Ausgewählte Leserbriefbeiträge zu Schule und Bildung

25. Juli 2014

Pädagogischer Konstruktivismus

von Alfred Burger, Kilchberg (ZH) Erziehungswissenschafter

Eindrücklicher als Hermann J. Forneck hätte man nicht formulieren können, wie weit sich die pädagogischen Hochschulen (PH) in der Schweiz von der schulischen Wirklichkeit entfernt haben («Professionalisierung statt Innovationsabstinenz», NZZ 31. 7. 14). So weit entfernt, dass sich letztes Jahr Dozenten und Studenten gegen Fornecks Theorielastigkeit gewehrt hatten. Nun ist nichts gegen eine Theorie der Erziehungslehre einzuwenden. Sie muss aber mit der Realität übereinstimmen.

Forneck und mit ihm fast alle PH der Schweiz vertreten heute vor allem die Lehre des pädagogischen Konstruktivismus. Dieser geht nicht mehr von einer personalen Auffassung des Menschen aus. Wissen ist darum seiner Meinung nach nicht von Mensch zu Mensch vermittelbar, jeder Schüler muss sich sein Wissen in einem individuellen, selbstgesteuerten Prozess aneignen. Die Lehrer unterstützen ihn nur noch und stellen geeignete Lernmaterialien zur Verfügung. Die aus diesem Prozess konstruierten Ideen und Wahrheiten sind subjektiv und müssen mit der Realität nicht übereinstimmen.

Diese Theorie taugt nichts für die schulische Praxis. Was bei diesen Lernformen herauskommt, ist wissenschaftlich schon längst erwiesen: Einige wenige Kinder, die mit allen Methoden gut lernen, können davon profitieren, alle anderen Kinder erbringen deutlich schlechtere Leistungen, weil ihnen die Grundlage allen Lernens fehlt, nämlich die Lehrer-Schüler Beziehung. Dafür hat sich Roland Reichenbach im Interview ausgesprochen (NZZ 26. 7. 14). Er hat eine grundlegend andere Auffassung vom Menschen als Forneck. Er sieht ihn als Person, die alles lernen muss und in diesem Prozess auf die wohlwollende Unterstützung, die Anleitung und die Beziehung der Erwachsenen angewiesen ist.

Praktisch alle pädagogischen Hochschulen vermitteln fast nur die konstruktivistische Theorie. Wollen wir eine Lehrerausbildung, die so einseitig ideologisch und elitär ausgerichtet ist, oder wäre für eine lebendige Demokratie mehr Pluralismus nicht angebrachter?

Fatale Neuausrichtung.

Schön, dass man nun gemerkt hat, dass es nicht nur Ewiggestrige und Religiöse sind, die gegen die fatale Neuausrichtung der Volksschule Sturm laufen. Stossend ist vor allem, dass die ganze Umkremplerei weitgehend hintenherum erfolgt; das Volk soll zu all den brisanten Neuerungen nichts zu sagen haben. Im Lehrplan 21 ist von unzähligen «Kompetenzen» die Rede, aber Eltern und selbst Lehrer rätseln darüber, was das alles soll. Sie sehen nur, dass es dort, wo nach neuen Richtlinien unterrichtet wird, schlechter läuft als bisher, denn die Unruhe im altersdurchmischten Lernen und die Schulstunden mit einem «Coach» statt einem Lehrer beim selbst gesteuerten Lernen überfordern die meisten Kinder bei weitem. Von Chancengleichheit ist dabei ohnehin keine Spur mehr zu finden, und wer es sich leisten kann, wird seine Kinder bald einmal wie in den USA in Privatschulen schicken, um dem Experimentierfeld Volksschule zu entgehen.

Hoffentlich merkt man das vor den kommenden Abstimmungen auch in linken Kreisen. Die untersten Schichten dürften am meisten profitieren, wenn man die bewährten Grundsätze und Gepflogenheiten unserer bis anhin guten Schule nicht leichtfertig über Bord wirft; den Lehrplan 21 hingegen kann man ohne Schaden abstürzen lassen.

