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Michael Winterhoff: SOS Kinderseele

16. Februar 2014

Michael Winterhoff: SOS Kinderseele

Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet und was wir dagegen tun können

von Dr. phil. Eliane Gautschi

Der siebzehnjährige Dennis zieht am Wochenende mit seinem elfjährigen Bruder Nick los. Ihr Ziel ist der Baumarkt in der Nähe. Sie haben ein Brecheisen dabei, um sich Zutritt zum Baumarkt zu verschaffen. Dennis will eine Motorsäge stehlen, weil sich dieses Gerät optimal für die Bastelarbeiten an seinem Kart eignet. Die Polizei erwischt die beiden. Schliesslich landet Dennis, ein guter Gymnasiast aus einer intakten Familie und einem gepflegten sozialen Umfeld, in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis des Buchautors Michael Winterhoff.

Was Winterhoff in den Gesprächen mit Dennis erlebt, beschreibt er als symptomatisch für viele Kinder und Jugendliche in der heutigen Zeit: Dennis zeigt keinerlei Reue, keine Problem­einsicht und hat auch keine Angst vor den Folgen seiner Tat. Auch ist ihm kein Problem, dass er seinen jüngeren Bruder mit in die Tat hineingezogen hat.

Mit diesem Beispiel aus seiner kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis steigt Michael Winterhoff ins Thema seines Buches «SOS Kinderseele. Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet und was wir dagegen tun können» ein. Entstanden ist es aus der Sorge des Autors um die Kinder und Jugendlichen der heutigen Zeit. In seiner Praxis beobachtet er seit längerem, dass immer mehr Kinder und Jugendliche zu ihm kommen, die den Anforderungen der Schule, des Alltagslebens und später des Berufslebens nicht mehr gewachsen sind.

«Hier, an der Schnittstelle zwischen Schulkarriere und Arbeitsleben, wird die Misere am deutlichsten. Firmen klagen in zunehmendem Masse über nicht ausbildungsfähige Jugendliche, ganze Branchen suchen händeringend qualifizierten Nachwuchs. Es fehlen nicht nur Grundkenntnisse in Deutsch oder Mathematik, sondern vor allem auch sogenannte ‹soft skills› wie Arbeitshaltung, Umgangsformen, Sinn für Pünktlichkeit, Erkennen von Strukturen oder auch Frustrationstoleranz.»

(S. 12)

Die Frage nach dem Warum beantwortet er aus tiefenpsychologischer Sicht mit teils psychoanalytischen Begrifflichkeiten und vor dem Hintergrund einer von ihm entwickelten Entwicklungspyramide der sozialen und emotionalen Psyche. «Hinter den Auffälligkeiten der meisten Kinder, die heute zu mir kommen, steht als Ursache eine nicht ihrem Alter entsprechende Entwicklung dieser Psyche», sagt er und legt an vielen Beobachtungen und Fallbeispielen dar, dass zahlreiche Kinder und Jugendliche heute emotional und sozial auf dem Stand eines sechzehn Monate alten Kindes stehengeblieben und gewohnt sind, die Mitmenschen nach ihren unmittelbaren Bedürfnissen steuern zu können. Den Grund dafür sieht Winterhoff darin, dass es vielen Kindern heute an Erwachsenen fehle, die ihnen ein klares Gegenüber sind und ihnen die Möglichkeiten geben, ihre Psyche nach und nach zu entwickeln.

Die Bedeutung der Beziehung für die Entwicklung seelisch gesunder Kinder durchzieht Winterhoffs Überlegungen zu Erziehung und Schule, auf die er in der Folge eingeht, und er fordert eine Diskussion ohne Denkverbote:

«Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: ‹Sind wir Erwachsenen so weit, dass wir uns diesem Problem unvoreingenommen stellen? Oder wollen wir uns weiterhin darauf beschränken, bei jedem Hinweis auf Hintergründe für eine emotionale Verarmung junger Menschen reflexartig mit dem Verweis auf die eigene Jugend zu reagieren?› Das ist das beliebteste Argumentationsmuster, um die von mir angestossene Debatte gar nicht erst führen zu müssen.»

(S. 17)

Die unausgesprochenen Denkverbote führt Winterhoff auf eine Art Lobby zurück, die sich vor allem im Bereich der Bildungspolitik und der Erziehungswissenschaften gebildet habe, um bestimmte Denkweisen ungehindert in Konzepte und Handlungsanweisungen giessen zu können. Dazu gehöre zum Beispiel die Meinung, dass Konzepte, die vor zehn, zwanzig Jahren noch galten, schon deshalb überwunden werden müssten, weil sie alt und somit rückständig seien.

Oder dass man nicht sagen dürfe, Freiheit könne sich innerhalb bestimmter Grenzen am besten entwickeln: Wer das tue, gelte als Feind der Freiheit. Und schliesslich dürfe man im Verhältnis von Erwachsenem und Kind nicht von natürlicher Hierarchie sprechen: Das klinge nach Machtspielchen, und wer es trotzdem tue, sei Anhänger autoritärer Erziehungskonzepte. Man dürfe auch nicht sagen, dass Kinder sich nicht von allein entwickeln würden: Wer die Bedeutung von erwachsenen Bezugspersonen betone, enge die Freiheit ein und unterstütze autoritäre Erziehungskonzepte. Mit diesen Denkverboten würde die Diskussion abgewürgt.

«Die kindliche Psyche entwickelt sich am erwachsenen Gegenüber. Diesen Satz sollte sich jeder, der mit Kindern umgeht, immer und immer wieder in Erinnerung rufen. Wenn wir die Erkenntnis ernst nehmen, dass Erwachsene als Bezugspersonen für Kinder und als Orientierungspersonen für deren psychische Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind, dann muss uns auch klar sein, dasss jede unserer Handlungen gegenüber Kindern eine Bedeutung für ihre Zukunft hat.»

(S. 60)

Winterhoff durchbricht diese Tabus und durchleuchtet aktuelle Reformprojekte in Kindergarten und Schule. Dazu gehören in erster Linie die heute breit propagierten offenen Unterrichtsformen:

«Diese Konzepte widersprechen entwicklungspsychologischen Grundsätzen, überfordern die Kinder und versäumen es, ihre Entwicklung im Bereich der emotionalen und sozialen Psyche zu unterstützen.»

(S. 113)

Hinter diesen Konzepten stecke der Gedanke des freien Lernens: Das Kind solle Selbständigkeit üben. Doch werde übersehen, dass die Kinder keine Selbständigkeit lernen, sondern mehr oder weniger sich selbst überlassen würden. Das sei ein gewichtiger Unterschied, denn Letzteres bedeute eine Vernachlässigung der Schüler.

Da helfe es auch nichts, dass diese Vernachlässigung eigentlich gut gemeint sei. Verschleiert hingegen werde, dass der Lehrer in diesen Unterrichtsmodellen unwichtiger werde und nur noch als Moderator und Begleiter fungieren soll, den die Schüler im Zweifelsfall aktiv ansprechen müssen, und diese Beziehung durch die Beziehung zwischen Schüler und Schüler ersetzt würde. Wie auch schon andere Untersuchungen gezeigt haben, bestätigt Winterhoff, dass es zwar Ausnahmeschüler gebe, die mit jedem Konzept klarkämen und sich trotz widriger Umstände prächtig entwickelten.

«Aber das sind und bleiben eben genau das: Ausnahmen.»

(S. 71)

An einer zunehmenden Zahl von Kindern würde man aber das Gegenteil beobachten, sie kämen mit der Schulsituation nicht mehr zurecht: «Immer mehr Kinder beschäftigen immer mehr Ergotherapeuten, Logopäden oder Psychotherapeuten, denn sie haben erhebliche Schwierigkeiten im Bereich Lernen und   – nicht zuletzt   – im Bereich der sozialen Kompetenz.» (S. 10) Und er fragt zu Recht:

«Sind entwicklungspsychologische Erkenntnisse pulverisiert worden und gelten nicht länger?»

(S. 89)

«Dafür ist es unerlässlich, dass Anleiten und Begleiten wichtige Bestandteile der Erziehung sind. Bei den derzeit favorisierten offenen Konzepten in Kindergarten und Grundschule herrscht die Vorstellung, das Kind solle sich frei entscheiden und lernen. In solchen Konzepten können Erzieher und Lehrer diese wichtige Leistung zur Entwicklung der emotionalen und sozialen Psyche jedoch nicht erbringen. Das Kind ist auf sich gestellt.»

(S. 154)

Deshalb fordert Winterhoff, sämtliche derzeit kursierenden Konzepte offener Arbeit und angebotsorientierter Pädagogik zumindest auf den Prüfstand zu stellen und die pädagogischen Experimente durch Langzeitstudien zu überprüfen. (S. 168) Dabei rechnet er mit erheblichem Widerstand:

«Allerdings sitzen in den Elfenbeintürmen der erziehungswissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland [nicht nur da, A.d.V.] erstaunlich viele Pädagogen, die anscheinend glauben, mit jedem neuen Lernmodell werde die Welt automatisch ein wenig besser.»

(S. 79)

Das bedinge, sich beim Überdenken dieser Konzepte grundsätzlich immer wieder klarzumachen, dass die emotionale und soziale Entwicklung von Kindern kein Spielball von akademischen Theorien und Modellen sein dürfe.

