Wie der moderne Hexenglaube unseren Wohlstand gefährdet
Kommentar aus psychologischer Sicht zur grossen Verbreitung der Ansicht, dass Menschen mithilfe übernatürlicher Kräfte Unheil über einen anderen Menschen bringen können (Hexenglauben), gemäss Boris Gershmans Überblicksstudie bei 144’000 Befragten in 95 Ländern.
Es ist erstaunlich, wie weit verbreitet der Glaube ist, dass mit Zaubersprüchen und Flüchen respektive schwarzer Magie anderen Menschen Schaden zugefügt werden kann. Die Aufklärung, das Heraustreten der Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, hat noch viel zu wenig Wurzeln geschlagen. Der Wahlspruch «Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen» ist eingeschränkt, 43% der Bevölkerung aus 95 Ländern (islamische und christliche) glauben an übernatürliche Kräfte, mit denen andere Menschen einem selbst schaden können. Jüngere Menschen glauben das öfter als ältere, Menschen mit tieferer formaler Bildung öfter als mit höherer Bildung, religiöse Menschen viel öfter als areligiöse Menschen.
Es ist psychologisch gesehen interessant, dass Menschen, die an diese negative Beeinflussung glauben vermehrt Ängste haben und dass deren Weltsicht viel pessimistischer ist. Sie haben viel weniger Vertrauen in ihre Mitmenschen und kooperieren deshalb viel weniger mit anderen Menschen insbesondere mit fremden Menschen. Sie sind weniger bereit, anderen ausserhalb der eigenen Familie zu helfen und kommen mit Nachbarn nicht so gut aus. Ihr Misstrauen gegenüber Menschen ist viel grösser, so dass sie auch weniger Freundschaften aufbauen, ihr Leben viel weniger in die Hand nehmen und sich viel mehr und schneller bedroht fühlen. Sie sind viel stärker davon überzeugt, dass sie aufpassen müssen, nicht angegriffen zu werden. Sie wollen verhindern, dass man ihnen unterstellt, sie würden anderen etwas Böses tun. Und sind deshalb möglichst unauffällig. Sie fühlen sich deshalb generell viel mehr dem Leben ausgeliefert und fühlen sich bedroht. Sie können viel weniger unternehmen, ihr Leben zu verbessern und zusammen mit anderen ein schöneres Leben auf dieser Erde aufzubauen.
Es steht für alle psychologisch Interessierten eine grosse Aufgabe an, das menschliche Fühlen, Denken und Handeln von dieser Selbstbeschränkung zu befreien, so dass ein selbstbestimmtes Leben in Kooperation mit anderen möglich wird. Die Entlastung von Ängsten vor übernatürlichen schädlichen Kräften wirkt sich auf das gesamte Seelenleben und die Fähigkeit aus, das gesellschaftliche Leben, freier, kooperativer und emotional verbundener auszubauen. Diethelm Raff, www.diethelm-raff.ch
Im Jahr 2016 veröffentlichte Gershman eine Studie in der Zeitschrift Journal of Delevopment Economics, für die er untersuchte, wie der Glaube an schwarze Magie das Sozialkapital in 19 Subsahara-Ländern beeinflusst. Die Antwort: äußerst negativ. Je stärker der Glaube an Hexerei in den Gemeinschaften verankert ist, desto größer ist das allgemeine Misstrauen und desto geringer der Zusammenhalt. Das ist nicht nur Gift für das gesellschaftliche Leben, sondern auch für die Volkswirtschaft.
Auf der ganzen Welt glauben Menschen an Hexerei
Ob und wie stark sich Menschen in einem Land vor schwarzer Magie fürchten, ist für die Wirtschaft also durchaus relevant. Das Problem: Ethnographische Fallstudien zum Hexenglauben gibt es viele, doch aussagekräftige statistische Daten – insbesondere auf globaler Ebene – fehlten bisher. Für die ökonomische Betrachtung des Themas wertete Gershman deshalb Daten aus sechs Umfragen aus, die das Pew Research Center (PRC) zwischen den Jahren 2008 und 2017 unter insgesamt 140.000 Menschen in 95 Ländern durchgeführt hat. Die Ergebnisse seiner Analyse sind in der Zeitschrift PLOS ONE erschienen und liefern interessante Einblicke in die Verbreitung des Hexenglaubens in der modernen Welt und seinen Einfluss auf das Soziale Kapital.
