Lehrplan 21 und Vergleichs-„CHECKS“ im Gymnasium – zwei PISA-Abkömmlinge mit üblen Folgen
Lehrplan 21 und Vergleichs-„CHECKS“ im Gymnasium – zwei PISA-Abkömmlinge mit üblen Folgen
Es geht bei beidem um die nicht unerhebliche Entscheidung: Test-„Kultur“ und Qualitätsmanagement à la OECD oder pädagogische Verantwortung einer engagierten Lehrerschaft für echte Persönlichkeitsbildung
Dr. phil. Beat Kissling, Kantonsschullehrer und Erziehungswissenschaftler (SZ), Zürich, 08.11.2013
Wie hängt die Uniformierung der Volkschullehrpläne in Form des Lehrplan 21 mit der flächendeckenden Einführung von Vergleichsprüfungen an den Gymnasien zusammen?
Interessanterweise wird diese Frage kaum gestellt, obwohl es schwer ist, auszublenden, dass beide „Reformen“ für das Bildungsverständnis in der Schweiz einen offensichtlichen Paradigmenwechsel beinhalten, indem für beide Stufen des öffentlichen Schulwesens das US-System zum massgeblichen Referenzmodell geworden ist – topdown verordnet von der OECD.[1] Dieses baut auf einem umfassenden, betriebswirtschaftlich orientierten Kontrollsystem auf, dessen ‚Leuchttürme’ die Methoden des Evaluierens, Testens und ‚Rankens’ sind und die deshalb einer „Kompetenzorientierung“ bedürfen; der Zwillingsbegriff dazu ist die „Output-Orientierung“. Schule wird dabei im Sinne des behaviouristischen Reduktionismus als Blackbox (Reiz-Reaktions-System) behandelt, deren geistiges Innenleben kaum eine Rolle spielt.
Die Bedeutung guten „Inputs“ – das sind die Lehrerpersönlichkeiten mit profiliertem pädagogisch-didaktischem Wissen und Erfahrung – verschwindet immer mehr. Es braucht bald keine qualifizierten Lehrpersonen mehr, nur noch Testexperten.
Seit dem PISA-Schock, der Europa im Jahre 2000 erschüttert hat, gelten Vergleichstests als Referenzmethode für die Optimierung von Bildung – unhinterfragt, nie öffentlich diskutiert, sondern gleichsam als Naturgesetz etabliert, ähnlich wie das BOLOGNA-System auf der Tertiärstufe. Seither geistert die „Kompetenzorientierung“ als angeblicher Fortschritt durchs Land, ohne dass allerdings offen gesagt wird, dass hier etwas ganz anderes gemeint ist, als wir Europäer glauben.
Als Kompetenzen gelten im europäischen Verständnis traditionell Fähigkeiten, die im allgemeinen auf komplexen geistigen und schöpferischen Elementen aufbauen. Im Unterschied dazu sind Kompetenzen in Verbindung mit den Vergleichsprüfungen einfache „Könnens-Formulierungen“, die sich in Messbares, also in Testfragen ummünzen lassen. Man sehe sich nur einmal die „Kompetenzraster“ an – sie werden schon herumgereicht – , an denen sich die Schüler zukünftig abarbeiten sollen, um höhere Testniveaus zu erreichen; wir Lehrer coachen und animieren sie dabei, aber wir unterrichten eigentlich nicht mehr (siehe neue Lehrerrolle). Mit dem Lehrplan 21 und Vergleichstests sind wir zunehmend vom selbstständigen Nachdenken und von Entscheidungen bei der Wahl der Inhalte, der Texte, Werke, Themen, Aufgaben etc. „entlastet“, ebenso von der Hinführung, Begeisterung und Motivierung der Schüler für wertvolle Kulturleistungen; und schliesslich auch davon, die Schüler „dort abzuholen, wo sie stehen“, oder etwas für ihre soziale Entwicklung zu tun.
Für alles sorgt die Bildungsverwaltung vor, und zwar mit kompetenzorientierten Lehrmitteln, Vorlagen für Kompetenzraster für neue Lehrpläne, Testbatterien auf Internetplattformen, Weiterbildungen im Erstellen von „Kompetenzen“ usw. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu realisieren, dass damit die Lehr- und Methodenfreiheit sowie die Lehrmittelfreiheit – zentrale Güter des demokratischen Bildungsverständnisses – zu Grabe getragen werden.
