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Matthias Wenke  – Medien und Bildungsprozesse. Phänomenologische und systemtheoretische Ideen.

26. Juni 2013

Matthias Wenke   – Medien und Bildungsprozesse. Phänomenologische und systemtheoretische Ideen.

Abstract. Das theoretische Erbe von Phänomenologie und Systemtheorie ist von hohem Wert für den Zugang zu Medienwirkungen und Bildungsprozessen. Es werden Ideen von Merleau-Ponty, McLuhan und Luhmann skizziert. Die erhaltenen Einsichten werden auch von Ergebnissen der Hirnforschung flankiert. Aus einer medienkritischen Perspektive wird die dringende Notwendigkeit einer substanziellen Medienpädagogik an den Schulen aufgezeigt.

A. Medien

Die meisten unserer Vorstellungen über das, was wir „die Welt“ nennen sind nicht durch die direkte Erfahrung oder das Selbstdenken entstanden, sondern durch die Assimilation von Medienerfahrungen. Seit 1980 hat sich die durchschnittliche Nutzungsdauer der elektronischen Medien in Deutschland rund verdoppelt. Für die gesamte Mediennutzung in der Freizeit werden im Schnitt etwa 29 Stunden pro Woche verbraucht, für das Bücherlesen weniger als zwei Stunden (Media Perspektiven 2006). Für die meisten Kinder sind elektronische Medien heute die allerwichtigste Sozialisationsinstanz geworden, wichtiger noch als das Elternhaus und die Schule.

Der Hirnforscher Manfred Spitzer geht davon aus, dass früher Fernsehkonsum eine deformierende Wirkung auf die Hirnentwicklug und die Ausbildung neuronaler Strukturen bei Kindern hat. Nach Spitzer liegt es auf der Hand, dass Fernsehen gewalttätig macht,

„die Datenlage aus unzähli  gen Studien ist überwältigend. Dass Fernsehen dumm, dick und gewalttätig macht, ist die plausibelste Geschichte, die man aus all den Daten lesen kann“

(Spitzer 2006).

Medien formen unseren Leib und konditionieren unseren Körper. Auch heute erfüllen sicherlich viele Programme die Funktion der Figuration der inneren Welt und des common sense, sie bieten Verkörperungen für Gut und Böse und menschliche Charaktertypen an, sie verbreiten Identifikationsmodelle und führen die allgemeine Kultur vor. Allerdings ist das, was den Kindern darüber hinaus zur Verfügung steht von einer völlig neuen Qualität. Es sind wahrhaft traumatisierende Erfahrungen, die Kinder am Bildschirm machen können.

„Anfang der neunziger Jahre zeigte das deutsche Fernsehen im Durchschnitt fünf aggressive Akte pro Stunde. Die größte Dichte an Gewalt fand sich dabei sogar im Vorabendprogramm, der Zeit, zu der die meisten Kinder fernsehen. [...]. Sie stammt überwiegend aus Spielfilmen und Serien und wird vor allem in einem ‚belohnenden‘ Kontext gezeigt, macht also Spaß oder hilft, Probleme zu lösen und Status und Macht zu erwerben“

(Groebel 1998, 105).

Auch das Mobiltelefon verbreitet Bilder und Filme.

„Videos zeigen realistische Szenen von Folter und Tod, die Computerspiele ermöglichen dem Benutzer, andere scheinbar umbringen zu können, das Internet ist neben den positiven Möglichkeiten eine Plattform für Kinderpornographie und Terrorismus geworden. Trotz dieser Phänomene bleiben die wichtigsten Ursachen für Gewalt immer noch Familie, Umgebung und soziale Umstände. Dennoch spielen die Medien eine wichtige Rolle bei der Entwicklung kultureller Orientierung von Weltbildern und Einstellungen, sowie der globalen Verbreitung von Werten. [...]. Letztlich sind sie sogar Konstituenten der sozialen Wirklichkeit“

(Groebel 1998, 99).

Weil im Sinne Merleau-Pontys (1966) jede Wahrnehmung eine Vereinigung mit dem Wahrgenommenen ist, und weil sich alle Erfahrungen dem Bewusstseinsstrom und den Strukturen des Nervensystems einschreiben (s.a. Fuchs 2008, 153ff.), muss man feststellen: Wer Gewalt darstellt, verbreitet sie und vervielfältigt ihre Wirkungen.

Die Konsequenz kann laut Spitzer nur ein entschlossenes Fernseh- und Computermoratorium für Kinder und Jugendliche sein.

„Die schädlichen Effekte sind offenkundig   – also weg mit der Kiste. Punkt. [...]. Auch der Computer tut der geistigen Entwicklung der Jüngeren nicht gut. Ich rate davon ab. [...]. Was Kinder und Jugendliche lernen müssen, lernen sie viel besser ohne Computer. [...]. Das Auto zum Beispiel braucht man auch für viele Berufe, und trotzdem lernt man Autofahren nicht in der Schule“

(Spitzer 2006)

Spitzer glaubt, dass wegen der katastrophalen Bildungsfolgen des hohen kindlichen Medienkonsums in Zukunft in Westeuropa „die T-Shirts für China genäht werden“.

„Der massiv gestiegene TV-Konsum unserer Kinder bedroht [...] unsere wirtschaftliche Zukunft“

(Spitzer 2006)

Auch die epidemieartige Zunahme der Zahl auffälliger und unruhiger Kinder könnte hier eine teilweise Erklärung finden.

„Bestätigt wird diese Annahme durch Ergebnisse der UNESCO-Studie“

(Groebel 1998, 102).

Die von vielen Verteidigern kommerziellen Fernsehens und Verharmlosern gewaltverherrlichender Medien behauptete klare Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit ist alles andere als klar, vor allem bei Jugendlichen in gewalttätiger Umgebung. „Aber auch rund vierzig Prozent der Jugendlichen aus gewaltarmer Umgebung halten die gewalttätige Medienerfahrung für ein Nachbild ihres Alltags“ (Groebel 1998, 109). Die Medien und alle ihre Angebote greifen tief in die Alltagswelt ein. Ein neuer „digitaler Bezugsrahmen“ ersetzt die traditionellen sozialen und kulturellen Bezüge

(Groebel 1998, 111).

Ein weitverbreiteter Irrtum ist die Annahme, dass Massenmedien Formen der mitmenschlichen Kommunikation sind   – das Gegenteil ist richtig. Luhmann definiert sie gerade als Kontaktunterbrecher.

„Entscheidend ist auf alle Fälle: daß keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann. Interaktion wird durch Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen, und das hat weitreichende Konsequenzen, die uns den Begriff der Massenmedien definieren“

(Luhmann 1996, 11)

So etabliert der mediale Blick durch die Kamera einen neuen Wahrnehmungsbezug zum Beobachteten. Menschen verwandeln sich vom nahen Partner in der realen Interaktion zum angeschauten Objekt im Fernsehen oder Film, vom Du zum Jemand und schließlich zum Etwas. Die Kamera ist nicht einfach eine Verlängerung unserer Augen. Sie stellt sich zwischen uns und die Anderen. Sie schafft räumliche Nähe bis zur Obszönität und zugleich unbeteiligte emotionale Distanz. Der Kamerablick kann den beobachteten Menschen als MitMenschen auslöschen.

„Fast unbemerkt wird der Zuschauer dazu gebracht, sich selbst als Beobachter von Beobachtern zu begreifen [...]“

(Luhmann 1996, 110)

Das Erlernen dieser Beobachtung zweiter Ordnung führt zum Wegfall von Mitgefühl. Ein augenfälliges Indiz für diesen Wandel der Beziehung zur Welt ist das neuerdings von Jugendlichen praktizierte Filmen von realen Gewaltakten, Verbrechen und auch sexueller Handlungen mit den Kameras von Mobiltelefonen.