Diese Grafik aus der Studie zeigt, wie stark der Glaube an Hexerei in den untersuchten Ländern ausgeprägt ist.
Die Fragen, die den Teilnehmern der Erhebungen gestellt wurden, variierten. Eine war jedoch immer Teil der Umfrage: „Glauben Sie an den bösen Blick oder daran, dass bestimmte Menschen dazu fähig sind, Flüche oder Zaubersprüche auszusprechen, die anderen Schaden zufügen?“ Die Frage entspricht der Definition des Glaubens an Hexerei, die der Analyse zugrunde liegt.
Der gesammelte Datensatz ist für etwa die Hälfte der erwachsenen Weltbevölkerung repräsentativ. Er zeigt: Weltweit glauben mehr als 40 Prozent der Menschen an Hexerei. Betrachtet man jedoch einzelne Länder, schwankt dieser Wert enorm. Während in Tunesien fast 90 Prozent der Befragten angaben, an Hexerei zu glauben, waren es in Schweden und Dänemark nur neun Prozent. Auch Deutschland erreicht mit 13 Prozent im weltweiten Vergleich einen eher niedrigen Wert.
Gift für Wirtschaft und soziales Kapital
Obwohl Hexenglaube weltweit und in allen sozialen Schichten vorkommt, ist es um bis zu sieben Prozent wahrscheinlicher, dass er bei Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und geringen wirtschaftlichen Mitteln auftritt. Auch die Religion spielt eine Rolle: Menschen, die an einen Gott glauben, neigen unabhängig von ihrer Konfession eher dazu, an Hexerei zu glauben.
Gershmans Analyse zufolge ist der Glaube an Hexerei in Ländern mit schwachen Institutionen, Korruption und schlechter Regierungsführung, in denen das Vertrauen in Polizei und Justizsystem fehlt, besonders stark verbreitet. Gleichzeitig ist die Lebenszufriedenheit der Bevölkerung in diesen Ländern auffällig gering: Die Menschen haben oft das Gefühl, keine Kontrolle über ihr Leben zu haben und handlungsunfähig zu sein – der perfekte Nährboden für den Glauben an übernatürliche Mächte.
Die Hexenprozesse von Salem waren der Schauplatz unzähliger Verhaftungen, Anklagen und Hinrichtungen von Menschen, die der Hexerei bezichtigt wurden – darunter hauptsächlich Frauen. Die Lithografie „Hexe Nr. 3" von Joseph E. Baker stellt eine solche Verhandlung fiktionalisiert dar und zeigt die Angeklagte als Aggressorin – eine Situation, die in der Realität wohl eher weniger vorkam.
Eine Bevölkerung, die an Hexerei glaubt, hat vor zwei verschiedenen Szenarien Angst: Zum einen davor, durch bestimmte Verhaltensweisen eine Hexe zu provozieren und von ihr angegriffen zu werden, zum anderen davor, selbst als Hexe angeklagt zu werden. Darum verhalten sich die Menschen in solchen Gemeinschaften besonders konformistisch und bemühen sich, nicht von der gesellschaftlichen Norm abzuweichen. Diese Einstellung erstickt jede Kreativität im Keim, die für Innovationen, unternehmerische Kultur und den damit verbundenen wirtschaftlichen Fortschritt und Erfolg unverzichtbar ist. Weil das Vertrauen in die Mitmenschen fehlt, werden zudem weniger Geschäftsbeziehungen eingegangen und unternehmerische Risiken vermieden.
Auf zwischenmenschlicher Ebene richtet der Hexenglaube den größten Schaden an: Das allgemeine Misstrauen, das er schürt, führt zu einem Klima der sozialen Kälte. Im täglichen Umgang gibt es weniger freundliche soziale Interaktionen, die Bedeutung von Freunden und Freizeit nimmt ab, ebenso die Hilfsbereitschaft. In Ländern, in denen viele Menschen an Hexerei glauben, wird zum Beispiel pro Kopf weniger Blut gespendet und Fremde in Not werden seltener unterstützt.
Institutionen stärken, Ängste bekämpfen
Der Schaden, den der Glaube an Hexerei anrichtet, ist also bedeutend – doch wie kann man ihn eindämmen? Verbote von Hexenverfolgung und -prozessen scheiterten in den betroffenen Ländern daran, dass sie an der falschen Stelle ansetzten: Der Glaube blieb, es durfte nur nicht mehr nach ihm gehandelt werden. Das führt dazu, dass die Menschen sich entweder über entsprechende Gesetze hinwegsetzen oder sich von der Regierung alleingelassen fühlen, was noch mehr Ängste schürt.
Gershman zufolge muss man dem Hexenglauben die Grundlage entziehen, um ihn zu bekämpfen. Zum Beispiel, indem für funktionierende Institutionen gesorgt wird und dafür, dass die Bevölkerung sich vor negativen Schocks geschützt fühlt. Diese und ähnliche Erkenntnisse aus der Analyse, könnten dabei helfen, Richtlinien und Entwicklungsprojekte in Hinblick auf lokalen Hexenglauben zu optimieren und das Soziale Kapital und den damit verbundenen wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern.
Quelle: https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2022/11/wie-der-moderne-hexenglaube-unseren-wohlstand-gefaehrdet
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Die 24 Flugzeugtypen des Dämons
Die beiden Redner interessierten sich nicht für die Herausforderungen der Gegenwart, sondern schwelgten lieber im Lob für ihre Hindu-Vorfahren. Die alten Helden hätten bereits vor Tausenden Jahren die Techniken moderner Wissenschaft beherrscht, behaupteten sie. Und das war keineswegs als Witz gemeint. Der Chemiker Gollapalli Nageswara Rao sprach über den mythischen Dämon Ravana, der selbstverständlich über 24 verschiedene Flugzeugtypen verfügt habe. Und dass der legendäre König von Hastinapur hundert Kinder hervorbrachte, verdanke er der Stammzellenforschung, die damals bereits bekannt gewesen sei.
Angesichts solch kluger Ahnen mussten gefeierte Grössen der Neuzeit, Forscher wie Isaac Newton oder Albert Einstein, schon zu intellektuellen Zwergen schrumpfen. Die beiden hätten die Welt ohnehin verkannt, wie ein Dozent aus Tamil Nadu erklärte, weshalb er vorschlug, man solle Gravitationswellen besser in «Narendra-Modi-Wellen» umtaufen.
Die Vorträge provozierten Spott und Entsetzen, Studenten und Professoren sammelten sich zum Protest. Besonders entsetzlich fanden viele, dass die Behauptungen ausgerechnet bei jenem Forum fielen, das Kinder an die seriöse Wissenschaft heranführen soll. «Die Irrationalität sprengt alle Grenzen», klagt die Astrophysikerin Prajval Shastri.
Ein «bedenklicher Lapsus»
Nun könnte man die Auftritte als peinliche Posse abtun, passten sie nicht zur Strategie regierender Hindu-Nationalisten, Mythen systematisch als geschichtliche Wahrheiten zu verbreiten. «Diese Kräfte fördern die Pseudo-Wissenschaften», sagt Elektroingenieur Soumitro Banerjee, der mit Kollegen einen Protestbrief verfasst hat. Sie klagen, dass die bizarren Auftritte den Ruf der indischen Wissenschaften global beschädigten. «Alles, was in Legenden steht, ist nach der Lesart der Leute wahr.» Dass ein renommierter Kongress solchen Stimmen eine Bühne biete, sei ein «bedenklicher Lapsus», sagt der Forscher im Gespräch.
Bedrohlich wirken diese Stimmen auch deshalb, weil sie helfen, die Ideologie rechtsnationaler Hardliner zu stützen. Religiöse Ideologen torpedieren die indische Geschichtswissenschaft, weil seriöse Historiker Mythen kritisch analysieren, anstatt sie als unumstössliche historische Gewissheiten zu verklären. «Das ist etwa so, wie wenn man in Europa alles für wahr hielte, was in ‹Ilias› und ‹Odyssee› erzählt wird», sagt Banerjee.
Doch nicht einmal Indiens Premier scheint Mythologie und Geschichte trennen zu wollen. 2014 verblüffte er seine Zuhörer, als er im elefantenköpfigen Gott Ganesha den Beweis dafür erblickte, dass die alten Inder schon plastische Chirurgie beherrschten. Und natürlich macht man über Götter keine Witze.
