Lehrplan 21: Aufstand gegen die Bildungsbürokraten

08. Dezember 2013

Lehrplan 21: Aufstand gegen die Bildungsbürokraten

Der Lehrplan 21 ist ein Machwerk, das Kleinkinder nötigen will, über «Machtmissbrauch» zu diskutieren. Der «grosse Wurf» droht zum Kostentreiber zu werden.

von Alain Pichard

«Die Schülerinnen und Schüler können über Macht, Machtbegrenzung und ­Machtmissbrauch nachdenken (Prinzip der Machtbegrenzung).»

Kompetenzziel aus dem Lehrplan 21 für 4- bis 8-Jährige, NMG 10.5.

Wir haben es derzeit lustig in unserem Kollegium.

Seit wir uns in Fachgruppen mit dem Lehrplan 21 auseinandersetzen, ist Stimmung angesagt. Kein Tag vergeht, ohne dass ein Kollege oder eine Kollegin uns einen Satz aus den 557 Seiten zitiert. Die Reaktion ist meistens dieselbe, es wird viel gelacht, Köpfe werden ­geschüttelt, Schenkel geklopft.

Einer hatte sogar die Idee, eine interne Hitparade der zehn «besten» Kompetenzziele zu erstellen und sie am Jahresschlussessen mit den Behörden einfach vorzulesen. Es wäre eine Realsatire vom Feinsten.

Heute ist vielen das Lachen vergangen. Um 4,5 Millionen Franken zu sparen, hat der Berner Grossrat kürzlich beschlossen, die Zahl der Schulklassen im Kanton zu reduzieren. Ein nachvollziehbarer Entscheid, denn es gibt tatsächlich zu viele Klassen. Führt man sich allerdings vor Augen, dass der «Lehrplan-Unfug»   – so drückte es eine Kollegin im Lehrerzimmer aus   – sechs Millionen Franken gekostet hat, wirkt die Sparübung reichlich absurd.

Und die sechs Millionen sind längst nicht alles: 22 Tage Schulung für alle Lehr­kräfte, so erklärte uns der Schulleiter, seien wegen des Lehrplans vorgesehen! Ein anderer Lehrer fügte hinzu, dass die Einführung von Frühfranzösisch allein den Kanton Bern 60 Millionen kosten werde.

So reifte in einigen Lehrerzimmern der Entschluss, die bildungsbürokratische Wunschprosa und deren Urheber zu bekämpfen. 557 Lehrer aus der ganzen Schweiz haben sich inzwischen unter dem Motto «Praxis statt Bürokratie» zusammengeschlossen, um zu protestieren: gegen 557 Seiten Lehrplan-Praxisferne, ein monströses Regelwerk, apodiktische Kompetenzorientierung und vor allem gegen den anhaltenden Ressourcenklau.

«Es kann sein, dass der Lehrplan etwas zu engmaschig ist!»

Der oberste Bildungschef des Kantons Bern, Bernhard Pulver (Grüne), meinte auf die Ankündigung dieses Protestes: «Es kann sein, dass der Lehrplan etwas zu engmaschig ist!» Diesen wunderbaren Satz muss man sich angesichts der im Lehrplan aufgeführten 4753 Teilkompetenzen einmal auf der Zunge zer­gehen lassen. Entweder hat Herr Pulver das Wesen dieses Werks noch nicht begriffen, oder aber er weiss, worum es geht. Dann ist seine Aussage Teil seiner Durchsetzungsstrategie und er ein gerissener Politiker.

Seine Durchlaucht Beat Zemp, Präsident des Schweizerischen Lehrerverbandes

Ähnlich argumentiert auch Seine Durchlaucht Beat Zemp, Präsident des Schweizerischen Lehrerverbandes, der die fundamentale Kritik «seiner Basis» gar nicht schön findet. Das eingangs zitierte Lernziel, über Machtmissbrauch und Machtbegrenzung nachdenken zu können, mag für Kindergärtler etwas hochgegriffen sein. Aber den bernischen Lehrkräften ist diese Kompetenz in den letzten zwölf Jahren nachhaltig eingeimpft worden, dank neun Sparpaketen und vier monumental gescheiterten Bildungsgrossreformen.