Medien verdrängen die unmittelbare Form des Lebensvollzuges durch parasoziale Scheinkontakte. Dabei wird mit den mitmenschlichen Interaktionen auch die entsprechende Lebenszeit vernichtet. Das ist besonders tragisch für Kinder.

„Eltern, die DVD, Video, Spielekonsole, Computer und Fernseher ins Kinderzimmer stellen, klauen ihren Kindern Zeit [...]. Sie tragen Schuld an der Misere“

(Christian Pfeiffer in DBU 2007)

Bei sehr vielen elektronischen Spielen und Anwendungen wird immer die gleiche sensomotorische Sequenz trainiert: Sehen   – Zielen/Fokussieren   – Abdrücken/Zerstören, die als neuer erlernter Reflexbogen in Fleisch und Blut übergeht, quasi als Konditionierung eines Schießreflexes,

„und zwar mit Spielen, die zum Teil von der amerikanischen Armee erdacht und produziert wurden [...]. Wir bringen also mit komplexer Software und Hardware der nächsten Generation das Töten bei“

(Spitzer 2006b)

Und der absurden Annahme entgegen, dass solche Medien die Konzentration fördern, konditionieren sie stattdessen aggressive Faszination. Man verlernt gerade die Selbstabschirmng gegen Ablenkung und wird zum ferngesteuerten Äffchen, dass auf jeden Reiz mit Angriff bzw. Knopfdrücken reagiert,

„das heißt, sie können sich eine Aufmerksamkeitsstörung antrainieren, sofern sie noch keine haben. Und wenn sie schon eine haben, wird sie schlechter“

(Spitzer 2006b)

Hinzu kommt, dass Medienkonsum immer Kontaktunterbrechung bedeutet:

„Das elektronische Spiel ist tendeziell autistisch. [...].Indem die Spielekonsolen kleiner wurden, wuchs die Möglichkeit, die autistische Blase von Spieler & Konsole transportabel werden zu lassen“

(Vulner 2000, 257).

Eine andere wichtige mögliche Folge des expansiven Mediensystems ist die schleichende Veränderung einer Kultur gewissensgesteuerter Individuen in eine stammesähnliche Gemeinschaft der „Schande“ bzw. äußerer Anerkennung. Dominiert die außengeleitete Persönlichkeit in einer Gesellschaft, kann man sagen, dass der Zivilisationsprozess wachsender Selbstkontrolle der Individuen praktisch rückgängig gemacht wurde. Aus autonomen Individuen werden konsumorientierte und abhängige Opportunisten

(vgl. Riesmann 1950; Elias 1976).

Der Preis dafür ist die ständige Umorientierung durch immer neue Moden und „Trends“, der Verlust eines inneren Zentrums und damit permanente Unruhe. In diesem Zusammenhang sollte man auch die vom Privatfernsehen wie Kampfarenen inszenierten sogenannten „Talkshows“ sehen, in denen meist junge Menschen mit ihren intimsten Problemen dem Urteil, Applaus und Gebrüll einer ebenso jungen Zuschauermenge und dem heuchlerischen Interesse eines sogenannten „Moderators“ ausgeliefert werden. Hier zählen nicht Verständnis, Einfühlung oder Vernunft, sondern die johlende „Volkszustimmung“. Seelische Qualen und intime Abscheulichkeiten werden zu brutaler Unterhaltung umfunktioniert. Das ist die Folge des mitleidlosen Blickes der Kamera. Man braucht keine Begründungen mehr für sein Handeln, alles ist beliebig und jeder ist freigegeben zum medialen Abschuss, solange es verwertbar ist.

„Es gibt [...] keinerlei in der Moral selbst liegenden Gründe, nicht auch Kampf gegen Feinde, in-group und out-group Unterscheidungen, Dissens im Verhältnis zu andersartigen Auffassungen zu prämieren“

(Luhmann 1996, 142).

Die teilweise Umkehrung des Zivilisationsprozesses, die zugleich weltweite Verfügbarkeit aller Medien und der daraus folgende Bedeutungsverlust des Ortes und der Zeit erzeugen eine neue Form der Vergesellschaftung, diag-nostizierte schon in den 60er Jahren der phänomenologische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan. McLuhan nennt sie das „Globale Dorf“. Es ist allerdings alles andere als eine positive Utopie.

„Das globale Dorf sichert die absolut maximale Uneinigkeit in allen Punkten. [...]. Dorf ist tiefgreifende Spaltung, nicht Fusion. [...]. Ich heiße das globale Dorf nicht gut“

(McLuhan 2001, 73f.)

Er sieht das Fernsehen als ein totales Medium der emotionalen Verstrickung:

„Das Fernsehen wird die Gesellschaftsstruktur in kurzer Zeit vollkommen auflösen“

(McLuhan 2001, 105f.).

Unsere Überlegungen zeigen exemplarisch, welche enorme Bedeutung elektronische Massenmedien für das Leben der meisten Menschen haben.

„Wir müssen uns immer vor Augen halten, daß, wann immer wir eine neue Technologie anwenden oder wahrnehmen, wir uns ihr mit Leib und Seele ausliefern“

(McLuhan 2001, 234)

Medien sind nicht Dinge, die von uns benutzt werden. Wir werden quasi von ihnen benutzt, sie formen unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen. Hier finden wir die gegenseitige Hervorbringung von Subjekt und Welt aus der Phänomenologie.

„Weil alle Medien, vom phonetischen Alphabet bis zum Computer, Ausweitungen des Menschen sind, die tiefe und andauernde Veränderungen im Menschen selbst auslösen und seine gesamte Umwelt verwandeln“

(McLuhan 2001, 171)

Medien sind Extensions of Man, Erweiterungen des menschlichen Leibes, und elektronische Medien gleichen Erweiterungen des Zentralnervensystems.

„In meinem ganzen Werk sage ich immer wieder, daß Bewußtsein immer mehr nach außen, in die Umwelt verlagert wird“

(McLuhan 2001, 75)

Fällt uns noch auf, dass Bücher ausgelagertes Bewustsein sind, dass wir einst das kulturelle Gedächtnis auf das Papier platziert haben? So wie man ein Musikinstrument oder ein Auto mit seinem ganzen Leib erfasst, sie „bewohnt“ und sich „in ihnen einrichtet“ (Merleau-Ponty 1966), so „bewohnt“ man auch die Medien als Umwelten und bemerkt sie nicht mehr.

„Ich nenne diese spezielle Form der Selbsthypnose ‚Narziß‘-Narkose, ein Syndrom, bei dem sich der Mensch der psychischen und sozialen Auswirkungen seiner neuen Technologien genausowenig bewußt ist, wie ein Fisch sich des Wassers bewußt ist, in dem er schwimmt“

(McLuhan 2001, 171).