Winterhoff bleibt nicht bei der Beschreibung der Probleme stehen. Das «Zauberwort» sei Beziehung, die er in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Denn sie sei Voraussetzung, dass aus dem Kind als erwachsener Mensch ein selbständig denkendes und frei agierendes soziales Wesen werden könne. Die Aufgabe des Erwachsenen sei es, das Kind in angemessener und positiver Weise auf sich zu beziehen und es anzuleiten und zu begleiten. In der Schule falle diese Aufgabe selbstverständlich dem Lehrer zu. Deshalb müsste eigentlich das erwachsene Gegenüber «Lehrer», an dem sich das Kind orientiert, der es anleitet und in den Lernstoff einführt, in jedem pädagogischen Konzept gestärkt werden und im Vordergrund stehen: «Die Kinder werden dann lernwillig und wissbegierig, bleiben aber weiterhin auf Unterricht angewiesen, in dem der Lehrer sie auf sich bezieht.

«Dass psychische Entwicklung von sozialer Kompetenz […] nicht am gleichaltrigen Gegenüber funktioniert, ist eine entwicklungspsychologische Binsenwahrheit. Das erwachsene Gegenüber ‹Lehrer›, an dem sich das Kind orientiert, müsste eigentlich in jedem pädagogischen Konzept gestärkt werden und im Vordergrund stehen. Stattdessen werden […] zunehmend Konzepte entwickelt, die den Lehrer an den Rand drängen und ihn als Bezugsperson für die Schüler längerfristig überflüssig machen.»

(S. 129f.)

«Es muss also zuerst ein Fundament geschaffen werden, damit beispielsweise das Erlernen der Kulturtechniken möglich ist. […] Das Kind fühlt sich gehalten und sicher, es macht nach Aufforderung gern etwas für den Erwachsenen, und daran wächst wiederum die Beziehung.»

(S. 155)

Die Beziehung wird also zum Gegenmittel für eine verfehlte Entwicklung und ermöglicht es den Kindern und Jugendlichen, jene seelischen Reifeschritte zu machen, die sie bis jetzt noch nicht vollzogen haben. «Kinder, die die Chance haben, eine altersgemässe psychische Entwicklung zu durchlaufen, werden auch die psychischen Fähigkeiten entwickeln, die für demokratisches Handeln und Denken notwendig sind.

«Hinter der Idee des freien Lernen steht wiederum das Konzept ‹Kind als Partner›.»

(S. 127)

«Wir verlagern die Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder auf unsere Kinder selbst. Unter dem Deckmäntelchen einer partnerschaftlichen Denkweise in der Erziehung verweigern die Erwachsenen in zunehmenden Masse die Verantwortung für die emotionale und soziale Kompetenz folgender Generationen.»

(S. 62)

«Dazu gehören Einfühlungsvermögen und Empathie, damit sie in der Lage sind, Mitmenschen und ihre Meinungen ernst zu nehmen und zu respektieren, oder auch Unrechtsbewusstsein, damit sie zwischen richtigem und falschem Handeln unterscheiden können.»

(S. 105)

Entsprechend müssten Erzieherinnen und Lehrer in ihrer Ausbildung neben dem pädagogischen Rüstzeug tiefgehende Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie vermittelt bekommen und sich ganz mit ihrer Aufgabe identifizieren.

Winterhoff beschliesst sein Buch mit einer durchaus optimistischen Perspektive und bringt unsere Aufgabe in Elternhaus und Schule auf den Punkt:

«Wenn wir nicht wollen, dass wir immer mehr Egoisten, Narzissten sowie beziehungsunfähige und lustorientierte Egoisten in unserer Gesellschaft haben, müssen wir sehr schnell aufwachen und Gegensteuer geben.»

(S. 201)

Es gehe darum, die Situation ohne ideologische Scheuklappen zu betrachten, denn:

«Die emotionale und soziale Kompetenz von Menschen ist der Kitt unserer Gesellschaft. Wenn sie verloren geht, bricht die Gesellschaft auseinander.»

(S. 208)

«Noch sind wir Erwachsenen in der Lage, durch geeignete Massnahmen das Ruder herumzureissen und die Katastrophe, die in naher Zukunft auf uns zukommt, aufzuhalten. Doch um das zu erreichen, müssen wir alle aktiv werden: Eltern, Grosseltern, Lehrer und Ausbilder.»

(S. 216)

Jeder Einzelne kann hier und heute anfangen, im Kleinen die Veränderungen herbeizuführen:

«Dieser Weg ermöglicht es Kindern, eine emotionale Entwicklung zu durchlaufen, die sie zu zufriedenen und sozial kompetenten Erwachsenen macht. Kinder sind die Zukunft, sagt man zu Recht. Deshalb sollten wir alles daransetzen, dass sie eine Zukunft haben, in der sie eine Chance auf befriedigende Arbeit und befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen haben.»

(S. 199)

Das Buch Michael Winterhoffs gehört zu den Neuerscheinungen auf dem pädagogisch-psychologischen Sektor, die sich wohltuend realistisch und gut verständlich mit den anstehenden Problemen befassen und darum gerne zur Lektüre empfohlen werden können.

Winterhoff, Michael. SOS Kinderseele. Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet und was wir dagegen tun können. München 2013.ISBN 978-3-570-10172-8

Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1721

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