Das Schweizer Schulsystem gehört zu den besten der Welt

Viele Lehrkräfte haben nie richtig eingesehen, weshalb ein Schulsystem, das ­immer noch zu den besten der Welt gehört, eine in Europa einmalige Integrationsleistung erbringt, an Lehrlingsweltmeisterschaften Goldmedaillen abräumt, die meisten Nobelpreisträger pro Kopf hervorbringt und dem Land eine rekordtiefe Jugendarbeitslosigkeit beschert, plötzlich so reformbedürftig sein soll. Genau das aber trichterten uns die Bildungspolitiker, Experten und Funktionäre der Lehrerverbände ein. Harmos, das Projekt zur Vereinheitlichung des föderalistischen Bildungssystems, sollte Abhilfe leisten. Das Paket beinhaltete frühere Einschulung, vereinheitlichte Strukturen, Ganztagesschulen, Standardisierung, Fremdsprachen ab Primarstufe und eben auch den Lehrplan 21. Viele meiner Kollegen stimmten zu und reiben sich heute die Augen.

Finnen haben es auf 175 Seiten geschafft

Am 30. Mai 2011 hiess es noch in einer Erklärung des Eidgenössischen Departements des Innern und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK): «Bund und Kantone verständigen sich auf wenige konkrete und überprüfbare Ziele für das laufende Jahrzehnt. Diese Ziele stützen sich auf die in der Verfassung verankerten Eckpfeiler der Qualität und der Durchlässigkeit.» Aber Bildungsbürokraten neigen dazu, immer wieder dieselben Fehler zu machen. Ohne eine rigide Projektplanung verkommt ein Prozess, wie ihn die Entwicklung des Lehrplans darstellt, zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Nach dem Motto «Wer hat noch nicht, wer will noch mehr?» wird nach Belieben draufgepflastert, bis ein «Rahmenlehrplan» mit 4753 Kompetenzvorgaben herauskommt. Der finnische Lehrplan hat, nebenbei gesagt, nur 175 Seiten, und die Schüler sind gewiss nicht schlechter.

Viele Menschen in der Schweiz sind immer noch der Auffassung, dass eine Harmonisierung des Schulsystems gut sei. Die Annahme, dass ein Kind bei einem Umzug in einen anderen Kanton genau am gleichen Ort weiter­fahren könne, ist aber kaum realisierbar. Und wenn, dann nur mit standardisiertem Unterricht, gleichen Stundentafeln, gleichen Lehrmitteln, gleichen Fächerdotationen und ohne spontane Einfälle. In einer solchen Schule möchte ich weder Lehrer noch Schüler sein.

Wenn es überhaupt Anschlussprobleme gibt, dann bei den Fremdsprachen. Aber ge­rade hier leistet sich die Bildungslandschaft Schweiz einen der grössten Seldwyla-Scherze: In der Ostschweiz wird mit Frühenglisch, in den westlichen Kantonen mit Frühfranzösisch begonnen. Das kommt sogar einem Rückschritt gleich, denn vor Harmos gab’s fast überall nur Französisch ab der 5. Klasse. Der Anspruch, einen Lehrplan zu kreieren, der das Bedürfnis nach Harmonisierung abdecken soll, Fremdsprachenfragen, Stundentafeln und Fächerzuteilungen aber den Kantonen überlässt, kommt dem Waschen eines Pelzes, ohne ihn nass zu machen, gleich.

Landaus, landein wird der grosse «Bildungsabbau» aus Spargründen beklagt. Auf den ersten Blick mag das ja zutreffen. Schulen schicken ihre Schüler frühzeitig in die Ferien, Klassen werden geschlossen, Arbeitszeiten verlängert. Ein Blick in die kantonalen und kommunalen Bildungsbudgets zeigt allerdings ein anderes Bild: Die Bildungsausgaben wachsen, und zwar fast unkontrolliert. Wie geht das zusammen?

Grosse Würfe, mit Visionen und Bildungs­prosa verbunden, lösen Folgekosten aus, über die sich weder Urheber noch Stimmbürger im Klaren sind. Die Ganztagesschulen sind beschlossen worden, die Ausführungsbestimmungen verlangen Betreuung und bauliche Massnahmen. Das Ergebnis: massive Mehrkosten. Das neue Lehrmittel Frühfranzösisch sieht auf der Mittelstufe den Grosseinsatz des Computers vor (wie seinerzeit die teuren Sprachlabors). Die Gemeinden haben aber kaum noch Geld, um den Computer-Standard an der Oberstufe zu halten, der heute allein in der Stadt Biel jährlich 200000 Franken kostet.

Die frühere Einschulung der Kinder wird zur Folge haben, dass in der 8.Klasse 13- und 14-Jährige Bewerbungsbriefe schreiben müssen. Bereits heute werden uns aber 16-Jährige in die Schule zurückgeschickt, weil sie nach Ansicht der Lehrmeister zu jung sind! Folge: Wir werden die offizielle Schulzeit verlängern müssen, obwohl eigentlich geplant war, das 10.Schuljahr abzubauen. Der Integrationsartikel   – er schreibt vor, dass schwierige und behinderte Schüler in Regelklassen unterrichtet werden müssen   – löste einen riesigen Therapieboom aus, der nun auf die Budgets drückt.

2010 berechnete der PH-Dozent Jürg Frick, dass in Zürich die Zahl der Schüler und Lehrer um 15Prozent zugenommen hätte, diejenige der Bildungsbürokraten um 350Prozent. Diese frivole Stellenvermehrung führt zu einer nie gekannten Mengenausweitung.

Der Lehrplan 21 wird ebenfalls unkalkulierbare Folgekosten auslösen. Neuerdings soll er sogar überarbeitet werden. Gar nicht zu reden von all den geplanten Fortbildungsveranstaltungen, die er mit sich bringen wird. Schlichtweg grauenhaft ist die mit dem modernen Wort «kompetenzorientiert» geadelte pädagogische Ausrichtung dieses Machwerks. Die Kompetenzdefinitionen strotzen vor Aufgeblasenheit und Geschwätzigkeit, wobei die Kinder über Dinge «reflektieren» sollen, ohne dass ihnen das dazu nötige Wissen beigebracht wird (WeltwocheNr. 27/13). Denn das Wissen, so die Begründung, finde sich ja im Internet.

Die Zeit des Auswendiglernens sei vorbei, jubilierte Regierungsrat Christian Amsler (FDP), Schaffhauser Erziehungsdirektor und Präsident der Deutschschweizer EDK. Wer ihm diesen albernen Spruch eingeflösst hat, bleibt sein Geheimnis, aber die Masche ist immer dieselbe: Diffamierung des Alten und Lobhudelei bezüglich des Neuen, Grossen!

«Ich habe mich geirrt»

Vermutlich haben die Lehrplanmacher und ihr Galasprecher Amsler auch die neuste Entwicklung in jenen Ländern, die Kompetenz­orientierung, Konstruktivismus, Bildungsmonitoring und Standardisierung über Jahre hinweg praktiziert haben, noch nicht mitbekommen. Die grosse amerikanische Bildungsexpertin Diane Ravitch, einstige Propagan­distin der Kompetenzorientierung, meinte kürzlich: «Ich habe mich geirrt.» Der Bildungsminister des Staates Massachusetts erklärte: «Wir geben viel zu viel Geld für die Standards aus. Geld, das eigentlich in die Schulen fliessen müsste.» Die USA nehmen langsam, aber sicher Abschied von einem Unterricht, der unser humanistisch geprägtes Bildungssystem auf das Niveau einer Kühlerhaubenproduktion reduzieren will.

Für die Macher des Lehrplan 21 kommen düstere Zeiten. Es ist nicht mehr die leicht zu isolierende SVP, welche gegen eine ausser Rand und Band geratene Bildungsbürokratie bellt. Es sind anerkannte Bildungsforscher, Wirtschaftsleute und jetzt auch noch Teile der Lehrerschaft, die dieses Vorhaben versenken wollen. Das Memorandum 550 gegen 550 ­wurde von sozialdemokratisch orientierten Lehrern massgeblich mitgeprägt. Die Linke, die bei Harmos noch das Zusammengehen mit der SVP scheute, hat gemerkt, dass es hier um viel mehr geht als um die frühe Einschulung.

Christian Amsler wirkt verunsichert. Er kündigt an, nochmals über die Bücher gehen zu wollen. Ganz nach dem Motto der Bildungsbürokratie: «Wenn etwas nicht funktioniert, versuchen wir was Neues, vielleicht geht es dann auch nicht.» Das Geld für diesen Leerlauf fliesst ja, es wird derzeit in zahlreichen Sparpaketen herausgepresst.

Quelle:
Die Weltwoche|Donnerstag, 5. Dezember 2013

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling