Back to the future!
Back to the future!
von Ralph Fehlmann
Der kompetenzorientierte Lehrplan 21 führt ein neues Paradigma des Unterrichtens in die Volksschule ein. Vor einigen Jahren war es noch verheissungsvoll. Nun hat es von seinem Glanz verloren. In vielen Ländern ist es bereits am Scheitern. Von Ralph Fehlmann
Ueken, Fricktal, 1971, Mittelstufe. Mein erster Einsatz als Primarlehrer. Meine Schüler und ich. (Nicht einmal ein Lehrbuch.)
Ein Abenteuer mit zum Teil unsicherem Ausgang. Sie lernen aus der Attraktivität und den Schwierigkeiten, die meine Themen und Fragestellungen ihnen bieten. Ich lerne, indem ich sie auf ihren grundverschiedenen Lernwegen beobachte. Überraschungen sind dabei der Normalfall. Am Schluss haben sie viel gelernt –was sie mir noch Jahre später bestätigen.
Fachliche und überfachliche Kompetenzen und lokales, also erfahrbares Wissen. Aber nicht jeder genau dasselbe – denn es ist für mich nicht planbar, was sie anregen wird. Und also nicht mit exakt voraussagbaren Ergebnissen. Eine Situation, die sie und mich vor grosse Herausforderungen stellt. Die sie und ich gern meistern – denn Kinder sind begierig auf Lernen, und ich bin fasziniert von dieser pädagogischen «Zumutung». Im unteren Stockwerk unterrichtet meine Kollegin, ebenfalls erstmals im Einsatz, die Unterstufe. Sie macht es ganz anders als ich. Aber auch bei ihr lernen die Schüler eine Menge.
Ein Paradigmenwechsel
X, irgendwo in der Deutschschweiz, 2021. Loyal folge ich dem neuen Lehrplan. Aber alles, was die Uekener Schulstube ausmachte, ist verschwunden: Zuerst einmal der Unterricht in seiner ganzheitlichen Gestalt (im Sinne der Gestaltpsychologie). Er ist atomisiert in 4000 Staubteilchen, Kompetenzen genannt, die ich meinen Schülern antrainiere, in der Hoffnung, möglichst bald objektiv messen zu können, wie das Training anschlägt.
- Dann die Schülerinnen und Schüler – in ihrer Individualität. Sie sind nicht Selbstzweck in ihren seltsamen Lernwegen, sondern ein Bündel optimierbarer Kompetenzen, und was mich interessieren soll, ist ihr «Output». Vergessen gegangen ist, dass die vielleicht wichtigste aller Schulreformen im Westen darin bestand, auch junge Menschen im Sinne Kants immer als Selbstzweck zu denken und nicht als Mittel zum Zweck – nämlich damals ergebene Staatsdiener zu werden und heute universal einsetzbare, flexible Marktteilnehmer.
- Verschwunden bin aber auch ich selber als Pädagoge, als freier Gestalter eines für die Lernenden faszinierenden Inputs. Denn das Korsett der 4000 Kompetenzen meines Lehrplans ist erstickend eng. Dafür habe ich die ganz unpädagogische Hybris entwickelt, zu meinen, ich hätte das Lernen im Griff; und zu behaupten, dass die Schüler am Schluss über diese Kompetenzen wirklich verfügen. (Ginge es «nur» um Wissen, wäre übrigens diese Behauptung nicht gleichermassen vermessen.)
Und schliesslich ist der spezifische, nicht austauschbare Inhalt verschwunden, dessen Reiz meine Schüler damals antrieb. Hier ist nun jeder Inhalt recht, wenn ich nur an ihm bestimmte Kompetenzen vermitteln kann.
Meine Kollegin macht übrigens im untern Stockwerk dasselbe. Und diein Schaffhausen auch. Diese Gegenüberstellung will nicht nahelegen, dass wir «zurück zur guten alten Zeit» gehen sollen. Aber dass das, was an der alten Zeit gut war, zukunftsweisender sein könnte als das Konzept, das hinter dem Lehrplan 21 steckt. Dafür gibt es in der jüngsten Forschung unter anderen die folgenden Indizien:
Lernen geschieht oft zufällig, besitzt eine hohe individuelle Varietät und ist deshalb nur sehr beschränkt planbar, so lautet ein zentrales Ergebnis der Hirnforschung. Nicht einmal Wissen lässt sich mit dem Nürnberger Trichter abfüllen – geschweige denn Kompetenzen.
Pädagogik und Didaktik sind dem «Flächendeckenden» (557 Seiten umfasst der Lehrplan 21), dem «Systematischen» spinnefeind. Sie arbeiten mit dem Exemplarischen. Und zudem mit einem reichen und interessanten inhaltlichen Angebot, in der Hoffnung, je andere Elemente daraus würden bei je anderen Schülern zünden, sie auf ihre eigenen Lernwege schicken.
Unterrichtsqualität ergibt sich in allererster Linie durch die autonome Lehrperson. Hierzu sei auf die umfassende Metastudie von John Hattie «Visible Learning» verwiesen. Die berühmte Studie von H. P. Klein zeigt krass den drohenden Niveauverlust unter dem neuen Regime: Die Biologieprüfung im kompetenzorientierten deutschen Zentralabitur lässt sich lösen ganz ohne inhaltliches Wissen zum Fach – also ohne vorgängigen Unterricht in Biologie!
Kompetenzen visieren Handlungen an statt zum Beispiel Reflexion, Kritik oder «blosse» Neugierde und sind, als Unterrichts-Output in Form von Test-Handlungen, einer Messung ungleich zugänglicher als diese. Das kann fatale Schul-Rankings zur Folge haben und kurbelt zudem einen milliardenschweren Bildungsmarkt an.
Jetzt die Konsequenzen ziehen
Wollen wir wirklich dieses Modell der Standard und Kompetenzorientierung implementieren, nachdem es gescheitert ist etwa in den USA, in Österreich und Deutschland?
In den USA versucht man, heftig Gegensteuer zu geben, seit selbst die American Evaluation Association und ihre Standardisierungspäpstin, Diane Ravitch, das Scheitern eingeräumt haben. Es hat sich damit in aller Deutlichkeit als nicht zukunftstauglich erwiesen. Ersparen wir unsern Schülern und Lehrern – und nicht zuletzt den Steuerzahlern – diesen Umweg auf dem Weg in die Zukunft.
Ralph Fehlmann ist Gymnasiallehrer und Dozent für Deutschdidaktik.
copyright: !NZZ AG
Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling
- Friedrich Liebling: Geleitwort zum Buch Grosse Pädagogen
- 150. Geburtstag von Alfred Adler: Das Psychologie-Genie
- Alfred Adler – Das Gemeinschaftsgefühl: Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung
- Alfred Adler – Aus der Nähe porträtiert
- Alfred Adler Panorama: Eine Würdigung des grossen Psychologen und Begründer der Individualpsychologie
- Alfred Adler und die Individualpsychologie
- Alfred Adler und die pädagogische Revolution
- Alfred Adler: Die andere Seite - Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes
- Alfred Adler: Die Angst
- Alfred Adler: Understanding Human Nature - Menschenkenntnis (1927)
- Alfred Adlers Persönlichkeitstheorie kurz erklärt
- Alfred Adlers psychagogisches Wirken, am Beispiel eines Schulversagers einfach erklärt
- Auszug aus «Gestalten um Alfred Adler - Pioniere der Individualpsychologie»
- Auszüge aus Alfred Adler-Panorama und weitere Beiträge
- Bhadrakumar: Ein Jahrestag, den der Westen lieber vergessen würde
- Der Einfluss der verwöhnenden und verzärtelnden Erziehung auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit
- Der Mensch im Lichte der modernen Psychologie
- Die Bedeutung des psychologischen Beratungsgespräches zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen
- Die Familie als Schule des Lebens
- Die Kopernikanische Wende und ihre Bedeutung für die Psychologie
- Flieg wie ein Adler, Darya Dugina / Fly Like An Eagle, Darya Dugina !
- Friedrich Lieblings Schule im Winter auf Gran Canaria - Eine Reportage
- Revolutionäre Wandlungen im psychiatrischen Denken der Gegenwart
- Schlaglicht auf den toten Winkel
- Schulzeugnis und Versagen in der Schule
- Soziale Psychologie
- Wie und mit wem können wir die Gesellschaft umgestalten?
- Zum 150. Geburtstag Alfred Adlers: die große Biographie des Erfinders der Individualpsychologie
- Zur Bedeutung Alfred Adlers
Weitere Beiträge in dieser Kategorie
- Warum Ihr Kind bald wieder Frontalunterricht hat
- LehrplanPLUS – Wem hilft diese in Deutschland eingeführte Schulreform?
- Lernen braucht Leben
- Der fehlende Mut zum Tiefgang
- Classroom Walkthrough: Neues, an finstere Überwachungsmethoden erinnerndes Kontrollinstrument für Schulleiter
- Der Zensur des Tages-Anzeigers zum Opfer gefallen!
- John Hattie zum Klassenunterricht
- Change, Reform und Wandel – Matthias Burchardt über das Alphabet der politischen Psychotechniken
- Prof. Jochen Krautz: Kompetent, aber denkfaul?
- Die heimliche Privatisierung des öffentlichen Bildungswesens
- Die Schule geschafft, aber der Arbeitswelt nicht gewachsen
- Die Sexualpädagogik der Vielfalt
- Zur Notwendigkeit der ethischen und kulturellen Dimension in der Bildungsdebatte
- «Dieses selbstorganisierte Lernen besteht aus einem endlosen Ausprobieren»
- Die Macht der Messung
- Schule und Bildung im Würgegriff von Machtpolitik
- Stellungnahme des Memorandums «550 gegen 550» zur revidierten Fassung des Lehrplans 21
- Vertiefte Diskussion um Lehrplan 21 vonnöten
- Eltern, Bürger und Experten wehren sich gegen den Bildungsabbau in ihren Kantonen
- Schreibschrift stirbt aus
- Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung.
- "Die Lehrer fühlen sich als Deppen"
- Das Verschwinden des Wissens
- Der Schlussverkauf öffentlicher Bildung soll beginnen