Man kann prinzipiell zwei Realitätsschichten von Massenmedien unterscheiden, nämlich erstens die Realität der Medienoperationen, d.h. der Infrastruktur und der Beschäftigten, und zweitens die Realität der Medienprodukte, „im Sinne dessen, was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint. In Kantischer Terminologie gesprochen: Die Massenmedien erzeugen eine transzendentale Illusion“ (Luhmann 1996, 12f.). Sie ist wie ein elektronischer Welthorizont, den sie stetig aufrecht erhalten. Dieser ist so allgegenwärtig, dass man ohne Übertreibung sagen kann:

„Was wir über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“

(Luhmann 1996, 9)

Dabei geht es niemals um die „Abbildung“ irgendeiner Wirklichkeit. Das ist ein gefährlicher Irrtum. „Das alle Bereiche des Menschen erfassende Medium selbst, und nicht der Inhalt, ist die Botschaft, die Message. Und das Medium ist nicht nur Message, sondern auch Massage   – jedes Zusammenspiel der Sinne wird von ihm durchgeschüttelt, durchdrungen und ständig umgeformt“ (McLuhan 2001, 173). So enthüllt McLuhan das visuell-akustisch operierende Fensehen auch als taktiles Medium, welches tief in die Sinnlichkeit eingreift (2001, 190). Das ist phänomenologisch plausibel:

„Derselbe Leib sieht und berührt, und deshalb gehören Sichtbares und Berührbares derselben Welt an. [...]. Es gibt eine doppelte und überkreuzte Eintragung des Sichtbaren in das Berührbare und des Berührbaren in das Sichtbare“

(Merleau-Ponty 1986, 177)

Bedenkt man, dass alle Dinge ihren Sinn immer aus Bewegungserfahrungen erhalten und dass Intentionen Keime der Bewegung sind, begreift man auch, dass bewegte Bilder und Klänge als intentionale Keime für den Leib fungieren und ihm ihren Sinn aufdrängen.

Der Zuschauer erhält mit den verschiedenen Programmen massenweise „Identitätsmaterial“, aus dem er sich je nach seinen Vorerfahrungen und vermeintlichen Bedürfnissen „bedienen“ kann.

„Unterhaltung ermöglicht eine Selbstverortung in der dargestellten Welt. [...]. Damit regelt die Unterhaltung auch, zumindest auf der Seite der Subjekte, Inklusion und Exklusion“

(Luhmann 1996, 112; 115)

Die Forschung zu sozialem Lernen (Bandura 1963) und die Hirnforschung (Rizzolatti et al. 1996; Bauer 2006, 12; Fuchs 2008, 196) haben die phänomenologische Einsicht unterfüttert, dass man menschliches Verhalten allein durch Beobachtung erlernen kann. Es schlummert dann abrufbereit als Potential. Deshalb funktioniert soziales Lernen auch sehr gut am Bildschirm, z.B. die Identifikation, Imitation und Einverleibung von fremden Lebensinhalten, Sprech-, Denk- und Fühlschemata. „Medien können deshalb zu einer aggressiven Kultur beitragen: Menschen, die zu Aggressionen neigen, werden in ihren Einstellungen und Haltungen darin bestärkt“ (Groebel 1998, 109). Fernsehen ist so gesehen regelmäßiges und intensives parasoziales Mentaltraining, mit dem sich das Subjekt die dargestellte Welt mit ihren Gefühlen, ihrer Sprache und ihren Bewegungen einverleibt. Die Phänomenologie zeigt, wie man einen Anderen durch Beobachtung nacherlebt:

„Es genügt, daß ich sein Artikulations- und Klangwesen innehabe als eine mögliche Modulation, einen möglichen Gebrauch meines Leibes. [...]. Dann ist es, als wohnten seine Intentionen meinem Leibe inne und die meinigen seinem Leibe“

(Merleau-Ponty 1966, 214; 219)

Die fremde Welt kommt ins Wohnzimmer und der Zuschauer wird in sie verstrickt. „Bis vor kurzem hat man nicht besonders beachtet, daß durch die elektronischen Medien Sender und Nutzer gesendet werden. Wer telefoniert oder Radio hört, begibt sich augenblicklich an ganz entfernte Orte. [...]. Die Allgegenwart ist eine alltägliche Dimension des menschlichen Lebens geworden“ (McLuhan 2001, 138). Damit ist klar, warum elektronische Medien das Verhältnis zu Raum und Zeit tiefgreifend verändern, so wie schon die Schrift das Verhältnis zur Zeit komplett erneuert hatte. In dieser Weise transformieren z.B. auch Mobiltelefone Kontexte und Räume. Der Rahmen eines Gesprächs überstreicht oft zahlreiche räumliche Bewegungen und Tätigkeiten, so dass diese zum Hintergrund des Telefonats werden: Die primäre Welt wird zur sekundären Schicht des Erlebens, und Grenzen getrennter Lebenskontexte werden ausgewischt. Intimste Privatgespräche z.B. finden plötzlich öffentlich statt.
Diese Umkehr von Figur und Grund ist nach McLuhan das Kennzeichen jeder Medienrevolution. Ein herausragendes Schlüsselereignis in der Mediengeschichte der Menschheit ist für McLuhan der erste Umlauf eines Satelliten um die Erde.

„Das war im Oktober 1957, als ein Sputnik die Erde umkreiste und damit unseren Planeten in eine vom Menschen geschaffene Umwelt einsetzte. Der Planet selbst wurde zum Kunstprodukt. Umschlossen   – wie der Rahmen um ein Bild   – hörte der Planet auf, Natur zu sein, wurde zu einem menschlichen Kunstwerk, für das wir jetzt vollständig verantwortlich sind“

(McLuhan 2001, 48).

Als Tendenz der Entwicklung zeichnet sich neben der Vernichtung von Privatheit, dem Verlust des sense of place (Meyrowitz in Ludes 1998) auch die Beliebigkeit von Information ab.

„Bei Lichtgeschwindigkeit gibt es keine Verbindung zwischen den Nachrichten mehr. Alles wird appositionell oder zur Juxtaposition ohne irgendeine Verbindung“

(McLuhan 2001, 22).

McLuhan zeigt, dass der „Inhalt“ eines Mediums im Prinzip unwichtig ist, es genügt allein die neue Art der Beziehung zur Welt, die wesentlich ist und alles verändert.

„Wenn jemand versuchen wollte, Malerei anhand ihres gegenständlichen Themas zu bewerten, dann befände er sich in einer sehr schwachen Position“

(McLuhan 2001, 97).

Das Erscheinende ist wirklich, es gibt keine andere Wirklichkeit hinter dem Erscheinenden. Die Systemtheorie hat eine eigene Sprache für diese phänomenologische Wahrheit:

„Die primäre Realität liegt [...] nicht in „der Welt draußen“, sondern in den kognitiven Operationen selbst. [...]. Aber (die These des operativen Konstruktivismus) setzt Welt nicht als Gegenstand, sondern im Sinne der Phänomenologie als Horizont voraus“

(Luhmann 1996, 18).

Das Mediensystem erzeugt also intentionale Bewusstseinsobjekte und Horizonte. „Es kann deshalb gar nicht darum gehen, mit Hilfe dieses Systems, [...] zu erkennen, wie die Welt beschaffen ist und diese Erkenntnis dann allgemein zugänglich zu machen“ (Luhmann 1996, 31). Die „transzendentale Illusion“ der Medien ist eine hochwirksame soziale Realität. Medien bilden einen Hintergrund aus „Selbstverständlichkeiten“, die von allen Konsumenten geteilt werden.

„Nach ihrer Publikation können Themen als bekannt behandelt werden“

(Luhmann 1996, 29)

„Und so arbeitet auch das System der Massenmedien in der Annahme, daß die eigenen Kommunikationen [...] fortgesetzt werden. Jede Sendung verspricht eine weitere Sendung. Nie geht es dabei um die Repräsentation der Welt, wie sie im Augenblick ist“

(Luhmann 1996, 26)

Die Bekanntheit bestimmter Themen und der kontinuierlich erneuerte Bedarf nach Anschließendem konstituiert den Zeitrhythmus, nach dem die ganze medienkonsumierende Gesellschaft lebt,

„fresh money und new information sind zentrale Motive der modernen Gesellschaftsdynamik. [...]. Der geradezu neurotische Zwang in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst, etwas Neues bieten zu müssen [...] bietet dafür einen eindrucksvollen Beleg“

(Luhmann 1996, 44)

Wegen ihres immanent flüchtigen Charakters sind die thematischen Elemente der Medienwelt immer nur unscharf und oberflächlich. Die Medien arbeiten mit eingängigen Metaphern und simplen Vorstellungen, aber nicht mit intellektuellen Konzepten. Das Fernsehen ist primärer Sozialisationsagent und Wissensquelle für Milliarden von Menschen, nicht die Schule. Das birgt eine Gefahr:

„Im Fernsehen gibt es laut Bourdieu für das Denken [...] keinen Platz, weil es nur denen das Wort erteilt, die schnell reagieren und schnell denken. Sobald ein Gedanke nicht mehr dem Gesetz des Gemeinplatzes gehorcht, greift der Moderator ein [...] und macht sich so ‚zum Sprecher der Dummköpfe, um eine intelligente Darbietung zu unterbrechen‘“

(Wirth in Wertheimer 2006, 54)

Das Medium erzeugt ephemere Bewusstseinsobjekte, die nicht mit eigener Erfahrung gefüllt sind, und darum fast beliebig metaphorisch aufgeladen werden können (vgl. Krippendorf 1989). Ein Großteil dessen, was wir über unsere Welt zu „wissen“ glauben besteht aus solchen halbleeren Appräsentationen, denen wir Existenz unterstellen. Das Fernsehen ist im Wesentlichen nicht diskursiv, es wirkt durch Bilder und Assoziationen. Es überwiegen spontane und emotionale Wahrnehmungsakte, die Möglichkeit eigener Kategorisierung und Benennung wird systematisch entzogen.

„Tempo und optisch/akustische Harmonie des Bildverlaufes entziehen sich dem punktuell zugreifenden Widerspruch und erwecken den Eindruck einer bereits getesteten Ordnung. Es gibt jedenfalls nicht im gleichen Sinne wie beim Widerspruch des Wortes gegen das Wort einen Widerspruch des Bildes gegen das Bild“

(Luhmann 1996, 80)

Kaum jemand kann übrigens nach einer Nachrichtensendung im Fernsehen deren informationalen Inhalt wiedergeben, erinnert sich aber sehr wohl an die bildhaften Eindrücke. Aber dass es in den Medien um so etwas wie „Information“ geht hatte sich ja schon als fundamentaler Irrtum herausgestellt. Die wirklichen Funktionen der Massenmedien liegen woanders:

„Ihre Präferenz für Information, die durch Publikation ihren Überraschungswert verliert, also ständig in Nichtinformation transformiert wird, macht deutlich, daß die Funktion der Massenmedien in der ständigen Erzeugung und Bearbeitung von Irritation besteht   – und weder in der Vermehrung von Erkenntnis noch in einer Sozialisation oder Erziehung in Richtung auf Konformität mit Normen. [...].[...] nur so ist es möglich, die moderne Gesellschaft in ihrem Kommunikationsvollzug endogen so unruhig einzurichten wie ein Gehirn und sie damit an einer allzu starken Bindung an etablierte Strukturen zu hindern“

(Luhmann 1997, 174f.)

Es wäre also geradezu der Wesenskern von Massenmedien, „Unruhe zu stiften“ und Information zu vernichten, damit neue Orientierungsmuster angeboten werden können   – z.B. in Form kaufbarer Produkte und einer Außenleitung durch wechselnde Meinungen und Moden. Was für den außengeleiteten Menschen zählt, ist vor allem die magnetische Kraft der Aufmerksamkeit um jeden Preis und mit jedem beliebigen Mittel.

Luhmann nennt Werbung die „Beihilfe zur Selbsttäuschung des Adressaten“: Werbung setzt ganz auf gute Form. Erscheinung ist Wirklichkeit, so wie das gestisch Ausgedrückte immer vollständig im Ausdruck erscheint und nicht jenseits davon existiert. „Gute Form vernichtet Information. Sie erscheint durch sich selbst determiniert, als nicht weiter erklärungsbedürftig, als unmittelbar einleuchtend“ (Luhmann 1996, 87). So konnte es kommen, dass „Handys“, „Klingeltöne“ und „Soaps“ zu Kultgegenständen wurden.


Die Gleichsetzung von Form und Inhalt und die Konkurrenz um Aufmerksamkeit erklären auch die Bedeutungssteigerung von kameratauglichen Körpermerkmalen, was wiederum entsprechende Moden, Charaktere und Tätigkeiten generiert, vom TV-Moderator zum Schauspieler, vom „Model“ bis zum „Pornodarsteller“   – und in logischer Konsequenz folgt der medial inszenierte Trend zur „Schönheits“-Chirurgie bis zur totalen Übersteigerung visueller Merkmale. Die hohe Bedeutung äußerer Anerkennung fördert auch eine veränderte Identitätsbildung. Man behandelt sich selbst als Marktware und missversteht sein von Aufmerksamkeitssucht versklavtes Leben als „Ich-Marketing“.

„Was einer für sich selbst darstellt, verliert an Bedeutsamkeit. Die Wertschätzung der eigenen Person bemisst sich am Quantum von außen zugebilligter Aufmerksamkeit. Warum diese gezollt wird, spielt keine Rolle“

(Vulner 2000, 391)

Aus dieser fundamentalen Bedeutung von Aufmerksamkeit im kommerziellen Fernsehen folgt auch eine bemerkenswerte Einsicht darüber, was dessen eigentliches Erzeugnis ist. Normalerweise nimmt man an, dass es das Programm sei. Aber:

„Das ist falsch. Die Wirtschaftstätigkeit kommerzieller Fersehstationen besteht darin, Zuschauerschaften zu produzieren. Diese Zuschauerschaften, oder besser gesagt, der Zutritt zu ihnen, werden an die werbungtreibende Wirtschaft verkauft“

(Robert Owen in Vulner 2000, 200)

Im Jahr 2005 wurden im deutschen Privatfernsehen 15 Milliarden Euro Bruttowerbeumsatz gemacht (Media Perspektiven 2006, 18). Die Werbewirtschaft vertraut also stark auf die Wirksamkeit ihrer Bemühungen. Das Vertrauen ist begründet, denn man kann dem durch Irritation und Neuigkeitssuche präparierten Zuschauer bequem Angebote von neuen kognitiven Schemata, mentalen Typisierungen und Handlungsskripten machen, die er sich einverleibt. Deshalb sind Radio und vor allem Fernsehen auch so mächtig, weil wir uns noch die Stimmen, die räumlichen Positionen, die Blicke, das Gehör und die Körperbewegungen unsagbar vieler Anderer zu eigen machen.

Wir bestehen immer aus dem Fluss der Bewusstseinsereignisse unserer sich kontinuierlich anreichernden Vergangenheit. Man ist, was man sieht. Weil Sinnliches jeweils eine bestimmte Weise der existenziellen Beziehung zur Welt ist, sind Leib und Wahr-Genommenes immer gepaart:

„Empfindung ist buchstäblich eine Kommunion“

(Merleau-Ponty 1966, 249)

Aber: Medienangebote, Programme, Bilder usw. sind keine „physikalischen Reize“, die mechanisch irgendwelche „Reaktionen“ in einem biologischen Körper „auslösen“. Was wir erleben wirkt, nichts anderes. Die Medien haben keine „Wirkung“ wie ein Laserstrahl, der Schriftzüge in ein Papier einbrennt. Wir selbst nehmen Kontakt mit Gesehenen und Gehörtem auf und weisen ihm eine Bedeutung zu, oft allerdings ganz unwillkürlich und passiv. Es kann also beim Medienkonsum keine physikalische Kausalität geben, sondern nur Motivierungsverhältnisse. Wir rekonstruieren aus den Medienphänomenen deren möglichen Sinn.

