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Lebensplan 21

13. Dezember 2013

Lebensplan 21

von René Machu, FACH (Forum Allgemeinbildung Schweiz)

In ein paar Jahren werden die ersten Schüler zu uns kommen, die den Lehrplan 21 durchlaufen haben. Was in der Volksschule geschieht, betrifft uns sehr direkt, wie auch die durchwachsenen Erfahrungen mit Frühenglisch und Französisch zeigen.Der Lehrplan 21 ist ein ehrgeiziges Projekt, das auf über 500 Seiten detailliert auflistet, welche „Kompetenzen“ die Schüler erarbeiten sollen.

Zum Kompetenzbegriff haben wir von FACH (Forum Allgemeinbildung Schweiz) uns schon ausführlich in einer Ausgabe des Gymnasium Helveticum geäussert. Sie finden die Texte auf www.forum-allgemeinbildung.ch

Ich fasse mich hier also kurz: Es gibt keine Kompetenzen. Der Versuch, den Menschen als Bündel von Einzelfähigkeiten, als fleischgewordenes Anwendungswissen, erschöpfend zu beschreiben und zu bewerten führt ins Uferlose   – oder zu 500 Seiten Lehrplan. Solche Autopsien führt man für gewöhnlich nur an Toten durch. Besonders problematisch wird es da, wo das Verhalten der Schüler akribisch in Sozialkompetenzen zerlegt wird. Das ist kein Feedback von Mensch zu Mensch mehr, sondern ein Ausrichten der Schüler an einem standardisierten Verhaltenskodex.

Das führt uns zum eigentlichen Knackpunkt. Der Lehrplan 21 ist ein ideologisches Machwerk, das nicht aufzeigt, was Schüler wissen müssen, sondern ein bestimmtes Denken vorschreibt und ein bestimmtes Verhalten anstrebt. Zahlreiche Alltags- und Gegenwartsfragen sind sehr klar herausgearbeitet. Das kann man natürlich auch gut finden. Wir wollen sicher keine weltfremde Schule, die sich vor den brennenden Fragen unserer Zeit drückt. Problematisch wird es da, wo eine bestimmte Sicht der Dinge in einem Lehrplan implizit oder explizit verankert ist. Genau dies ist im Lehrplan 21 der Fall. Um nur zwei Beispiele herauszugreifen. „Nachhaltigkeit“ ist ein oft wiederkehrendes Thema, das durch den Gebrauch des Wortes selbst oder durch die Setzung von Schwerpunkten in Form von Kompetenzen den Lehrplan prägt. Das erinnert an die berühmte Nudge-Theorie von Verhaltensökonomen wie Kahneman oder Sunstein. Man „stubst“ die Schüler an, macht sie geneigt, in einer bestimmten Weise zu denken, bestimmte politische Werte zu entwickeln und sich entsprechend zu verhalten. Das gleiche passiert durch die suggestiven Formulierungen der Kompetenzen im Bezug auf Geschlechterrollen. Der Lehrplan ist stark durch die Gender-Theorie beeinflusst.

Es geht mir nicht darum, ob die Gender-Theoretiker recht haben oder ob „Nachhaltigkeit“ als Zukunftskonzept überzeugend ist. Es geht darum, dass in einem Lehrplan eine Weltanschauung verankert wird, die derzeit vielleicht zahlreiche Anhänger hat und im Trend ist, die aber deswegen keine absolute Gültigkeit für sich beanspruchen kann. Es gibt Segmente unserer Bevölkerung, die andere Werte pflegen oder vielleicht nur teilweise mit den Setzungen des Lehrplans einverstanden sind.

So etwas wie politisch wertfreien Unterricht gibt es nicht. Es ist allerdings etwas anderes, wenn Lehrer Grünenberg, ein engagierter Umweltschützer, seinen Enthusiasmus für erneuerbare Energien in den Biologieunterricht einfliessen lässt. Denn Frau Kern, die Physikerin, glaubt glühend an die Segnungen des technischen Fortschritts und macht gern Exkurse in ihre Zeit als Mitarbeiterin bei der NAGRA. Bei Frau Unruh, der Geschichtslehrerin, weiss man hingegen nie im Voraus, was sie zu einem Thema denkt. Sie ist unberechenbar. Alle drei sind geschätzte Lehrkräfte, die die Inhalte ihres Faches auf der Basis eines wissensbasierten Lehrplans erfolgreich vermitteln.

