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Leben und Lernen mit einem halben Gehirn

01. März 2013

Auszug aus: "Lernen" Gehirnforschung und die Schule des Lebens  ISBN: 3827413966

Manfred Spitzer

Am 9. Februar 2002 wurde in der internationalen medizinischen Fachzeitschrift Lancet der Fall eines 7jährigen Mädchens publiziert, bei dem im Alter von drei Jahren die linke Gehirnhälfte operativ entfernt wurde, um eine ansonsten tödlich verlaufende chronische Gehirnentzündung mit unbeherrschbaren epileptischen Anfällen zu behandeln (vgl. Abb.1.4). Dem Kind fehlte also eine Grosshirnhälfte, noch dazu die linke sprachdominante Hemisphäre, und man würde eine schwerste halbseitige Körperbehinderung sowie das Fehlen sprachlicher Kommunikation erwarten. Das Besondere an dem Fall: Das Kind war mit sieben Jahren praktisch völlig normal und konnte nicht nur eine, sondern zwei Sprachen fliessend sprechen.

Dieses Beispiel zeigt vielleicht eindrucksvoller als jedes andere, wie flexibel und anpassungsfähig das Gehirn ist. Ganz offensichtlich kommt das Mädchen einigermassen mit nur einer Hälfte des Gehirns aus. Das Gehirn hat gelernt, seine fehlende Hälfte zu kompensieren. Wenn das möglich ist, dann sollte jeder mit einem ganzen Gehirn wahre Höchstleistungen verbringen können!   – Kann er auch! Aber nur, wenn er mit seinem Gehirn richtig umgeht. Hier liegt bei den meisten Menschen vieles im Argen, nicht aus bösem Willen, sondern schlicht aus Unkenntnis. Dieses Buch will hier Abhilfe schaffen. Es ist für Lernende und Lehrende gleichermassen geschrieben.

(Seite 15)

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Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens

Autor(en): Manfred Spitzer, Verlag: Spektrum Akademischer Verlag
Rezension von Dr. P. Günter Strauss "LIBREVIS"
Gebundene Ausgabe, 33.00 EUR
ISBN: 3-8274-1396-6

Es wäre verkehrt, von diesem Buch ein schematisches Rezept zu erwarten, wie wir effektiv lernen können. Im Gegenteil, es geht darum: Über die Prinzipien des Lernens nachzudenken, um sie bei verschiedenen Lebensaufgaben anwenden zu können   – als Lehrender und Lernender. Der Autor erhebt aber immerhin den Anspruch, uns eine Anleitung in die Hand zu geben, wie wir unser Gehirn auf optimale Weise benutzen können. Er leitet daraus Prinzipien ab, die man bei der Gestaltung unseres Bildungssystems berücksichtigen sollte. Manfred Spitzer ist Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm, hat ein Diplom in Psychologie und promovierte in Medizin und in Philosophie. Er ist Autor mehrerer Bücher, ist medial präsent und kann jedes Jahr eine beachtliche Publikationsliste von Fachartikeln vorweisen.

Ich fand das Buch einfach spannend zu lesen. Es sollte eigentlich ein "Muss" sein für jeden Bildungspolitiker, für alle die in irgendeiner Form von Lehre tätig sind, und für diejenigen, die sich dafür interessieren, wie ihr Gehirn arbeitet.

Wie wir lernen und was Lernen beeinflusst.

Aufmerksamkeit, Emotionen und Motivation. Ohne Aufmerksamkeit geht gar nichts. Immerhin, so, wie ein Albatros für das Fliegen optimiert ist, ist das Gehirn des Menschen zum Lernen optimiert (leuchtet ein; vermutlich deshalb müssen wir nicht mehr als Hominiden durch die afrikanische Savanne laufen). Wir lernen vor allem aus Geschichten (nicht Fakten), weil uns Emotionen antreiben. Nicht stumpfsinnige Regeln sollten wir Kindern beibringen, sondern Beispiele zeigen und vorleben (unser Gehirn ist ziemlich gut darin, aus Beispielen die Strukturen zu extrahieren; es gibt sogar Neuronen für Kategorien). Üben, üben, üben: wer viel Geige übt, vergrößert ein bestimmtes Hirnareal. Im Träumen optimieren wir vermutlich unsere Informationsverarbeitung. Was wohl nicht so viele wissen: Auch die Ratte träumt   – und wir können sehen, wovon sie träumt.

Lebenslanges Lernen.

Unser Gehirn ist für das Lesen nicht optimiert (wie auch? Wir sind sieben Millionen Jahre ohne Lesen ausgekommen). Deshalb müssen wir üben, üben, üben. Mit zunehmendem Alter wird unsere Lernfähigkeit langsamer. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist dies jedoch kein pathologischer Prozess, sondern eine sinnvolle Anpassung: Während schnelles Lernen meist auch schnelles Vergessen bedeutet, gibt langsames Lernen mehr Gewähr, das Gelernte zu behalten. In einer Gemeinschaft brauchen wir beides.

Wir lernen in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft.

Ein funktionierendes Frontalhirn ist wesentlich für ein funktionierendes Sozialverhalten. Und mit 12-Jährigen über Ethik zu reden macht hirnphysiologisch keinen Sinn; Beispiele vorleben und einüben dagegen schon. Das Gehirn lernt immer, es kann nicht anders   – es lernt also auch von Gewaltvideos, von Gewalt im Fernsehen und von gewalttätigen Computerspielen.

Schule (PISA), Werte, Lebensinhalte.

Es kommt weniger auf die Technik der Lernvermittlung an, als darauf, wie Lehrer und Schülern miteinander klarkommen. Optimales Lernen heißt: Beispiele sehen, es selber tun, es anderen erklären. Dasselbe gilt auch für die Wertevermittlung (beispielsweise Religionsunterricht). Menschen lernen aus Beispielen, nicht aus Predigten.

Das Buch kommt mit 511 Seiten ziemlich umfangreich daher. Eine ausführliche Literaturliste mit vielen Originalartikeln öffnet dem Interessierten (wie beispielsweise dem Kritiker, der meint, das mit den Gewaltvideos ist doch nicht so schlimm) ein weites Feld. Merkwürdig, dass ausgerechnet einige der wenigen Zitate, die ich nachschlagen wollte, in der Literaturliste nicht enthalten waren. Ich hoffe, der Rest ist vollständig.

Was gute Pädagogik aus Erfahrung schon länger weiß, stellt die Hirnforschung auf ein wissenschaftliches Fundament. Manche pädagogische Überlieferung und mancher Lehrplan gehört auf Grund der von Manfred Spitzer zusammengestellten Ergebnisse der Hirnforschung auf den Müll. Dieses Buch ist jedoch, wie schon gesagt, kein Rezeptbuch. Es ist ein Buch zum Nachdenken darüber, wie wir unser Gehirn richtig einsetzen und wie wir unseren Kindern dazu die Möglichkeiten schaffen. Es hat ganz viel mit Bildung und mit unserem Bildungssystem zu tun. Ein ganz wichtiges Buch!

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