Stefan Aufenanger bezeichnet die Mediennutzer darum auch als „rekonstruktive Hermeneuten“ (in Dichanz 1995, 143). Wahrnehmung ist Aktivität und bedeutet Nehmen:

„Empfindender und empfundenes Sinnliches sind nicht zwei äußerlich einander gegenüber stehende Terme, und die Empfindung ist nicht die Invasion des Sinnlichen in den Empfindenden. Die Farbe lehnt sich an meinen Blick, die Form des Gegenstandes an die Bewegung meiner Hand“

(Merleau-Ponty 1966, 251)

Wir machen uns selbst durch das, was wir tun und erleben und sind auch verantwortlich für unseren Medienkonsum. Allerdings muss man eine wichtige Einschränkung machen: Wenn die Medien als allgegenwärtiger Universalhorizont des täglichen Lebens keinen Alternativraum mehr offen lassen, hat man praktisch keine Wahl mehr, und die Rede vom mündigen Bürger oder Konsumenten ist nur Hohn. Wenn immer dasselbe lange genug und überall wiederholt wird, setzt die Schweigespirale ein, d.h. es erscheint nur noch eine einzige öffentliche Meinung in den Medien   – und die Konsumenten glauben, dass keine andere Art des Denkens legitim ist

(Noelle-Neumann 1977)

Die phänomenologischen Erkenntnisse zur Einverleibung von Medienerfahrung kongruieren erwartungsgemäß mit Ergebnissen der Hirnforschung, die zeigen, dass einmal Erfahrenes als Getanes oder nur Nachvollzogenes eine dauerhafte, lebendige und energiezehrende Spur im Organismus hinterlässt. „Diese Sinneseindrücke werden im Gehirn nicht einfach abgelegt, sondern ständig weiterverarbeitet“ (Spitzer 2006). Medienprogramme besetzen unseren Bewusstseinshorizont mit emotional geladenen intentionalen Objekten, welche die Offenheit für das wirkliche Leben und die Mitmenschen verdrängen können. Medienkonsum kann zu Identitätsirritationen führen, schon allein durch den Wegfall der Beziehung zwischen Leibbewegung und davon abgelöster medialer Erfahrungen.

„Das ‚Ich‘ als Zentralphantom der Rekursivität des Erlebens und Handelns lebt immer noch vom Körperbezug aller Wahrnehmung; aber es findet sich zusätzlich angereichert und verunsichert durch das, was es durch die Massenmedien weiß“

(Luhmann 1996, 163)

Das gilt in besonders starkem Maße für Kinder. Wie fühlt es sich für ein Kind an, das in der Schule sitzt und an nichts anderes denken kann als an die fast nackten hässlichen Männer und Frauen in sadomasochistischer Lederausstattung, die es am Vortag primitiv über Sex herumpöbelnd in einer Nachmittagstalkshow gesehen hat? Denken wir an die Tatsache, dass keine zwei Zustände zugleich im Bewusstsein Platz haben. Hier stellt sich also die Frage nach dem positiven Erfahrungsgegengewicht von lebendiger Zuwendung, von Liebe, Gemeinschaft und Anerkennung für medienüberflutete Kinder, damit traumatisierende innere Bilder nicht ihren Lebensmut und ihr Vertrauen zerstören.

„Die Fähigkeit, einer Erfahrung einen Sinn zuzuweisen, ist extrem begrenzt, und wenn Sie die Menge an Erfahrungen vergrößern, wird der Sinngehalt kleiner“

(McLuhan 2001, 136)

Für die Leibphänomenologie ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Gedanken des Subjektes seine Lebensenergie lenken und formen. Manchmal pfeift man noch nach 30 Jahren plötzlich eine uralte Werbemelodie. Solange besetzen Medienerfahrungen unseren Leib.

Systemtheoretisch wird der Prozeß der Einverleibung von Erfahrungen als „strukturelles Driften“ beschrieben, als Strukturveränderung durch Dauerzufuhr von Irritationen in ein System. In einer Gesellschaft, in der Medien die dominierende Sozialisationsinstanz bilden, interessiert vor allem die Frage nach der

„Richtung, die ein structural drift nimmt, wenn die Weltkenntnis nahezu ausschließlich durch die Massenmedien erzeugt wird. Es fehlt uns noch ein Begriff, der zum Beispiel erklären könnte [...], wie die Weltkenntnis, die sich aus dem Leben in [...] der traditionalen Gesellschaft ergibt, verdrängt oder überformt wird durch die Teilnahme an den Sendungen der Massenmedien. Für diese Frage könnte ein Repertoire nützlich werden, das mit Begriffen wie schema, cognitive map, prototype, script, frame eine breite Diskussion ausgelöst hat“

(Luhmann 1996, 192)

Mediale Erfahrungen hinterlassen ebenso Bewusstseinsspuren und strukturieren unser Erleben wie alle anderen Lebensäußerungen oder Erlebnisse. „Die Medien organisieren unser Leben. Erst die Medien machen individuelle Lebenskonstrukte zu Konventionen. Erst die Medien ermöglichen weltanschauungsmäßige kulturelle Einheiten wie Religionen, Staaten, Ideologien, Wirtschaftskonzerne oder Sekten.

Das Medium generiert den Konsens, durch den sich eine solche Einheit definiert, der ihr zugrundeliegt und mit dem sie arbeitet. [...]. Medien spielen also schematische Lebenskonstrukte vor, die erst vom Rezipienten ‚aktualisiert‘ oder ‚konkretisiert‘ werden“

(Kolerus 1998)

Die psychische Verankerung der dargestellten Schemata können wir als Folge des Konsums massenmedialer Produkte sicher annehmen. Massenmedien sind Distributionsmedien für die Verbreitung bestimmter kognitiv-emotionaler Strukturen. Das System erzeugt eine zweite Schicht der Genesis einer elektronischen Lebenswelt, und so

„scheint sich die Kommunikation heute durch ein subjektiv nicht mehr kontrollierbares Anschauungswissen tragen zu lassen, dessen Gemeinsamkeit sich den Massenmedien verdankt und durch deren Moden mitgezogen wird“

(Luhmann 1996, 149)

Nach dieser skizzenhaften Analyse kann man sich fragen, warum eine Gesellschaft ein solch gewichtiges und mächtiges Subsystem einfach dem sogenannten „freien Markt“ überlässt, also einer Handvoll Akteuren, die starke Interessen haben, aber mit ziemlicher Sicherheit keine sozialen, ethischen oder humanistischen.

Wir kommen zwar nicht umhin, dem Zuschauer Verantwortung für die Bewertung, Selektion und Verweigerung dem Medium gegenüber zuzuschreiben, welche sich letztlich wieder im Angebot niederschlägt. Die Interaktion von Mensch und Medium ist zweiseitig:

„Marshall McLuhan begreift jegliches Medium als [...] eine artifizielle Verlängerung unter anderem auch der Sinne. Diese Vorstellung impliziert das Vorhandensein eines Umschlagpunktes [...], die das Aufeinanderstoßen von menschlichem Wahrnehmungsapparat und artifiziellem Medium markiert. In den vom Medium aufgemachten Kanälen wäre somit ein Negativabdruck der Wahrnehmungstendenzen des Benutzers manifestiert“

(Kolerus 1998)

Aber es fragt sich, woher der Benutzer die Referenz-Schemata für einen kritischen, unabhängigen Blick auf das Medium nehmen soll, wenn diese selbst aus dem Medium stammen.

„Die Bilder werden immer mehr so, wie sie die Empfänger haben wollen, damit die Empfänger immer mehr so werden, wie sie die Bilder haben wollen“

(Vilém Flusser zitert nach Vulner 2000, 211)

Wir haben es also anscheinend mit einem wechselseitigen Prozess zu tun, auch hier formen sich Subjekt und Welt gegenseitig. Die Energie stammt aber immer von den beteiligten Menschen.

„Natürlich sind artifizielle Medien keine Lebewesen, sie können von sich aus keine Innovation anstoßen. Wir ermöglichen es ihnen jedoch, indem wir ständig gegen sie anrennen und uns an ihnen stoßen und reiben. [...]. Plötzlich sind wir das Medium, und das Medium, als eine Art ‚Cyber-Rezipient‘, formt uns. Der Begriff ‚Medienethik‘ erscheint hier in einem völlig neuen Licht. Wenn ich gegen eine Wand renne und mir dabei ein blaues Auge zuziehe, so werde ich wohl nicht ernsthaft daran denken, die Wand anzuzeigen“

(Kolerus 1998)

Oberflächlich betrachtet ist dies ein entwaffnendes Argument für die Apologeten der Quotenmaximierung ohne Zumutbarkeitsgrenzen. Aufgrund der Zirkularität des Prozesses ist es jedoch unzulässig, die Verantwortung für diese Interaktion auf den Zuschauer abzuwälzen und den Anbieter auf die Rolle des verantwortungsfrei Reagierenden zu schrumpfen. Der Medienunternehmer ist eindeutig der aggressivere Part in der Beziehung. Er ist der Inititator der Programme und trägt deshalb für sein Angebot die volle und alleinige Verantwortung. Wir haben es mit einer extrem asymmetrischen Beziehung zwischen Medienakteuren und Konsumentem zu tun, und alle Beschwörungen des „freien Zuschauerwillens“ verschleiern die Angebotsübermacht und den Werbedruck der Sender, denen sich kaum jemand entziehen kann.

Paradoxerweise bleibt dem Zuschauer gerade deshalb keine andere Wahl, als verantwortlich zu wählen, denn man kann den elektronischen Medien nicht ganz ausweichen. Und prinzipiell brauchen wir sie natürlich. Nicht umsonst garantiert das deutsche Rundfunkgesetz eine kulturell und informational hochwertige Grundversorgung der Bevölkerung durch öffentlich-rechtliche Sendeanstalten. Hier kommen wir dann zu der Einsicht, dass das Medium zwar die Botschaft ist, aber nicht die ganze Botschaft. Denn Inhalt und Form bedingen sich gegenseitig und damit die Möglichkeiten, die ein Programm dem Zuschauer lassen will. Verantwortliche Medienproduktion lässt „die Sachen selbst“ sprechen und bleibt bei den Menschen. Sie sollte das Gemeinschaftsgefühl fördern statt den Blick ohne Mitgefühl.

Ob wir wollen oder nicht, Medien erziehen uns und unsere Kinder. Eine sichere Selektionsfähigkeit bedeutet Selbstvertrauen und Urteilsvermögen und damit Bildung und Medienkompetenz. „Bildung verhilft uns zur positiven Ignoranz, zur Fähigkeit der Wahrnehmungsverweigerung“ (Guggenberger 2003). Wir brauchen also eine intensive, allumfassende und tiefschürfende Medienpädagogik für Kinder und für Erwachsene, damit wir wissen, was wir tun. Denn:

„Wie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden?“

(Luhmann 1996, 215)

B. Bildung

Besinnen wir uns an dieser Stelle einer wichtigen Wurzel der Vorstellung von „Bildung“: „Der deutsche Bildungsbegriff entstand in der Mystik des 14. Jahrhunderts und wurde von Gott her verstanden: als Aktualisierung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, als Wiedergebildetwerden in Gott, als Wiedervereinigung mit Gott aus Gottes Gnade. Beispielsweise meinte Meister Eckhart (1260-1327) mit ‚Bilden‘ das ‚Einbilden‘ des Bildes Gottes in die menschliche Seele.

(Xochellis 1973, 16)

Im Kern aller in dieser Tradition stehenden Bildungskonzepte steht etwas fundamental Gemeinsames. Es geht nämlich immer um die Entfaltung eines Potentials des Menschen, die Entfaltung einer Entelechie. Mensch sein heißt, sein Ziel nur aus sich selbst gewinnen zu können. Es geht um Selbstvervollkommnung. Werde, der Du bist (Nietzsche). Die Setzung Gottes ist dabei in heutigen Ansätzen oft in den Hintergund getreten oder völlig verschwunden. Bildungstheorie setzt jedoch immer eine Teleologie voraus, ein zielführendes Sollen, welches sich an der unveräußerlichen Würde der Person zu orientieren hat.

Als Erwachsener bedeutet das eine Pflicht zur bewussten Selbstbildung, aber nicht etwa im beschränkten Sinne instrumenteller beruflicher Qualifikationen, sondern als selbstbestimmte Erweiterung des Bewusstseins, als Interesse am eigenen Geheimnis, den Anderen und der eigenen Beziehung zur Welt. Bildung ist unausweichliche Notwendigkeit, und auch wenn der Mensch nichts tut, verändert ihn das, oft in die falsche Richtung.

Die allgemeine Notwendigkeit einer Erziehung der Nachkommen ist seit Menschengedenken unstrittig. Die in Deutschland immer noch an das preußische Schulsystem des 18. Jahrhunderts angelehnten Bildungseinrichtungen verlieren in der mediatisierten Welt rapide an Wirkung, und man muss die Ziele und Bedingungen solcher staatlicher Erziehung neu bedenken.

„Vor allem aber ist die Frage, wie der Mensch zu einem wahren oder wirklichen Menschen werden könnte, von hier an unausweichlich als eine Medienfrage gestellt, wenn wir unter Medien die kommunionalen und kommunikativen Mittel verstehen, durch deren Gebrauch sich die Menschen selbst bilden zu dem, was sie sein können und sein werden“.

(Sloterdijk 1999)

Das reproduzierbare Buch ist das erste technische Massenmedium und machte in Verbindung mit einer überregionalen Nationalsprache staatliche Schulen erst möglich. Der Buchdruck verwandelte die traditionelle Gesellschaft in eine Mediengesellschaft. Die Weltreligionen sind Völker des Buches, der gemeinsame Text stiftet Sinn über Jahrtausende. Daran erkennen wir zwei wichtige Dinge:

  1. Menschen und Kulturen brauchen Medien.
  2. Ursprung der globalisierten Kultur ist die Schrift und das Buch.

Wenn auch elektronische Medien erziehen und die Erziehung Aufgabe der Gesellschaft als Ganzes ist, dann sollte man die entsprechende Macht nicht jedem X-Beliebigen überlassen. Die Gesellschaft muss eindeutige Vorgaben machen, sonst betreibt der „liberalisierte“ Medienmarkt das, was in jeder „deregulierten“ ökonomischen Sparte geschieht: die Ausbeutung und Zerstörung der menschlichen Ressourcen. Im Falle der Medien sind das die lebendige mitmenschliche Kommunikation, das Mitgefühl, die Aufmerksamkeit und die psychische Gesundheit unserer Kinder, kurz: das soziale Kapital (vgl. Putnam 1995). Praktisch alle menschlichen Beziehungen werden im Extremfall mediatisiert und durch parasoziale Interaktionen ersetzt.

Die Gesellschaft als Ganzes hat ein berechtigtes Interesse an der öffentlichen Kontrolle des Bildungswesens. Warum hat man dann aber einen großen Teil der Erziehungshoheit an die nur dem ökonomischen Diktat folgenden Massenmedien abgegeben?

In der „Mediengeschichte der Bundesrepublik“ finden wir einen aufschlussreichen Passus zur politischen Durchsetzung des Privatfernsehens: „Schon in den Kabelpilotprojekten stellt sich heraus, daß die als wichtigster Grund für die Dualisierung des Rundfunks propagierte Meinungs- und Medienvielfalt umstritten blieb und daß vor allem Konzentrationsprozesse stattfanden. Es ging nicht wirklich darum auszuprobieren, sondern zu ‚implementieren‘ [...]. Rundfunk als Ware, Kabelfernsehen als Supermarkt“ (Wilke 1999, 182). Profitinteressenn und Machtkalkül haben also die Politik bestimmt. Diese „Deregulation“ der Gesellschaft wurde von den gleichen politischen Kräften betrieben, die heute nach „alten Werten“ rufen und den Zerfall der Familie beklagen.

Diese Paradoxie zeigt sich auch in der Bildungspolitik, man spricht von „Bildung“ und meint aber „vermarktbare Qualifikation“. Man redet von „Medienkompetenz“, meint aber „technisches Computerwissen“.

„Und Lehrer transportieren die Ideologie, die ihnen von einem zukunftsgeilen Kultusministerium frei Schule geliefert wird, nach der nur ein computergeschulter Schüler ein zukunftsgewappneter Schüler sein kann“.

(Vulner 2000, 105)

Der Computer ist aber kontraindiziert für die Bildung der Schüler, auch weil man eine Pseudokompetenz erzeugt, die schon veraltet ist, bevor der Schüler die nächste Klasse durchlaufen hat. Ein technischer Computerunterricht verschwendet wertvolle Lernzeit, die für echte Medienpädagogik und sprachlich anspruchsvolle kategoriale und emotionale Bildung viel besser verwendet wäre. Man verwechselt auch beim Computer Inhalt und Form. Der Rechner als „Universalmaschine“ führt schnell zur Inflation des Möglichen mit dem Resultat, dass Allesmögliche angefangen, nichts verstanden und alles entwertet wird. Computer verändern die Beziehung zu den Inhalten total. Texte, Klänge und Bilder werden zu „Files“, von denen man im Prinzip unendlich viele besitzen oder aber jederzeit „downloaden“ kann. Also warum noch einen ganzen Text lesen oder ein ganzes Musikstück hören oder eine Anwendung wirklich in der Tiefe verstehen? Das Medium ist die Botschaft.

„Computer sind mystisch aufgeladene Werkzeuge. Sie sind dienlich als Projektionsfläche für wahnhafte Träume und unerledigte Utopien, wie jene der Demokratisierung. [...]. Der [...] Irrtum der Demokratisierer [...] besteht in der schon klassischen Verwechslung von massenhafter Verbreitung und demokratischer Nutzung“

(Vulner 2000, 144f.)

Es versteht sich von selbst, dass man Medien in der Schule nicht ignorieren darf. Es kann nur nicht die Aufgabe der Schulen sein, steuerfinanziert kostenlose Bedienerkurse für schnelllebige Industrieprodukte anzubieten, während sie zugleich mit der Produktion und Reproduktion des sozialen Kapitals überfordert sind.

McLuhan macht darauf aufmerksam, dass die Bildung von jahrelang an elektronische Medien gewöhnten Kindern immer eine Bildung unter den Bedingungen des Körperverlusts bedeutet.

„Der Unterricht für solche Menschen muß erst noch erfunden werden. [...]. Irgendwie muß man die Bedeutung der persönlichen Identität, physikalischer Körper und Ziele neu beleben, aber Ziele sind unter den Bedingungen der Lichtgeschwindigkeit sinnlos“

(McLuhan 2001, 31)

Durch mitmenschliche Leiberfahrungen bildet sich der intentionale „Anhalt des Leibes an der Welt“. Wenn aber die vollständige Leiberfahrung der Lebenswelt zunehmend verkrüppelt und ausgelöscht wird, ist die geistig-seelische Gesundheit von Menschen direkt gefährdet. Die unmittelbare Lebenswelt erscheint vielen Kindern inzwischen wertlos und langweilig, weil sie durch eine zweite elektronische Schicht überlagert wird, die ihre eigenen Wurzeln verdrängt. Nicht umsonst heißt eine Pixelsimulation im Internet „Second World“. Auch hier hat eine vollständige Figur-Grund-Umkehr stattgefunden, und die primäre Realität wird als „Real Life“ zur Ausnahmefigur vor einem bewegten, aber toten elektronischen Ersatzhintergrund.

Aufgrund des blinden Fleckes für dieses Phänomen und des technokratischen Missverständnisses von Medien als „Instrumenten“ gibt es merkwürdigerweise in den Schulen bis heute kein verpflichtendes Hauptfach „Medien“, welches angesichts ihrer Allgegenwart und der Überforderung von Lehrern, Eltern und Kindern dringend geboten ist   – nur keinesfalls als technische „Medienkunde“. Vor allem ist korrigierende Kommunikation nötig, die die Schüler leibhaftig in der nichtelektronischen Lebenswelt verwurzelt und Selbsterfahrung und Gemeinschaftsgefühl ermöglicht.

Ein Teil des Internet sind virtuelle Foren, in denen sich weltanschaulich isolierte Zirkel bilden, die keine Kritik dulden und keine alternative Perspektive zulassen. Viele Forenuser kommen gar nicht mehr in Kontakt mit Andersdenkenden, welche ihre teilweise abstrusen Hirngespinste am common sense korrigieren könnten. Sie bilden so ein Potential an Radikalisierung und Segmentierung der Gesellschaft in zersplitterte Einzelwirklichkeiten. Weil aber niemand ohne die Annahme einer Realität leben kann, entsteht ein Problem:

„Die Unterscheidung einer nicht konsenspflichtigen, individuell anschneidbaren Welt könnte nun eine [...] Lösung für dieses Problem sein, und genau das scheint die Lösung zu sein, die die Massenmedien anbieten und verbreiten. [...].Wenn dies eine zutreffende Diagnose ist, wird auch verständlich, weshalb sich unter diesen kommunikativen Bedingungen Fundamentalismen aller Arten entwickeln“

(Luhmann 1996, 168)

Den Verlust des common sense ist ein Element des Globalen Dorfes. Es ist also geboten, in den öffentlichen Bildungseinrichtungen eine mitmenschliche Realität herzustellen und zu stabilisieren. Referenz kann aber immer nur die nichtelektronische Lebenswelt sein. Kinder mit wenig unmittelbarer sozialer und sprachlicher Lebenswelterfahrung dürfen als mehr oder weniger verwahrlost gelten.

„Verwahrlost ins Leben tretende Bevölkerungsgruppen sind für Sozialisation und Kulturation kaum zugänglich. Sie fallen in der Regel Ideologien und Massenbewegungen anheim, die kulturzerstörend wirken“

(Rattner & Danzer 2007, 67)

Es besteht also Handlungsbedarf auf verschiedenen Ebenen für die Schulen. Vor allem müssen sie die Medienrevolution in ihrer ganzen Tiefe wirklich verstehen lernen und nicht dem gefährlichen Aberglauben „kontrollierbarer technischer Apparate“ erliegen. Wir brauchen keine technisch orientierte „Medienkunde“, sondern eine Art „Medienethik“, die unvermeidbar zugleich Gesellschaftskunde und Selbsterfahrung ist. Das ist nicht mit ein paar „Video-AGs“ oder einem „Hip-Hop-Projekt“ abzuhaken. Es braucht mehr Substanz dahinter. Kinder sollten begreifen, was Medien wirklich tun, und das können sie nur, wenn sie zuvor gut sprechen, singen, laufen, tanzen, zuhören, malen, zeichnen, lesen, schreiben und rechnen gelernt haben   – ohne Computer. Bevor ein Schüler nicht Inhalte von Texten lesen, verstehen, wiedergeben, selbst verfassen und in einer Bibliothek recherchieren kann, sollte von ihm für Schulaufgaben nicht die Nutzung eines Computers oder des Internet gefordert werden. Denn mit Lesen und Schreiben fängt alles an. Geschriebene Texte gehören einfach zum

„Urphänomen des geistigen Europas“

(Husserliana VI, 321)