Coach statt Lehrer.

von Oskar Meier, Bazenheid

Dass nun endlich dieser Lehrplan 21 mit allem Zubehör ans Tageslicht gezogen wird, ist zu begrüssen. Unglaublich, dass die Volksschule grundlegend verändert werden soll, ohne dass Volk und Eltern konkret etwas mitbestimmen können. Viele haben noch keine Ahnung, was auf sie zukommt. Viele wissen nicht, dass künftig Kinder mit Arbeitsblättern allein gelassen werden, weil es keinen vor der Klasse stehenden Lehrer mehr geben soll, sondern nur noch einen Coach, der quasi an der Bande seine Anweisungen erteilt. Oder dass am Ende des Unterrichts eine Internet­adresse an der Wandtafel stehen wird. Auf der entsprechenden Website werden sich dann die Schüler selber testen können. Im neuen Lehrplan finden sich offenbar Tausende sogenannte «Kompetenzen», aber klare Richtlinien und Fächer wie beispielsweise Geografie oder Geschichte fehlen. Alles wird schwammig und dubios mit dem Resultat, dass das Niveau der Schulen sinkt. Dagegen muss man sich unbedingt wehren, sowohl in den Parlamenten als auch mit Volksinitiativen, wenn es sein muss.

Umfassender Steuerungsversuch.

Hanspeter Amstutz, Fehraltorf

Unbestritten ist, dass das Engagement und das Können der Lehrpersonen die Qualität unserer Volksschule ausmachen. Dabei brauchen die Lehrper­sonen als Grundbedingung für einen erfolgreichen Unterricht neben einem klaren Auftrag viel unternehmerischen Spielraum. Wenn man aber den neuen Lehrplan mit seinen 4700 Kompetenzzielen betrachtet, scheinen diese Erkenntnisse ohne Bedeutung zu sein. Die Schule soll ein Bildungsprogramm erhalten, das alles bis ins Detail vorschreibt. In aller Stille wurde aus dem einfachen Harmonisierungsauftrag ein umfassender Steuerungsversuch für die Volksschule. Davon war vor der Abstimmung über den Bildungsartikel nie die Rede. Die Folgen dieses Paradigmenwechsel dürften die Schulen im nächsten Jahrzehnt ganz schön auf Trab halten. Dabei werden grosse Erwartungen geweckt, obwohl ähnliche Versuche in andern Ländern bereits gescheitert sind. Mit den geplanten Regulierungen könnten vielmehr schulische Entwicklungen in Gang gesetzt werden, die alles andere als erfreulich sind: Eng an vorgegebene Lehrprogramme gebundene Lehrpersonen, überladene Lehrmittel mit detaillierten Kompetenzzielen und ein schleichender Ausbau der Bildungsbürokratie. Und dafür braucht es zusätzlich noch eine aufwendige Weiterbildung der Lehrpersonen. Ich finde, dass in der Volksschule die vorhandenen personellen und finanziellen Ressourcen für weit Besseres genützt werden könnten.

Pädagogische Illusion

von Ursula Löffler, Bubikon, NZZ 24. 07. 2014

Im Sommer 2011 wurde an der Primarschule Bubikon das «altersdurchmischte Lernen» (AdL) eingeführt. Einige Monate danach unterschrieben über 90 Eltern schulpflichtiger Kinder einen Brief an die Schulbehörde. Wie die Eltern in Zumikon (NZZ 8. 7. 14) bemängelten wir Bubiker Eltern in erster Linie die Unruhe während der Lektionen. Auch die zu grosse Eigenverantwortung durch Selbstkorrekturen und eigenständiges Erarbeiten von Lösungswegen war ein Kritikpunkt. Erst kürzlich meinte eine Mutter mir gegenüber, ihre Tochter habe in den vergangenen Jahren vor allem das Schummeln gelernt. Wir Eltern wünschten uns, dass die Behörde auf unsere Anliegen eingehen würde. Ausser Beschwichtigungen und Schönreden geschah hingegen kaum etwas. So wurden viele Eltern selber aktiv. Sie schickten ihre Kinder in die Nachhilfe oder lernten selber mit ihnen. Doch nicht alle Eltern können sich dies aus zeitlichen oder finanziellen Gründen leisten. Wo bleibt da die Chancengleichheit? Es stimmt mich hoffnungsvoll, dass sich in verschiedenen Gemeinden mehr und mehr Eltern und auch Pädagogen gegen das «selbstorganisierte Lernen» wehren (NZZ 16. 7. 14). Für Erwachsene mag diese umstrittene Unterrichtsform allenfalls eine Option darstellen, für Kinder im Primarschulalter bedeutet sie hingegen Orientierungs- und Beziehungslosigkeit sowie masslose Überforderung.