Pädagogik („Input“) ist in diesem System obsolet, da einzig optimale Testergebnisse und ein guter Rankingplatz relevant sind und alle „Qualitätsverbesserungen“ durch das Belohnungs- und Bestrafungssystem der Tests und der Rankingplätze hervorgebracht werden (systembedingte Selbstregulierung). Wettbewerb und Konkurrenz auf dem „Bildungsmarkt“ sind die neuen Motivatoren für Lehrer, Schüler und Schulen – ganz im Sinne des Homo oeconomicus. Roland Reichenbach, Professor für Pädagogik an der Universität Zürich, spricht von „Bürokratisierung des Bildungswesens“, von einer „Vereinseitigung der Bildung“ und einer „De-Professionalisierung der Lehrerbildung“, die damit einhergeht; Professor Lutz Koch, Erziehungswissenschaftler der Universität Bayreuth, seinerseits von einer mit der „Kompetenz“-Formel erreichten Reduzierung der Schülerpersönlichkeit auf funktionale Eindimensionalität, da wesentliche Eigenschaften und Bedürfnisse der jungen Menschen beim Lernen sowie seine sozialen, emotionalen und moralischen Fähigkeiten kaum mehr in Betracht gezogen werden.
Alles Übertreibungen? Schwarzmalerei? Verschwörungstheorien? Unsere deutschen Kollegen, die schon etwas weiter in die verordnete Zukunft schreiten mussten, können ein Lied davon singen, zumal in verschiedenen Bundesländern Einheitsabiture Norm geworden sind und das allgemeine Bildungsniveau sinkt, während zugleich immer mehr Studenten an die Universitäten drängen.
Nicht umsonst haben neben den erwähnten Professoren Reichenbach und Lutz fast 100 weitere Hochschullehrer im deutschsprachigen Europa die „Gesellschaft Bildung und Wissen“ gegründet und setzen alles daran, dieser Banalisierung und Entpersonalisierung der Bildung entschlossen entgegenzuwirken. Entscheidend ist aber letztlich, inwieweit die Lehrerinnen und Lehrer das Zepter selbst in die Hand nehmen, statt die nächsten Top-down-Verordnungen abzuwarten.
Das neu aus Verwaltungskreisen kursierende Argument für Tests (Checks) – die Gesellschaft fordere heute mehr „Transparenz“- ist teils eine Erfindung bzw. ein künstlich geschaffenes „Bedürfnis“, teils – sofern es tatsächlich aus der Bevölkerung kommt – Ausdruck der Verunsicherung aufgrund der perseverierenden Reformitis der letzten Jahre. Die PISA-Hysterie und das für das Gymnasium durchgeführte ETH-Ranking haben gezielt für Unruhe gesorgt, um die Argumentationsgrundlage für Checks und (spätere) Rankings zu liefern.
Ein anderes, irreführendes Argument, nämlich, nur mit Tests lasse sich die Güte von Unterricht objektivieren, zeugt von bescheidenen Kenntnissen der Gültigkeitskriterien empirischer Forschung ebenso wie die Vorstellung, literarische oder künstlerische Werke, komplexe psychologische oder pädagogische Entwicklungen bzw. Phänomene liessen sich mit empirischen Methoden in Daten umsetzen. Stattdessen lassen sich Testergebnisse im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften, welche naturgemäss auf einem extremen Reduktionismus basieren, sehr leicht manipulieren, insbesondere bei der Interpretation der Testdaten.
Vorschlag
Wir Mittelschullehrerinnen und Mittelschullehrer sollten den Kollegien in der Volksschule bei der kritischen Debatte um den Lehrplan 21, die angesichts ihrer schwerwiegenden Auswirkungen erst bescheiden angelaufen ist, zu Hilfe eilen und für unseren jeweiligen Fachbereich die entsprechenden Teile gründlich unter die Lupe nehmen.
Schon die monströse Anlage dieses Machwerks ist eine Zumutung, zumal jedermann im Schulwesen weiss, dass das Relevante eines Lehrplans eigentlich auf 30-40 Seiten Platz haben könnte und müsste. Aber der Lehrplan 21 soll ja sichtlich gerade kein Gegenstand demokratischer Transparenz und öffentlicher Diskussion sein, sondern ein Verwaltungs-„Steuerungsinstrument“ zur Stabilisierung der US-mentorierten OECD-Agenda, die, wie ihre Promotoren feststellen, in letzter Zeit erfreulich wirksam auch in der ‚schwierigen Schweiz‘ eingeschlagen hat[2] .
- vgl. Roman Langer: Warum haben die PISA gemacht? Ein Bericht über einen emergenten Effekt internationaler politischer Auseinandersetzungen. In: Roman Langer (Hrsg.): „’Warum tun die das?’ Governanceanalysen zum Steuerungshandeln in der Schulentwicklung“, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2008
- Bieber, Tonia/Martens, Kerstin (2011): The OECD PISA Study as a Soft Power in Education? Lessons from Switzerland and the US. In: European Journal of Education 46 (1), 101-116
Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling
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