Eine frühe Leseförderung wäre also eine sehr wichtige Aufgabe der Bildungsinstitutionen. Bettina Hurrelmann hat die fundamental positiven Wirkungen von Lesepraxis untersucht und stellt fest, „daß keine andere Alltagssituation so ergiebig für den Spracherwerb des Kleinkindes ist wie die Vorlesesituation“ (Hurrelmann 1998, 131). Sie zieht aus diesem Ergebnis und der Vielschichtigkeit der Lesekompetenz einen entscheidenden Schluss:

„Als wirksamste Medienpädagogik kann denn auch immer noch ein effizienter Leseunterricht bezeichnet werden, auf dem freilich eine umfassende Medienalphabetisierung aufzubauen wäre“

(Hurrelmann 1998, 132)

Literalität ist demnach nicht nur historisch, sondern auch in jeder individuellen Lebensgeschichte der Ursprung der Kultur- und Menschenbildung. „Beim Bücherlesen findet das Kind zu einer ‚kontemplativen Haltung‘, in der es sich selbst ein Stück weit von der Welt abzugrenzen und zu unterscheiden lernt“ (Hurrelmann 1998, 131). Das hat nichts mit der erwähnten „autistischen Blase“ elektronischer Medien zu tun, die Konzentrations- und Denkstörungen konditionieren.

Ein Leser hingegegen muss das Vorliegende intellektuell aktiv nachvollziehen, er muss sich fokussieren und in sich selbst eine fließende Denkspur erzeugen, sonst findet er nur schwarze Kleckse auf Papier:

„Lesen ist eine konstruktive Operation. [...]. Lesen ist vermutlich die ergiebigste Quelle des Begriffslernens“

(Hurrelmann 1998, 131)

Lesen ist also Denk- und Sprachttraining par excellence. Lesen fördert die Unterscheidungsfähigkeit und das Urteilsvermögen.

Eine allererste Grundvoraussetzung für das Lesen von Texten ist bereits selbst wertvolles soziales Kapital, nämlich die respektvolle, ja liebende Aufmerksamkeit für das Produkt eines Mitmenschen.

„Daher ist die Kunst des Lesens fast ebenso wichtig wie die Kunst des Liebens. Genauer gesagt ist sie eine Konkretisierung der Letzteren“

(Rattner & Danzer 2007, 89)

Lesen schwingt uns ein in den common sense der intersubjektiven Welt, der in der Sprache liegt. Lesen kann von der liebenden Aufmerksamkeit für die Gedanken Anderer auch zur Schätzung des eigenen Selbst beitragen.

Auch das Buch ist als Medium natürlich ein Kontaktunterbrecher, in diesem Falle zwar ein sprachstiftender und die reflexive Distanz fördernder, aber es ist eben nicht die unmittelbare Kommunikation. Auch das Lesen erhält seinen Sinn gerade erst, weil es die lebendige Erfahrung voraussetzt und thematisiert. Lesen ist aber für die gegenwärtige globale Kultur unverzichtbar.

Im Kern geht es bei allen Bildungsbemühungen eigentlich um Kommunikation, Verstehen, Denken und Sprechen, um lebendigen Dialog im Gemeinschaftsgefühl   – Lesen und Schreiben sind bereits deren Abstraktionsform.

Die Säuglingsforschung und die Entwicklungspsychologie lehren uns, wie wichtig noch vor dem Spracherwerb die leibhaftige Erfahrung von Vertrauen, Zuwendung, Wertschätzung und Dialog für die gesunde und glückliche Entwicklung eines jeden Menschen ist, sie ist der Boden für die ganze menschliche Existenz. Unsere allererste Beziehung zur Mutter und später zur Familie und Anderen ist auch ein allererster leibhaftiger Dialog, den wir ununterbrochen führen und der uns für immer prägt. Schon diese ersten Erfahrungen verbinden uns zugleich mit der Gesellschaftsschicht, in der wir leben, mit ihren speziellen Handlungsweisen und Beziehungen, ihrem Gefühlsspektrum, ihren Überzeugungen, Hoffnungen und Ängsten.

„Die kulturellen Welten unterscheiden sich grundlegend durch die in ihnen jeweils vorherrschende Konstellation tiefer Stimmungen“

(Held 2003, 8)

Bildung beginnt also schon in den Armen unserer Eltern. Sie ist kein passives „Geformtwerden“, sie ist aktiv handelndes Einverleiben der Mitwelt, die wir vorfinden.

Nur wer sich selbst als wertvoll empfindet, kann sich auch Mühe mit sich geben und offen werden für eine Bildung, die ihn wirklich weiter entwickelt. Nur ein Mensch, der weiß, wer er ist, weiß, was er soll (frei nach Sokrates). Denn „das Ausmaß des Unbewußten wächst mit der Unehrlichkeit gegen uns selbst“ (Rattner 1994, 80). Eine echte Menschenbildung ist eigentlich ein therapeutischer Weg, ein Weg zur eigenen Gesundung und Vervollständigung, der weit über oberflächlichen Wissenserwerb hinausgeht. Immer ist dabei leibseelische, auch emotionale Bildung gemeint, welche den ganzen Menschen öffnet, zu sich selbst bringt und damit auch zu den Mitmenschen.

(vgl. Wenke 2008)

Zur Person:

wenke matthias

Matthias Wenke

Matthias Wenke M. A., Jahrgang 1965, studierte Chemie, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Philosophie. Er ist Individualpsychologischer Berater & Supervisor DGIP, Autor, Yogalehrer und Tontechniker.

Veröffentlichungen

  • 2006 „ADHS: Diagnose statt Verständnis? “ (Brandes & Apsel, Frankfurt am Main).
  • 2008 "Im Gehirn gibt es keine Gedanken. Bewusstsein und Wissenschaft." (Königshausen & Neumann, Würzburg).

Homepage von Matthias Wenke:
http://www.mwenke.de/

C. Literatur

  • Bandura, A.& Walters, R.H. (1963). liSocial Learning and personality developement. New York.li
  • liBauer, Joachim (2006). Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern (8.Aufl.). München: Piper.li
  • liCaspary, Ralf (Hrsg.) (2006). Lernen und Gehirn. Der Weg zu einer neuen Pädagogik. Freiburg: Herder Spektrum.li
  • liDBU Deutsche Bundesstiftung Umwelt (2007). Durch „Killerspiele„ „klare Erhöhung des Risikos, Gewalttäter zu werden„. 15. Pfingstsymposium des ZUK Benediktbeuern und der Umweltstiftung am 25.5.2007: 170 Akteure diskutieren.li
  • liwww-Dokument. URL: http://www.dbu.de/799.html (23.8.2007).li
  • liDichanz, Horst (1995). Einführung in die Medienpädagogik. Grundlagen einer Medienwissenschaft. Kurs Nr. 3083. Hagen: Fernuniversität.li
  • liDornes, Martin (1997). Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt am Main: Fischer.li
  • liElias, Norbert (1976). Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.li
  • liFuchs, Thomas (2008). Das Gehirn   – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer.li
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  • liHusserliana Bd. VI: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg. von W. Biemel 1954. Nach Shiau 2004, 132.li
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  • Wilke, Jürgen (Hrsg.) (1999). Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
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  • Zuerst veröffentlicht als:
  • Wenke, Matthias (2008). Medien und Bildungsprozesse.
  • Phänomenologische und systemtheoretische Ideen. http://www.sonderpaedagoge.de/hpo/2008/heilpaedagogik_online_0308.pdf

Folgende link zu  Artikeln bzw. den Komplettausgaben: "ADHS-Diagnose statt Verständnins"
http://www.sonderpaedagoge.de/hpo/2006/heilpaedagogik_online_0306.pdf

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling

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