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Marx wäre heute konservativ: Die heutigen Linken verraten die Ideen ihres Idols

Von Elena Louisa Lange, 23.04.2023  – übernommen von weltwoche.ch
30. April 2023
Wäre Karl Marx (1818 –1883) heute ein Marxist? Schon zu Lebzeiten wusste Marx auf diese Frage eine Antwort: Im Zuge der Aufstände der Pariser Kommune Anfang der 1870er Jahre sagte er über die revolutionären Marxisten: «Alles, was ich weiss, ist, dass ich kein Marxist bin!»


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Doch lohnt es sich, zu fragen, was Marx, ein Kämpfer gegen die preussische Zensur, heute von linker Cancel-Culture halten würde, was der Historiker Marx von der Geschichtsvergessenheit der Grünen hält oder was der Individualist Marx, dessen politische Kritik immer vom «Standpunkt des einzelnen, wirklichen Individuums» ausging, heute vom neuen Corona- oder Klimakollektivismus denken würde.

Bruch mit der Linken

Marx würde sich von dem, was heute unter dem Banner «linker Ideologie» läuft, kopfschüttelnd ab- und eher dem konservativen Lager zuwenden. Dort fände er geeignetere Mitstreiter für sein radikal-demokratisches Projekt: nicht nur beim Kampf für Meinungsfreiheit und gegen staatliche Übergriffigkeit, sondern auch bei der Parteinahme für die arbeitende Bevölkerung, gegen die spalterische Gender- und Identitätspolitik der Linken.

Marx war auch einer der Ersten, die mit ihrer Kritik der «Verdinglichung» die Methode der Machterhaltung von Technokraten erkannten und mit einer Grundsätzlichkeit kritisierten, auf die sich Demokraten heute beziehen sollten, wenn sie korporatistischen Plänen wie dem neuen WHO-Pandemievertrag oder den Enteignungsplänen des WEF etwas entgegensetzen wollen. Es gibt kaum ein gesellschaftspolitisches Thema, bei dem Marx sich nicht gegen linke Technokraten und grüne Kollektivisten stellen würde.

Indes gibt es Theorien darüber, wie die westliche Linke in Bezug auf Marx so auf den Hund kommen konnte. Das Ende der klassischen Arbeiterbewegung und der Beginn der Studentenbewegung der 1960er markieren den Bruch. War in der Arbeiterbewegung bis ins 20. Jahrhundert hinein die Forderung nach einem Ende der Ausbeutung von Arbeit massgeblich   – heute betont man, dass es sich dabei um «männliche» und «weisse» Arbeiter handelte, und unterstellt der Arbeiterbewegung oft «rassistische» Motive   –, wurden diese Ideale in der Studentenbewegung durch den Kampf gegen «Diskriminierung» und eine nicht näher spezifizierte «Unterdrückung» ersetzt.

Theoretiker wie der Philosoph Herbert Marcuse, ein Stichwortgeber der Studentenbewegung, aber auch stark an Marx orientierte Geistesgrössen wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer hielten von der «Emanzipation» der Arbeiter bereits nicht mehr so viel. Während Adorno und Horkheimer, durch die Erfahrung von Auschwitz geprägt, Klassenkampf durch jüdische Identitätspolitik ersetzten, sah Marcuse das «revolutionäre Subjekt» vielmehr in den «Verdammten dieser Erde» (Frantz Fanon): in der «Dritten Welt», in Frauen, Schwarzen, Homosexuellen.

In der Vorstellung Marcuses sollte diesen «Marginalisierten», in einer Quasi-Neuauflage des maoistischen Kulturkampfes, die historische Rolle zukommen, «die alten Zöpfe abzuschneiden» und der kulturellen Hegemonie bürgerlicher Vorstellungen von Glück   – eine weisse, «heteronormative» Familie, Farbfernseher, Auto, Eigenheim   – einen «neuen Menschen» entgegenzusetzen. Von der Emanzipation aller Menschen   – also der Befreiung von Menschen durch Herrschaft überhaupt   – war von da an keine Rede mehr. In der Vorstellung der neuen Linken würde erst dann Gerechtigkeit geschaffen, wenn «Marginalisierte» nun auch «dazugehören», einen Platz am Tisch der Macht ergattern können.

Ohne die Freiheit jedes Einzelnen kann es gemäss Marx so etwas wie «kollektive Freiheit» nicht geben.

Heute sehnt sich die Parole von «Diversity, Equity, Inclusion» nach nichts anderem als dem: die Neubesetzung von Herrschaft, nicht ihre Aufhebung. Bei aller Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise hätte Marx, der ein konservativ bescheidenes Familienleben führte, sich über die kulturrevolutionären Vorstellungen der Linken gewundert: Als politischer Denker betonte Marx stets die Errungenschaften des Kapitalismus gegenüber dem Feudalismus   – Produktivkräfte, die die Armut beseitigen könnten, die Schaffung des bürgerlichen Rechtssubjekts, Presse- und Meinungsfreiheit, freie Verfügung über Eigentum, formale Freiheit und Demokratie. Hinter diese Errungenschaften dürfe man nicht zurücktreten. Für ihn war vielmehr ökonomisch produzierte Armut das Problem, nicht «Diskriminierung»: Die Abschaffung der Diskriminierung hat noch niemanden satt gemacht.