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/wissenschaft-flugzeuge-des-daemons-1.4283304
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Kleines Nachwort von seniora.org
Wir würden der indischen Wissenschaft Unrecht tun, wenn wir das dortige Ringen um (natur-)-wissenschaftliches Denken als Lachnummer abtun. Auch wir im Westen hatten und haben es immer noch schwer, die “Spreu vom Weizen zu trennen” und objektive – also von der Meinung eines Einzelnen unabhängigen - Erkenntnisse als solche anzuerkennen. So wurde Darwins Erkenntnis seinerzeit nicht freudig akzeptiert, ganz im Genteil: (Zitat aus “Wie der Mensch zum Menschen wurde” S. 31)
(…) sechs Monate nach der Veröffentlichung [Darwins Werk Über den Ursprung des Menschen] brach der entscheidende Kampf zwischen Evolutionisten und den Anhängern der Lehre von der göttlichen Erschaffung der Welt auf. Das geschah anlässlich der alljährlichen Zusammenkunft der “British Association for the Advancement of Science” in Oxford. Darwin selbst war nicht anwesend. Die Protagonisten der berühmten Debatte von 1860 waren der Bischof Samuel Wilberforce (Sprachrohr von Richard Owen) und Thomas Huxley. Das Wortgefecht zwischen diesen beiden Männern entzündete sich im Anschluss an die Vorlesung einer Schrift eines gwissen Dr. Draper, eines Amerikaners, der sich mit der “Intellektuellen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Ansichten des Herrn Darwin” befasst hatte. Die Atmosphäre im Vorlesungssaal, in den sich etwa siebenhundert Studenten gedrängt hatten, war gespannt. Das Auditorium muss gespürt haben, dass dies die Zeitenwende zwischen der Schöpfungstheorie und der Evolutionstheorie einläutete.
Wilberforce, ein hervorragender Redner, erhob sich und began einen eloquenten Angriff auf Darwins Thesen. Owen hatte ihn gründlich angestachelt. Am Ende richtete sich jedoch sein Eifer, einen guten Eindruck zu machen, gegen ihn selbst. Er wandte sich Huxley zu und fragte ihn mit unverhohlenem Sarkasmus: “Und Sie, Sir, stammen Sie grossväterlicherseits oder grossmütterlicherseits vom Affen ab?” Huxley murmelte vor sich hin: “Der Herr in seiner Güte hat ihn mir ausgeliefert”. Er erhob sich, legte in geschliffenen Worten die wissenschaftliche Argumentation dar und reagierte erst dann auf Wilberforces ätzenden Spott: “Niemand braucht sich zu schämen”, so sagte er, “einen Affen zum Urahn zu haben. Wenn ich mir einen Vorfahr aussuchen sollte und dabei wählen müsste zwischen einem Affen und einem gelehrten Mann, der seine Logik dazu missbraucht, ungeschulte Zuhörer in die Irre zu führen, und der eine schwerwiegende und philosophisch ernstzunehmende Fragestellung nicht mit sachlichen Argumenten angeht, sondern sie wissentlich der Lächerlichkeit preisgibt – wenn ich da wählen müsste, würde ich mich ohne zu zögern für den Affen entscheiden.” Schallendes Gelächter belohnte diese Retourkutsche, und der gedemütigte Wilberforce musste sich gechlagen geben. Die Evolutionstheorie hatte gewonnen – zumindest für den Augenblick.”
Dass heute, fast 160 Jahre später, diese Erkenntnis noch nicht Allgemeingut geworden ist, halten wir für ein Phänomen, wichtig genug, mit einer eigenen Forschung untersucht zu werden mit der Fragestellung: Was hindert den Homo sapiens daran, in wissenschaftlichen Fragestellungen konsequent wissenschaftlich zu denken, d.h. Hypothesen zu bilden, diese zu verifizieren und zu falsifizieren, so lange, bis sie entweder stimmen oder eben nicht?
Somit sollten wir, wenn wir die wissenschaftlichen Querelen in Indien betrachten, mit einer gewissen Nachsicht und Bescheidenheit an diese herantreten und nicht meinen, wir seien im Westen so viel weiter.
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