenständiger Kopf, umfassend gebildet, sein literarisches Wissen sei exzellent. Er sei arbeitsverrückt, ein Workaholic.

Tatsächlich: Solowjow macht sechs dreistündige Diskussionssendungen am Abend pro Woche, drei mehrstündige Radioprogramme am Morgen, dazwischen bespielt er mit weiteren Beiträgen und Interviews seinen Telegram-Kanal. Er komme abends um elf nach Hause, stehe am Morgen um fünf auf. Seine Ex-Frau, erzählt er uns, nenne ihn den «besten Ex-Mann der Welt». Seine Arbeitswut und sein Talent für die Gefühle der Zuschauer haben ihn steinreich gemacht. Doch seine Villa am Comersee bleibt ihm verwehrt, «eingefroren» wegen der Sanktionen von den italienischen Behörden.

«Tja», seufzt der Teufel. Oder sitzt mir ein russischer Woody Allen gegenüber? «Ich bin Jude, ich bin gegen Nazis, und die Europäer nehmen mir mein Eigentum weg. Nichts Neues unter der Sonne.» Gegen Nazis? Natürlich sei das ukrainische Regime von Nazis gesteuert, fährt er fort, ob wir denn keine Augen im Kopf hätten. «Haben Sie schon mal den Namen Bandera gehört? Sie jubeln Kriegsverbrechern zu, unterdrücken Minderheiten, ermorden Russen.» Der Westen, die Deutschen, die Amerikaner hätten jahrelang weggeschaut, diese Ultranationalisten noch gefördert. «Wussten Sie, dass die ukrainische Artillerie zwei Wochen vor Putins Einmarsch ihren Beschuss auf Luhansk und Donezk massiv verschärft hat?» Stimmt, aber die Reuters-Meldung damals druckte fast niemand.

Freiheit, Vielfalt, Traditionen

Was Russland in der Ukraine auf sich genommen habe, sei kein Angriffskrieg, sagt Solowjow, sondern eine Befreiung, «die längst überfällige Hilfe für unsere Brüder im Donbass, die von den Verbrechern in Kiew systematisch ermordet wurden. Aber der Westen ist nicht bereit, die russische Sicht zu hören, weil ihr die Russen verachtet, auf sie herabschaut, euch für moralisch und zivilisatorisch so ungeheuer überlegen hält, dabei seid ihr dabei, die Grundwerte des Westens, die Freiheit, die Vielfalt, die Traditionen, die Familie, die Wirtschaft und die Wissenschaft mit eurem Gender-Wahnsinn zu zerstören.»

«Wir haben noch nicht mal angefangen. Für uns ist das eine Polizeiaktion.»Solowjow kommt auf die Kriegsverbrechen zu sprechen. Regelmässig fährt er an die Front. Die Wände sind voll mit Medienpreisen und Anerkennungsurkunden. Nein, die Russen hätten diese Gräueltaten nicht begangen. Es gebe zu viele Ungereimtheiten und bis heute keine unabhängige Untersuchung. Die Toten seien nicht exekutiert worden, sondern durch Schrapnell-Beschuss ums Leben gekommen, sagt er, und zwar ausgerechnet dann, als sich die Russen und die Ukrainer im April 2022 auf einen Frieden zu verständigen begannen. Das Bild vom barbarischen Russen? «Westliches Klischee, Rassismus seit über hundert Jahren.» Der tiefere Kriegsgrund? «Die USA sind ein Imperium im Niedergang, sie verteidigen ihre Stellung durch Krieg.» Solowjow spricht von Naturgesetzen der Geschichte.

Virtuose des Mundwerks

Ich frage Solowjow, ob er das damals ernst gemeint habe mit der nuklearen Monsterwelle gegen Grossbritannien. Wieder das wissende Lächeln. «Habt ihr eigentlich gar keinen Humor mehr?» Natürlich sei das Entertainment, Pop-Kultur, eine Anspielung auf Hollywood, Monty Python, «die Russen lieben Ironie». Er sei Journalist, aber er sei auch Unterhalter. Sein Erfolgsrezept? Er höre seinen Gästen zu, lasse sie lange ausreden.

Aktuell sei die grosse Frage, ob die Ukrainer die grosse Gegenoffensive starten. Er zweifelt keine Sekunde, dass die Russen diesen Krieg gewinnen werden. «Wir haben noch nicht mal angefangen. Für uns ist das eine Polizeiaktion. Und was macht euch so sicher, dass wir die Atombombe nicht zünden? Wir haben alle Zeit der Welt.» Er dehnt seine Worte, Es fühlt sich an wie eine Szene aus einem amerikanischen Katastrophenfilm.

Die Sendung beginnt gleich. In seinem Büro leuchtet ein Wandgemälde des Comer Sees. Sind die Russen am Ende melancholische Italiener? Solowjow bekommt einen Anruf. Es ist der amerikanische Hollywoodstar Steven Seagal, Putin-Fan, bekannt aus einer Reihe von Faust- und Kampfsportfilmen. Der «Propagandist des Bösen», ein Karajan des Mundwerks, betritt seine Bühne, rot und schwarz, das Blut und die Nacht. Ich frage mich: Warum eigentlich kommt einer, auch bei uns, auf eine Sanktionsliste, nur weil er Meinungen äussert, die unseren Regierungen nicht passen? Vielleicht ist Russland verrückt geworden, aber auch der Westen spinnt.

Wir sind uns alle näher, als wir glauben.

 Quelle: weltwoche.ch/daily/besuch-beim-teufel...
Mit freundlicher Genehmigung von Weltwoche.ch