Skip to main content

Hartmut von Hentigs pädagogischer Beitrag zur Lösung der alarmierenden Jugend- und Gesellschaftsprobleme

18. Februar 2013

von Urs Knoblauch, Pädagoge und Kulturpublizist, Fruthwilen TG

Es ist schon ein besonderes Ereignis, den 82jährigen grossen deutschen Pädagogen Hartmut von Hentig in einem Vortrag zu seinem neuesten Buch «Bewährung   – Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein» (2006) vor einem grossen interessierten Publikum in Konstanz mitzuerleben.

Die Ausstrahlung, der kreative Tatendrang, seine Lebenserfahrung als Pädagoge und seine umfassende humanistische Bildung kommen in seinen Werken und in seinem Wirken zum Ausdruck. In seiner Publikation von 1985, «Die Menschen stärken, die Sachen klären. Ein Plädoyer für die Wiederherstellung der Aufklärung», wurden gültige Leitlinien der Pädagogik gesetzt. Es folgten weitere wichtige Bücher. Im folgenden sollen einige Gedanken aus dem 2006 erschienenen Werk «Bewährung» und aus «Ach, die Werte!   – Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert» von 1999 dargestellt werden. Hier werden besonders prägnant und aktuell, sozusagen als gereiftes Manifest seiner reichhaltigen Lebenserfahrungen als Bürger und Pädagogikprofessor mit praktischer ­Laborschule in Bielefeld, seine Intentionen für die Entwicklung von freien Persönlichkeiten mit Verantwortungsgefühl und Gemeinsinn deutlich. Sein neuestes pädagogisches Projekt für Jugendliche stellt einen wertvollen Beitrag zur Lösung aktueller Probleme der Jugendlichen in Schule und Gesellschaft dar.

Reife Lösungsvorschläge in einer bedrohten Zeit

Sein neuestes Projekt richtet sich auf die Stärkung der Jugendlichen in der Pubertät und die Förderung lebenspraktischer, sozialer Fähigkeiten für das Allgemeinwohl und den zukünftigen Staatsbürger. Denn, «die Nachrichten aus Paris und Berlin haben es allen vor Augen geführt: Ein Teil der Jugendlichen will von unserer Gesellschaft nichts mehr wissen. Die Öffentlichkeit reagiert mit organisatorischen Mass­nahmen   – pädagogische Antworten bleiben aus.»

Der Autor zeigt an vielen Beispielen die Schwachpunkte vieler Schulreformen und gibt Antworten darauf: Es werden kurzfristige und bürokratische «Massnahmen zur Durchsetzung von Massnahmen» angeordnet, ohne mit den Schülern, der Lehrer- und Elternschaft in ein echtes Gespräch zu kommen. Gerade angesichts der heutigen alarmierenden Situation unvorstellbarer Gewaltbereitschaft, Brutalität, Sinn- und Gefühllosigkeit bei einem Teil der Kinder und Jugendlichen stellt sich die Frage nach den tieferen Ursachen und besonders nach sinn- und wirkungsvollen Alternativen. Die schwerwiegenden sozialpsychologischen Folgen des heutigen Kriegswahnsinns werden ebenso deutlich. Eine zunehmend angepasste und kritiklose Schüler- und Studentenschaft, die auf Selbst­inszenierung, Karriere und Börsenerfolg ohne ehrliche Arbeit ausgerichtet wird, ist auch das Abbild einer verfehlten gesellschaftlichen Entwicklung.

Familie, Schule und Gesellschaft dürfen nicht zu einem konsum­orientierten Dienstleistungsbetrieb verkommen, Wissen darf nicht durch Information und Internetfragmente verdrängt werden. Kinder und Jugendliche sollen erfahren und beitragen, wie eine gesunde Gemeinschaft, das Gemeinwohl und ein Zusammenleben in Frieden ohne Gewalt aufgebaut und am Leben erhalten werden. Unsere Jugend soll nicht zu Handlangern einer menschenverachtenden Globalisierung oder zu einem Kollektiv im Dienst einer Ideologie oder zu modernen Söldnern, die in sogenannte Friedenseinsätze ziehen, erzogen werden, sondern zu Bürgern mit Verantwortungsgefühl für die ganze Menschheitsfamilie und den ganzen Globus.

