Das Verschwinden des Wissens

ein NZZ-Gastkommentar zur Bildung
von Konrad Paul Liessmann, Philosophieprofessor
15. September 2014
Es ist gespenstisch: Wie von Geisterhand geführt, hat sich in den letzten Jahren, von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, eine der radikalsten Veränderungen an Schulen und Universitäten vollzogen, ein Bruch mit einer jahrhundertealten Tradition, eine völlige Neuorientierung dessen, was Bildungseinrichtungen zu leisten haben und was die Absolventen solch einer Einrichtung auszeichnen soll. «Kompetenzorientierung» lautet das Zauberwort, das nun die Lehr- und Studienpläne dominiert, das alles, was man bisher glaubte lehren und vermitteln zu müssen, hinfällig werden lässt, das endlich garantieren soll, dass anstelle toten Wissens brauchbare Fähigkeiten erworben werden, und das verspricht, dass nichts Unnützes mehr gelernt wird, sondern nurmehr das, was mit der Lebenswelt von Schülern und Studenten, mit ihren Bedürfnissen und Problemen zu tun hat oder auf diese anzuwenden ist.

Das Ziel von Bildungsprozessen ist nicht mehr eine wie auch immer definierte Bildung, sondern der umfassend kompetent gewordene Mensch, der mit Fähigkeiten ausgestattet ist, die es ihm angeblich erlauben, in jeder Situation die angemessenen Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig verspricht die Umstellung von Bildung auf Kompetenzen endlich verlässliche Instrumentarien zu schaffen, um genaue Messungen und Bewertungen dieser Fähigkeiten vornehmen zu können.

Das Kompetenzkonzept ist ein Kind der Ökonomie

Konrad Paul Liessmann

Liessmann

Konrad Paul Liessmann, geboren 1953 in Villach, Kärnten, hat Germanistik, Geschichte und Philosophie in Wien studiert. Er ist Professor am Institut für Philosophie an der Universität Wien. Daneben betätigt er sich als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Zahlreiche wissenschaftliche und essayistische Veröffentlichungen zu Fragen der Ästhetik, Kunst- und Kulturphilosophie, Gesellschafts- und Medientheorie; u. a. Philosophie der Modernen Kunst, Kierkegaard   – Zur Einführung sowie Vom Nutzen und Nachteil des Denkens für das Leben. 1996 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kultur.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling


Quelle: NZZ
http://www.nzz.ch/meinung/debatte/das-verschwinden-des-wissens-1.18383545