Die Vorstellung einer Aufteilung der Menschen in «Unterdrücker» und «Unterdrückte», nach Hautfarbe, Geschlecht und sexuellen Präferenzen, und nicht nach ihrer Rolle im Gefüge der Macht steht im Widerspruch zu Marx’ ganzer politischer Philosophie. Dass man, anstatt das Leben aller verbessern zu wollen, den «weissen, heterosexuellen» Mann zum Feindbild erklärt, und sei er nur ein Fabrikarbeiter, wäre für Marx Anzeichen einer fundamentalen politischen Degeneration. Es ist aber kein Zufall, dass heute Menschen an den Hebeln der Macht sitzen, die genau diese Degeneration verkörpern: eine grün-professionelle Wohlstandsklasse, die Marx dem «kleinbürgerlichen Sozialismus» zugerechnet und vehement bekämpft hatte.

Machtkult der Technokraten

Was liegt dieser neuen staatlichen Elite näher, als der Bevölkerung auch noch das zu nehmen, was sie unabhängig gegenüber dem Staat macht   – Eigentum und das unveräusserliche Naturrecht der Freiheit? Die Corona- und die Klimadebatte liefern hierzu den vollkommenen Vorwand und hätten Marx den ausschlaggebenden Grund geliefert, sich gegen die herrschenden Linken und auf der Seite der ins Abseits gedrängten Konservativen und Liberalen zu positionieren.

Schon ein oberflächlicher Blick auf die Themen Covid und Klima zeigt, dass diesen Begriffen etwas Unantastbares anhaftet: «Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!», lautet die neue «Alltagsreligion» von Klima und Corona, die, mit Marx gesprochen, heute durchaus als «Opium für das Volk» gelten kann. Mit dieser verabsolutierenden Vorstellung lässt sich Gefolgschaft erwirken   – schliesslich gehe es um das «nackte Überleben». Der zynische und erpresserische Blick auf Menschen, die sich mit dem Verweis auf die «Rettung des Lebens» (was gibt es Edleres?) kontrollieren lassen, weil es angeblich «keine Alternative» zur Gesundheitsdiktatur gebe, bildete die ideologische Basis des Corona-Regimes. Marx nannte ein solches Vorgehen «Verdinglichung»: Etwas gesellschaftlich zu Verhandelndes, wie etwa die Frage nach dem Umgang mit einem potenziell tödlichen Virus, wird kurzerhand zu etwas «Naturgegebenem» umgedeutet, das angeblich nur eine autoritäre Politik der «Sachzwänge» zulässt.

Erinnern wir uns an die Worte eines deutschen grünen Ministerpräsidenten: «Der Druck [auf Ungeimpfte] kommt vom Virus, nicht von uns [Politikern].» Polizeischlagstöcke auf ältere Menschen und Kinder wurden auf den «Sachzwang» des Virus geschoben, politische Entscheidungsträger jeder Verantwortung für gröbste Rechtsbrüche enthoben.

Wie effizient diese Umdeutung eines auf politischen Entscheidungen beruhenden Phänomens zur «Naturgewalt» ist, zeigt sich am ungeheuren Machtzuwachs technokratischer Eliteverbände wie des WEF und der WHO. Die Auslöschung der individuellen Freiheit durch ein «Impfkollektiv», die Untergrabung der staatlichen Souveränität sowie eine dem Klimagötzen darzubringende kollektive Enteignung   – diese Verdinglichung von Politik zum Zweck der Machtkonsolidierung einer elitären Klasse hätte Marx erschaudern lassen. «Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken», heisst es in der «Deutschen Ideologie». Macht braucht Legitimation, und was gibt es Besseres, als eine totalitäre Ideologie als im Interesse aller auszugeben. Das gilt speziell für die Klima- und die Covid-Ideologie. Flankiert wird sie von einer um sich greifenden Cancel-Culture. Diese wird konsequenterweise als «Schutz vulnerabler Gruppen» ausgegeben, während bestehende Machtverhältnisse das Einzige sind, das durch Zensur geschützt wird.

Abschaffung der freien Meinung

Marx’ Vorstellung von Freiheit ging immer vom Individuum aus   – ohne die Freiheit jedes Einzelnen kann es so etwas wie «kollektive Freiheit» nicht geben. Für Marx beruht die ideale Gesellschaft auf einer «Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist». Während Corona brachten nur konservativ-liberale Kräfte die individuelle Freiheit als politisches Anliegen überhaupt erst auf den Tisch. Marx, der Radikalindividualist, hätte sich klar gegen den totalitaristischen Kollektivismus positioniert.

Neben der Abschaffung von Gesellschaftlichkeit und freier Meinung braucht es für das Gelingen eines neuen, links-technokratischen Autoritarismus die Ausschaltung der Geschichtlichkeit. Der Kult des Kollektivismus folgt daher einer ahistorischen Nullpunkt-Logik, in der die Gesellschaft ständig zu einer Verhandlungsmasse erklärt wird, die jederzeit neu bestimmt und notfalls sogar zerstört werden kann. Dies ist Teil eines grösseren Trends, bei dem globale Eliten die Bevölkerung um ihr intellektuelles, kulturelles, politisches und historisches Erbe bringen, um selbstbestimmtes Handeln zu delegitimieren. Wie der konservative Linguist Michael Esders herausstellt, ist erst «das bindungs- und geschichtslose Subjekt ein dankbares Objekt soziometrischer Erfassung, Steuerung und Kontrolle». Diese Diagnose würde Marx heute teilen, mehr noch: Für den Historiker Marx wäre eine kollektive Geschichtsvergessenheit Zeichen einer beispiellosen Gegenaufklärung. Marx, der wegen staatlicher Verfolgung 1849 aus Deutschland fliehen musste, wäre heute ein ähnliches Schicksal bestimmt. Nur wären heute nicht die Konservativen, sondern die Linken seine Verfolger.

Elena Louisa Lange ist Philosophin und Buchautorin. Zuletzt von ihr erschienen: «The Conformist Rebellion: Marxist Critiques of the Contemporary Left» (Rowman and Littlefield, 2022).
Quelle: https://weltwoche.ch/daily/marx-waere-heute-konservativ-die-heutigen-linken-verraten-die-ideen-ihres-idols/
Mit freundlicher Genehmigung von Weltwoche.ch


Elena Lange

Elena Louisa Lange, geb. 1976 in Hamburg, Studium der Philosophie und Japanologie in Hamburg, Fukui/Japan und Zürich. In Zürich 2011 Promotion mit einer Arbeit zu Nishida Kitarō. Seit April 2013 Post doc-Stipendiatin des Schweizer Nationalfonds und wissenschaftliche Mitarbeiterin mit einem Projekt zu Uno Kōzō im Licht der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Forschungsinteressen: Geistesgeschichte Japans, insbesondere die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Marxschen Ökonomiekritik, sowie Kritische Theorie in Japan und Europa, Kant und Deutscher Idealismus, neuere politische Philosophie (Zizek, Badiou, Ranciére) und Nationalismusdiskurse in Deutschland und Japan.

Zum Buch

Abstrakt (deeple übersetzt)

"Dies ist ein äußerst gut konzipiertes und ausgeführtes Buch. Die vorherrschende radikale Theorie von heute hat sich sehr weit von der traditionellen Beschäftigung mit Klasse und Ausbeutung entfernt, die in einem interessenbasierten Rahmen verwurzelt ist. Stattdessen hat sie sich Konzepte wie Marginalität, Ausgrenzung, Andersartigkeit usw. zu eigen gemacht. Diese Sammlung reiht sich ein in einen kleinen, aber bedeutenden Strom von Arbeiten, die in den letzten zehn Jahren veröffentlicht wurden und die sich gegen diesen falschen Radikalismus wenden."-Vivek Chibber, New York University "Dieses Buch hat viele Stärken - Breite, Tiefe, Bandbreite der Autoren sowie ein kohärentes intellektuelles Rückgrat. Es wäre ein hervorragendes Lehrbuch, das sowohl als Pflichtlektüre als auch als vorgeschlagene Lektüre für verschiedene Kurse in Soziologie/Sozialtheorie/Kulturtheorie/Politische Geschichte/Politische Theorie/Kritische Theorie geeignet wäre."-Philip Cunliffe, University of Kent Mit dem Aufkommen unzähliger Formen von Identitätspolitik, die einer neuen "Dreifaltigkeitsformel" der linken Analyse des Kapitalismus (Klasse, Rasse und Geschlecht) entspricht, haben die wichtigsten Strömungen der zeitgenössischen radikalen Linken in den letzten Jahrzehnten ihr Ziel verschoben. Dieses Buch befasst sich mit den ideologischen, theoretischen und praktischen Dilemmata der zeitgenössischen akademischen und aktivistischen Linken von einem marxistischen Standpunkt aus. Die Kapitel befassen sich mit zeitgenössischen Entwicklungen im linken Denken und in der linken Ideologie und stellen sie in einen sozialen und historischen Kontext. Sie bieten eine theoretische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Arten, wie die Linke dazu tendiert hat, sich der neoliberalen Ideologie anzupassen, anstatt sich ihr grundlegend entgegenzustellen. Der Kontrast zwischen dem Marxschen Emanzipationsprojekt und dem, was die fortschrittliche Linke daraus gemacht hat, war noch nie so krass wie heute, einer Zeit, in der das Kapital nicht mehr vor einer politischen Barriere zu stehen scheint. Es ist diese Zwangslage, die The Conformist Rebellion: Marxist Critiques of the Contemporary Left (Marxistische Kritik der zeitgenössischen Linken) einen neuen Ansatz für die Emanzipation vom Kapital bewertet.

Quelle: https://www.researchgate.net/publication/359982553_The_Conformist_Rebellion_-_Marxist_Critiques_of_the_Contemporary_Left

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