Von Hentig will sich nicht damit begnügen, der Jugend Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln, um unter den Bedingungen der globalisierten Informations- und Dienstleistungsgesellschaft bestehen zu können. Deshalb schlägt Hartmut von Hentig vor, neben der selbstverständlichen Stärkung der Persönlichkeit im Kindesalter gerade auch die Jugendlichen im Pubertätsalter, auf der Mittelstufe mehr in ihrem Selbstwertgefühl, im Nützlichsein für die Gemeinschaft zu stärken. Dass die Jugendlichen sinnvoll gebraucht werden wollen, gute Ideen haben und aktiv mitwirken wollen, wird meist nicht berücksichtigt. Gerade die Zeit der Pubertät benötigt ein besonderes Feingefühl:

«Alle ernsthaften Menschenbeobachter haben dieser Phase der Entwicklung ihre besondere Aufmerksamkeit geschenkt und fast alle, weil sie Schwierigkeiten bereitet. […] Es irritiert die Erwachsenen auch, dass die Nun-nicht-mehr-Kinder sich mehr füreinander interessieren als für sie.»

(Bewährung, 2006, S. 42)

Vom stärkenden Erlebnis, nützlich zu sein für die Gemeinschaft

Hartmut von Hentig wünscht sich eine

«Entschulung der Mittelstufe und ein soziales Pflichtjahr»: «Ich wünsche, dass junge Menschen erfahren, was eine Gemeinschaft ist   – eine grössere als die Familie, in die sie hineingeboren sind, und eine weniger künstliche und zufällige als die Schulklasse, in die man sie hineinverwaltet hat; sie sollten Gelegenheit haben, als ganze Person die verfasste Gemeinschaft, in und von der sie leben, wahrzunehmen; dieses Erlebnis sollte so sein, dass sie vieles von dem, was sie lernen, für die Aufrechterhaltung dieser Gemeinschaft einzusetzen bereit sind, ja dass sie es zu einem grossen Teil um ihrentwillen   – um ihrer Fortsetzung und Vervollkommnung willen   – lernen.»

(Bewährung, 2006, S. 17)

Hier wird deutlich, dass von Hentig auf die alarmierenden Zustände nicht mit organisatorischen Massnahmen reagieren möchte. Die Zukunft der zivilisierten Gesellschaften benötigt nachhaltigere und weitsichtigere Konzepte, Fähigkeiten und Werteinstellungen. Der erfahrene Pädagoge von Hentig möchte den Teufelskreis von Frustration, Gleichgültigkeit und Gewaltbereitschaft, der im Lebensgefühl vieler Jugendlicher zum Ausdruck kommt, durch Sinnfindung und das Erlebnis des Nützlichseins für die Gemeinschaft durchbrechen. Er erkennt die grosse Bedeutung in der Erfahrung, gebraucht und anerkannt zu werden und sich mit konkreten sinnvollen Aufgaben für das praktische Leben und das Gemeinwohl zu bewähren. 13- bis 15jährige Schülerinnen und Schüler sollen den normalen Schulunterricht für eine bestimmte Zeit verlassen und in einem ihrer Neigung und Alter entsprechenden beruflichen Arbeitsfeld Erfahrungen sammeln, die sie in ihrer Persönlichkeit, in ihrem Gemeinschaftsgefühl und in ihrem Nützlichsein als Bürger für die Gesellschaft stärkt. Von diesem sozialen Pflichtjahr wird auch die Motivation für die weiterführenden Schuljahre wieder in einem neuen Licht erscheinen. Hartmut von Hentig ruft in seinem neuen Buch die Tradition wichtiger Reform- und Arbeitssschulen in Amerika, Russland und Deutschland und Autoren von J. J. Rousseau über John Dewey bis Anton S. Makarenko in Erinnerung. Viele davon sind auch als Antwort auf die Armut und Not entstanden und sollten die Jugendlichen in ihrem Selbstwert und in ihrem persönlichen Wert für das Gemeinwohl stärken.