Lehrplan 21   – fragwürdige Reform

von Eliane Gautschi, Sonderpädagogin und Schulleiterin, Kindhausen

«Ich habe mich geirrt», sagt Diane Ravitch, eine der führenden amerikanischen Schulreformerinnen, angesichts der angerichteten Schulmisere in den Vereinigten Staaten.

Mit genau diesem Reformprogramm wird nun aber das schweizerische Bildungssystem seit Jahren überzogen. Den Startschuss dazu gab der von der OECD initiierte «Pisa-Schock». Wenn heute in einer Schule fast die Hälfte der Lehrer, egal aus welchen Gründen, kündigen, dann nehmen sie ihren Berufsauftrag ernst, und in diesem Schulhaus läuft grundsätzlich etwas falsch. Wenn Eltern sich dagegen wehren müssen, dass ihre Kinder als Versuchskaninchen für längst überholte Schulmodelle dienen sollen, dann stellt sich die Frage nach der Sorgfaltspflicht der zuständigen Behörden. Und wenn Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder in Privatschulen schicken, weil die durch ihre Steuergelder finanzierte Volksschule den Kindern die nötige Bildung verweigert, dann ist unser Volksschulsystem grundsätzlich infrage gestellt. Es wäre für unsere Bildungsverantwortlichen an der Zeit, das zur Kenntnis zu nehmen, statt weiterhin ein ewiggestriges Reformprogramm fortzuführen und es nun im Lehrplan 21 zu verankern.

Das Abfallproblem und die Erziehung

von Marianne Trampe, Volketswil

Alle Besucher der Open-Air-Festivals, die ihre Campingausrüstungen, Gummistiefel, Kleidung und Abfall einfach zurückliessen, haben oder hatten Erziehungsberechtigte, die sie anscheinend nicht erzogen haben, ihren Abfall korrekt zu entsorgen (NZZ 18. 7. 14). Nicht selten kann man Beispiele sowohl mangelnden Vorbilds als auch der Nichterziehung direkt vor den eigenen Augen erleben. Es fehlt eben wohl an «Erziehungsverpflichteten». Ob Sittertobel, Stadt Zürich oder Bahnhof Schwerzenbach: Würden nicht fleissige Putzmänner tagtäglich beziehungsweise nach dem Ereignis alles säubern, wären diese Orte total vermüllt. Anscheinend sind diejenigen, welche sich daran stören, in der Minderheit.

Leserbrief

von Henriette Hanke Güttinger, Dussnang; Katharina Schoch, Pfäffikon (ZH)

Die Berichterstattung über das Open Air in Frauenfeld ist grotesk-surreal. Sie beschreibt eine Jugend, die sich, bekifft und betrunken, am nächsten Morgen gar nicht mehr richtig erinnern kann, was sie in den letzten Stunden alles getan hat.   – Als ob dies das Natürlichste der Welt wäre. Eine solche Groteske widerstrebt allen Eltern, Lehrern und in der Prävention Tätigen. Jeder, der mit der Jugend betraut ist, weiss, dass sie zu ganz anderem fähig ist.

In unzähligen Freizeit- und Vereinsaktivitäten und in politischen Jungparteien zeigt sie ihre besten Seiten. Es hat niemand etwas dagegen, dass die Jugend gerne ihre Musik hört. Dass jedoch daraus ein Riesengeschäft auf ihre Kosten gemacht wird, ist widerlich: Konsum ohne jegliche Verantwortung; Seien es Alkohol, Drogen, ja junge Frauen oder eben Zelte. Man konsumiert, schmeisst weg. Freiwillige Helfer räumen und putzen hinterher. Doch unsere Jugend will mitdenken, mitgestalten und Verantwortung übernehmen für ihre künftigen Aufgaben in Familie, Beruf und in unserem direktdemokratischen Land. Sie in diesen Bemühungen zu unterstützen, ist unser aller Aufgabe

Verfehlte Schulreformen   – 25. 07. 2014

Robert Tauschke, Kalthäusern

Altersdurchmischtes Lernen (AdL), Selbstorganisiertes Lernen (SoL), individualisiertes Lernen (NZZ 21. 7. 14) und wie die Methoden auch heissen, die den Schüler im Lernprozess vereinzeln, sprich «individualisieren», werden oft trotz begründeten Einwänden immer wieder in einzelnen Schulgemeinden durchgedrückt.

Der empirische Nachweis, dass diese Methoden den Lernerfolg steigern, konnte auch nach 30 Jahren nicht erbracht werden. Im Gegenteil, die grossangelegte weltweite Megastudie (Studie, die Hunderte von Metastudien zusammenfasst) des Australiers John Hattie weist nach, dass individualisierter Unterricht keinen signifikanten Beitrag zum Lernerfolg leistet. Unerfreulicherweise sollen mit dem im Verborgenen ausgearbeiteten Lehrplan 21 solche Methoden auch noch landesweit sanktioniert werden. Wozu dieses ideologische Festhalten an überholten, finanz- und personalintensiven Lernmethoden auf Kosten unserer Schüler?

Leserbrief

Karl Bertschinger, Ebmatingen Sekundarlehrer

Zurück auf Feld eins. Nicht ganz. Aber immerhin, in diese Richtung sollte sich die Volksschule bewegen. Es sind schon zu viele Experimente lanciert worden, die kaum einer kritischen Beurteilung standhalten. Eltern sind nicht mehr in der Lage, den Überblick zu behalten. Verunsicherung macht sich breit. Sie wehren sich bei Schulbehörden und werden kaltschnäuzig abgewiesen.

Zwei Fakten, von denen ich Kenntnis habe, machen mich nachdenklich und stehen stellvertretend für diese verfehlten Schulreformen: Wegen zu hohen Lärmpegels arbeiten die Schüler tatsächlich mit einem Gehörschutz. Grotesk! In einer Oberstufenschule mit alters- und niveaudurchmischtem Unterricht können Schüler eine Prüfung schreiben, wenn sie bereit sind. Also nicht der Lehrer bestimmt, wann die Prüfung zu schreiben ist, sondern der Schüler, pardon, einen Lehrer gibt es dort gar nicht, er nennt sich Coach.

Genau da wird den Oberstufenschülern ein falsches Signal für die spätere Lehre gesandt. ln einem Betrieb muss der Lehrling auf einen bestimmten Zeitpunkt fertig sein. Es kann doch nicht sein, dass der Lehrling diesen Zeitpunkt selber wählen kann. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass Lehrlinge oft keinen Biss mehr haben. Lehrabbrüche nehmen trotz sorgfältiger Evaluation der Lehrbetriebe stetig zu. Hier trägt die strukturlose Volksschule sicher ihren Teil dazu bei. Die «coolen» Lehr- und Lernformen, die an den pädagogischen Hochschulen doziert werden, sind gar nicht im Sinne des Schülers. Die Schüler wollen sich messen, wollen geführt werden, wollen Erfolg haben. Im gleichmacherischen Mainstream zu schwimmen, macht sie lustlos, frustriert und wenig lernwillig. Hoffentlich formiert sich weiter Widerstand zum Wohle einer traditionellen und dennoch guten Volksschule.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling