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Philosoph Christoph Türcke: "Man braucht die Schulen eigentlich nicht mehr"

Interview Lisa Nimmervoll
Christoph Türcke, geb. 1948, studierte Evangelische Theologie und wurde 1972 in Zürich zum Pfarrer ordiniert, danach Studium der Philosophie an der Uni Frankfurt, 1977 Promotion, von 1995 bis 2014 war er Professor an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig.
27. Dezember 2017
Christoph Türcke* über die Ökonomisierung des Bildungsbetriebs, Lehrer, die zu Lernbegleitern mutieren, neue autoritäre Strukturen in der Schule und alte Effizienzfantasien, die in ihr Gegenteil kippen

STANDARD: Sie haben in einem Buch die "Lehrerdämmerung" ausgerufen. Wer oder was bedroht denn die Spezies Lehrer?

Türcke: Ein neoliberales Bildungssystem, das unter dem Stichwort "Neue Lernkultur" geführt wird, wo die Lehrer ihre ursprüngliche Rolle, nämlich das Zeigen von Sachverhalten, nicht mehr ausüben, sondern nur noch als Lernbegleiter fungieren sollen. Die Schüler lernen an vorgegebenen Lernmaterialien, die die Lernbegleiter bereitzustellen haben, möglichst für jeden individuell einen eigenen Arbeitsblattstapel. Das soll ganz wunderbar sein, weil dann jeder nach eigenem Wunsch, in eigener Reihenfolge, in eigenem Tempo voranschreiten kann und die Autonomie und Selbstständigkeit des Lernens die schönsten Blüten treibt. Keine autoritären Säcke mehr, die einer ganzen Klasse Inhalte vorgeben, wo doch jedes Individuum anders tickt und anders gestrickt ist. Statt Lehrern nur noch Ratgeber, die bei Bedarf zur Stelle sind, Tipps geben und spontanes Coaching durchführen.

STANDARD: Da klingt viel Ironie durch. Was stört Sie daran?

Türcke: Es geschieht mit Begriffen, die zuckersüß und verführerisch klingen: Endlich wird der Schüler ernst genommen. Der Lerner oder die Lernerin, wie dieses neue Kunstwort heißt, sei doch das Zentrum aller Bildung. Es werden Selbstentfaltung und Abschaffung von autoritären Strukturen versprochen. Dabei läuft das Ganze auf eine gesteuerte Form von Verwahrlosung hinaus. Und die autoritären Strukturen hören überhaupt nicht auf, sie gehen nur über auf die Lehrmaterialien. 

STANDARD: Bitte erklären Sie das. 

Türcke: Es passiert Folgendes: Der Lehrer als Frontalunterrichter wird endlich abgeschafft, und jedes Kind bekommt seinen individuellen Frontalunterricht durch Arbeitsblätter. Darauf steht dann eine knapp umschriebene Aufgabenstellung in der Sprache des Imperativs. Fülle dies aus! Rechne jenes zusammen! Mache dieses und jenes! Der Imperativ, nun anonym in Gestalt des Arbeitsblatts und des scheinbaren Sachzwangs, deutet darauf hin, dass die autoritäre Struktur in gewisser Weise sogar potenziert wird. Nur nicht mehr durch die Lehrperson ausgeübt, sondern gleichsam als neutrale Notwendigkeit. Die Lernbegleiter sind dann die Softies, die dazu dienen, dieser Methode die notwendige Akzeptanz zu verschaffen, bei der ganz offensichtlich ist, dass dabei mit ungeheuren Ersparnispotenzialen kalkuliert wird, wenn man faktischen Unterricht an Arbeitsblätter delegiert. So können weniger Lehrer mehr Schüler zwar nicht unterrichten, aber beaufsichtigen. 

STANDARD: Steht die von Ihnen kritisierte Degradierung der Lehrerinnen und Lehrer zu Lernbegleitern auch im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Digitalisierung? 

Türcke: Selbstverständlich. Die Arbeitsblätter und vor allem die Lückentexte   – es werden ja gar keine ganzen Texte mehr geschrieben, sondern nur noch Lücken ausgefüllt   – sind eine Vorform der digitalen Masken. Es wird eine Art Lückenfüllermentalität eingeübt. Wenn demnächst aller Unterricht digital läuft, wird man die Papierform nicht mehr brauchen. Aber das Ganze hat noch einen Haken: Nehmen wir an, die Politiker würden die Schulen wirklich so großzügig digitalisieren, wie sie sagen, dann stellt sich die Frage: Warum sollen Schüler einen aufwendigen Schulweg auf sich nehmen, um in einem Klassenraum, wo jeder seines macht, irgendwelche Aufgaben zu lösen, die man genauso gut zu Hause lösen kann? Die Notwendigkeit des gemeinsamen Klassenraums wird durch die Digitalisierung der Schulen untergraben. Man braucht die Schulen streng genommen eigentlich nicht mehr. 

STANDARD: Heute sind digitale Geräte aber alltägliche Begleiter der Kinder. Ist es da nicht naheliegend und notwendig, sie auch im Unterricht kritisch reflektierend einzusetzen? Die Digitalisierung der Gesellschaft ist ja ein Faktum. 

Türcke: Ja, aber was heißt kritisch reflektierend? Würde man Fünfjährigen, um sie rechtzeitig auf einen kritisch-reflektierten Umgang mit Alkohol einzustellen, erst mal zur kritischen Reflexion und zum eigenständigen Umgang Schnaps verabreichen? Nein. Zum kritischen und reflektierenden Umgang gehört zunächst einmal auch, gerade in frühen Jahren, eine gewisse Abstinenz beziehungsweise die äußerste Form der Dosierung. Kleine Kinder können überhaupt nicht überblicken, was diese neue Technologie mit ihrer seelischen Stabilität zu tun hat. Natürlich tut das den Kleinen nicht weh, wenn sie als Zwei-, Dreijährige vor so ein Gerät gesetzt werden, rumdaddeln können und sich sprunghaft zwischen irgendwelchen Bildern und Masken hin und her bewegen, ohne dass das noch an Sprache geknüpft wird. Das ist aber entscheidend: Wir erleben dabei Sprachverluste, weil die Bilder so schnell dahinflutschen, dass die Zeit, sie an Sprache zurückzubinden, gar nicht mehr vorhanden ist. Das hat Langzeitwirkungen, die sich allmählich zeigen. 

STANDARD: Kritiker könnten dem entgegnen, das klinge etwas sehr restaurativ, was Sie sagen. War denn an der alten Schule wirklich alles gut? 

Türcke: Natürlich war nicht alles gut, und ich will nicht zum alten Schulsystem und dem, was in den 1960ern mit Recht Frontalunterricht genannt wurde, zurück. Wo wir noch eine ganze Menge alter Nazis als Lehrer hatten und es nur den Lehrervortrag gab und die Schüler antworteten. Dagegen wurde zu Recht rebelliert und gesagt: Nein, da muss eine Vielzahl von Unterrichtsmethoden her, dieses bloß von vorne Dozieren kann nicht sein. Inzwischen hat sich das umgekehrt. 

STANDARD: Inwiefern? 

Türcke: Wenn überhaupt jemand vor einer Gruppe steht und dieser einen Sachverhalt eröffnet, dann heißt es: Das ist Frontalunterricht, da wird Gleichschritt gefordert. Die Begriffe Frontalunterricht und Gleichschritt sind inzwischen zu regelrecht demagogischen Begriffen geworden. Es wird suggeriert: Wann immer sich eine Gruppe gemeinsam in einen Sachverhalt vertieft, ist das Gleichschritt, und das ist gleich Militär, das wollen wir nicht mehr. Endlich demilitarisieren wir die Schule.

STANDARD: Dafür soll sie nun ja für die digitale Zukunft gerüstet werden. Österreichs alte Regierung wollte jedes Kind in der fünften und neunten Schulstufe mit einem eigenen Tablet oder Laptop ausstatten. 

Türcke: Mit dem permanenten Argument "Fit für morgen machen". Dahinter stehen natürlich auch massive ökonomische Interessen der IT-Firmen, die in der Bildungspolitik als Berater mitmischen. Der Hauptgedanke ist, dass man nichts mehr lernen muss, man kann ja alles nachschlagen. Auch so ein Trugschluss, dass man, wenn man nichts mehr weiß, alles finden könnte. Denn man findet nur etwas, wenn man schon eine ganze Menge weiß. Mit diesen Rattenfängertönen wird versucht, dem globalen Konkurrenz- und Flexibilisierungsdruck, der tatsächlich überall besteht, gerecht zu werden. Man glaubt, maximal effizient zu sein. Das Paradoxe ist: Wir haben die vollkommene Ökonomisierung des Bildungsbetriebs, alles wird auf Effizienz ein- und ausgerichtet, und zugleich erfolgt es mit Methoden, die dazu führen, dass elementare Fähigkeiten wie Rechtschreibung und Rechnen erodieren.

STANDARD: Welche Mechanismen sind hier am Werk? 

Türcke: Relativ alte. Um 1900 ging der Ingenieur Frederick Taylor daran, die ganze Fabrikarbeit mit Stoppuhr und Bewegungsanalyse durchzuplanen. Manuelle Arbeit wurde auf kleinste Handgriffe reduziert und sollte dadurch maximal effizient werden. Doch die Menschen haben den Taylorismus nicht ausgehalten. Die Obsession des Effizienzmaximums schlug um in Ineffizienz. Ähnliches erleben wir jetzt in der Schule mit dem Ersetzen der Lehrer durch Programme und Maschinen. 

STANDARD: Sie stoßen sich auch am "Kompetenzwahn" der Bildungspolitik. Warum? 

Türcke: Weil ein behavioristisch verkürzter Kompetenzbegriff um sich greift. Gegen Kompetenz, also sachkundig für etwas zuständig sein, kann ja niemand etwas haben. Aber wenn ganz eng gefasste, isolierte Verhaltensweisen Kompetenzen sein sollen   – man spricht ja schon von Säuglingskompetenzen, wenn das Kind mit den Augen ein Objekt verfolgen kann -, dann werden eigentlich Maschinenvorstellungen umgesetzt. Wirklich genau umschreibbare Kompetenzen haben nur Maschinen   – in Gestalt ihrer Programme. Maschinen sind, solange sie funktionieren, reine Könner. Sie haben Kompetenz pur, es ist aber nichts dahinter. 

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Quelle: Lesen Sie den vollständigen Bildungs-Newsletter hier:
http://lehrplan-vors-volk.ch/data/documents/Newsletter-171224.pdf