Was wir hier haben ist Pluralität. Die Schüler werden mit verschiedenen Auffassungen konfrontiert. Eine gewisse Färbung des Unterrichts ist unvermeidbar und sogar wünschbar. Das macht Lehrpersonen greifbar; sie werden zu Menschen, die für etwas stehen. Wichtig ist, dass die Meinungen der Schüler respektiert werden. Auf diese Weise lernen die Schüler, sich selbst zu orientieren. Sie finden sich in Abgrenzung und Identifikation als denkendes Individuum.

Hier haben wir jedoch eine Lehrplan-Ideologie, die alle Lehrpersonen und Schüler im Sinne der Nudge-Theorie geneigt macht, Themen die dem gegenwärtigen, politischen Diskurs entstammen, einer bestimmten Betrachtungsweise zu unterziehen. Dies setzt gewisse Lehrpersonen, die die Dinge anders sehen, ins Unrecht. Man unterläuft beständig den herrschenden Lehrplan. Die Schule, in der Herr Grünenberg, Frau Kern und Frau Unruh arbeiten, erlaubt den Schülern eine Innenorientierung zu entwickeln, während der ideologische Lehrplan 21 eine Aussenorientierung vorschreibt oder insinuiert.

Was tun? Der Lehrplan 21 muss vollkommen überarbeitet werden. Man muss sich von der technokratischen Kompetenzhuberei verabschieden. Der Kompetenzbegriff hat seinen Zenit längst überschritten. Der Lehrplan 21 ist veraltet, bevor er eingeführt wird.

Man muss wegkommen von Fächerblasen wie „Natur, Mensch und Gesellschaft“ und den jeweiligen Unterkategorien. Unterrichten wir stattdessen die klassischen Schulfächer, die auf eine lange akademische Tradition zurückblicken. Biologie, Geographie, Geschichte, Physik, Chemie. Diese Wissensdisziplinen sind so wertfrei wie möglich, denn sie vermitteln fundierte Grundlagen, aufgrund derer eine vertiefte Meinungsbildung erst möglich ist. Wissenschaft dient der Wahrheitssuche und der Entdeckung übergeordneter Prinzipien. Sie ist ergebnissoffen. Sie schreibt dem Experiment nicht vor, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden sollen. Der Lehrplan 21 predigt hingegen eine Weltanschauung, der die schwammigen Fächerblasen zudienen. Der Unterricht ist vom vorweggenommenen Ergebnis her gedacht. Wenn man zudem hört, dass der neue Lehrplan von vielen Praktikern als überladen und viel zu anspruchsvoll bezeichnet wird, kann man davon ausgehen, dass statt der angestrebten Kompetenzen letztlich nichts als Parolen bei den Schülern ankommen.

Die Lehrpersonen können den Lehrplan ja sehr offen auslegen, dürfte man meinen. Wenn da nur nicht die Sache mit den auf den Lehrplan zugeschnittenen, kompetenzorientierten Lehrmitteln wäre, die „geneigt machen“, den Unterricht genau auf gewisse Themenkreise auszurichten. Manchmal muss man als Gesellschaft Lehrgeld zahlen: Auch wenn die Lehrmittel schon gedruckt sind, sollte man sie nur verwenden, wenn sie für klassische Schulfächer geeignet sind. Sonst sollte man sie einem Land spenden, das wenig Geld für Unterrichtsmaterialien hat. Und neue erstellen. Sehen wir es positiv: Das gibt wieder Arbeit und Raum für neue Ideen und Erkenntnisse.

Demokratie lebt vom freien Austausch der Meinungen, der Vielfalt der Ideen. Eine auf eine offizielle Ideologie eingeschworene Jugend ist gelenkte Demokratie. Lassen wir unsere Schüler ihre eigenen Positionen finden. Dabei können wir sie als authentische Lehrpersonen unterstützen, sie inspirieren. Welche Schlüsse sie aus dem Wissen ziehen, das wir ihnen mitgeben, müssen wir schon ihnen überlassen.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling