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Mit dem Radio der Dunkelheit des Analphabetismus entfliehen

Eduardo Domínguez Tegucigalpa  – Tages-Anzeiger
20. Juni 2015
In Honduras haben viele Menschen nicht die Möglichkeit, in die Schule zu gehen. Ein ungewöhnliches Bildungsprojekt bietet Hilfe.

Es ist 17 Uhr. Kathia Varela stellt in Tegucigalpa, der Hauptstadt von Honduras, ihr altes Radio auf den katholischen Sender La Voz de Suyapa ein, der ab dieser Stunde ihre Schulstunde bringt. Auf einem Tischchen neben ihr liegt ein Spanisch-Lehrbuch. Im Radio sind die Stimmen eines Mannes und einer Frau zu hören, welche die Sendung anmoderieren: El Instituto Hondureño de Educación por Radio (Iher, das Honduranische Institut für Unterricht durch das Radio ) präsentiert die Sendung «El Maestro en Casa» (der Lehrer zu Hause). Für die 18-Jährige beginnt nun der Unterricht.

In diesem Jahr sind es etwa 50 000 Honduraner, die sich, wie Kathia, für ihr berufliches Weiterkommen viel von dieser Unterrichtsmethode versprechen. Im konventionellen Bildungssystem haben all diese Menschen kaum die Chance, eine Schule zu besuchen. «El Maestro en Casa» ist ein Unterrichtsprogramm, in dem mit Lehrbüchern, Radiosendungen und direkten Tutorien gearbeitet wird. Seit 1989 wird es vom Iher durchgeführt.

Zuvor wurde schon in Costa Rica und Guatemala nach der Methode unterrichtet, aber laut Schwester Marta Soto, Gründerin und Direktorin des Programms, werden in Honduras die besten Resultate erzielt. Dank des Programms sind laut Iher inzwischen mehr als eine halbe Million Bürger aus dem Dunkel des Analphabetismus herausgetreten. «Wenn man den Leuten die Chance bietet, dass sie Bildung erwerben können, dann verändert sich etwas in ihnen, und das Licht der Hoffnung erstrahlt, weil nur eine alphabetisierte Nation eine freie Nation ist», sagt Schwester Marta.

«Willkommen, ganz besonders die Schüler der 8. Klasse»,

sagt die Radiostimme. Kathia hört aufmerksam zu. Sie besucht die 8. Klasse und wohnt in einem bescheidenen Haus aus Ziegeln und Blech, ihr Dorf ist etwa 25 Minuten von Tegucigalpa entfernt. Stift und Papier liegen bereit. Sie folgt dem Unterricht, während sie ihre Töchter Ana (3) und Ericka (1) im Auge behält, die lachend ihre Wangen zeigen, an denen Spaghetti kleben. Dank ihrem Fleiss kann die Mutter solche Lebensmittel einkaufen. «Es ist harte Arbeit, denn ich arbeite als Hausmädchen und muss das Haus von Montag bis Freitag sauber halten und für Ordnung sorgen», sagt sie. Dies ist nicht unüblich für eine Iher-Schülerin, denn die Teilnehmer, überwiegend Frauen im Alter zwischen 14 und 60 Jahren, kommen aus der Unterschicht.

Radio , Lehrbuch, Tutoren

«Wir freuen uns, euch den Wissensstoff zu vermitteln, den ihr mithilfe des Lehrbuchs, das ihr bei eurer Anmeldung bekommen habt, weiter vertiefen werdet»,

sagt die zweite Stimme.

Das Lehrbuch ist die wichtigste Säule des Lehrgangs. Iher hat eine Firma gegründet, die das Buch herstellt und an die Schüler verkauft. Der Unterricht ist in wöchentliche Module eingeteilt. Im Laufe des Jahres werden nicht alle Fächer parallel unterrichtet, sondern der Reihe nach, jeweils für zwei Monate.

«Vermutlich habt ihr schon alles bereitgelegt, was ihr braucht, sodass ihr während des Unterrichts nicht aufstehen und lange herumsuchen müsst»,

sagt der Moderator, der Beginn der Sendung liegt nun 1 Minute 20 Sekunden zurück. Die zweite Säule ist der Radiounterricht, eine Stunde pro Tag, ausgestrahlt von mehreren nationalen Sendern, jede Klasse und jedes Fach zu einem bestimmten Zeitpunkt.

1 Minute 30: «Hier sind Iris Gamero und José Flores, wir begleiten euch heute durch die Sendung.»

Iris und José gehören zu den 46 Mitarbeitern von Iher, während die Tutorien in den achtzehn Provinzen des Landes von mehr als zweitausend Freiwilligen gehalten werden. Diese Tutorien sind die dritte Säule. Sie finden einmal pro Woche statt, wobei samstags und sonntags besonders viele Schüler kommen, da die Anwesenheit für Teilnehmer, die auf dem Land wohnen, oft nur an diesen Tagen möglich ist. Das gilt auch für Kathia und für 75 Prozent der Iher-Schüler. Jedes Jahr werden 7000 Abschlusszeugnisse vergeben. Die Saat dieses Projekts ist auf fruchtbaren Boden gefallen: Von 1989 bis heute ist die Zahl der Teilnehmer von 300 auf über 50 000 gestiegen. Das, sagt Schwester Marta, sei ihr Beitrag zum Kampf gegen Analphabetismus.

«Es ist eine wunderbare Gelegenheit, und selbst wenn es anstrengend ist, neben der Arbeit einmal in der Woche zur Schule zu gehen, ist das gut»,

sagt Schülerin Kathia. Sie ist entschlossen, ihren Abschluss zu machen.

«Wir hoffen, dass ihr auch beim nächsten Mal wieder dabei seid»,

sagt der Moderator nach 59 Minuten 30 Sekunden. Der Unterricht ist beendet, die Sendung zu Ende.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling

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Übersetzung: Matthias Fienbork