Lernfreude mit dem Lebensalltag verbinden

Gerade heute bestehen vielfältige Möglichkeiten für diese heilende «Bewährung». Der Dienst am Gemeinwesen, der als «Ehrendienst» verstanden und durch geeignete Fach- und Begleitpersonen unterstützt werden soll, geht vom alltäglichen Leben in einer Region aus: Dem Natur- und Umweltschutz, der Mitarbeit auf einem Bauernhof, bei Handwerkern oder industriellen Betrieben. Ein Praktikum bei einem Fahrrad- oder Landmaschinenmechaniker kann beispielsweise für einen praktisch begabten Schüler, der Mühe hat in Bereichen des Schulstoffs, zu einem stärkenden Erlebnis werden.

Hartmut von Hentig bezog sich in seinem Vortrag auch auf die vielen zerfallenden Häuser aus der DDR-Zeit: «[…] dem weint das Herz, wenn er das sieht». Wie gern würden Jugendliche praktisch zupacken, einmal ohne Bleistift und Papier Lernerfahrungen machen, erleben, dass sie wichtig sind, gebraucht werden, mithelfen und nützlich sein können für die Gemeinschaft. So gestärkt, werden viele Schwächen im Schulischen durch einen einfühlsamen Lehrer schnell aufgearbeitet und ungeahnte Entwicklungsschritte möglich. Gerade in wichtigen sozialen Bereichen wie der «Fürsorge für andere, Zeit haben für andere» oder bei «Unterstützung des Pflegepersonals bei alten Menschen», Kranken oder beim Einrichten und Mitarbeiten bei einer Hausaufgabenhilfe und beim Aufbauen einer «Pension für Tiere» können Schülerinnen und Schüler bisher versteckte Fähigkeiten ausbauen und daran wachsen. Auch das städtische Leben bietet vielen reiferen Schülern die Möglichkeit, beispielsweise beim Aufbauen einer Betreuungs- und Überwachungseinrichtung für Schul- und Spielplätze, mitzuarbeiten. Das stärkt ihr Selbstwert- und Gemeinschaftsgefühl und trägt zum Gemeinwohl bei. Auch die Assistenz bei politischen, kulturellen oder technischen Aufgaben und ganz besonders bei einem humanitären Einsatz, der bis zum «Dienst im Peace Corps» gehen kann.

Hartmut von Hentig erwähnte im Vortrag auch das Beispiel «schöne Briefe schreiben, weil damit mehr Spenden für ein humanitäres Projekt möglich werden» und der Schüler sich dadurch gebraucht fühlt. In diesem Sinn kann auch das Verfassen von einfachen kleinen Lehrmitteln, Informationsbroschüren oder Internetprojekten zu Fächern und Themen, auch zu Menschenrechten oder zur Tätigkeit des Roten Kreuzes in einem geeigneten Betrieb, einer Druckerei oder in einer kommunalen Verwaltung zur einer Quelle von Freude und Kenntnissen führen. Und dies wird nicht nur für die Jugendlichen, sondern für alle Beteiligten zu einer Bereicherung. Sicher werden von Eltern, Behörden, aus regionalen Besonderheiten und besonders von der Schülerseite her im Gespräch weitere Ideen und Möglichkeiten dazukommen.

Stärkung des Lebens- und Bürgersinns

Bei der immer wichtiger werdenden Aufgabe der gegenseitigen Kulturverständigung bezieht sich der Autor auf Margaret Mead, die grosse amerikanische Pionierin der Kulturanthropologie. Von Hentig will seine Vorschläge offenhalten, um den Verhältnissen angepasste gemeinsame pragmatische Lösungen, auch bezüglich der Finanzierung, zu entwickeln. Niemand weiss, wie sich die Zukunft entwickelt. Er wendet sich auch gegen ein Denken in «entweder   – oder». Leistung und Bewährung beim Lernen in Schule oder Arbeitsleben können beglückende, unangenehme und anstrengende Phasen haben, denn Disziplin und Freude gehören zusammen.

Besonders erfreulich ist, dass bei Hartmut von Hentig Bildung und Erziehung zum verantwortlichen Bürger grösste Bedeutung zukommt. Schon in seinem hervorragenden Buch über die Werte stellt er Schule und Bildung in die Errungenschaften der Aufklärung und Demokratie:

«Unser Staat ist darum eine Res publica; er gehört keinem einzelnen und keiner Gruppe; er gehört   – mit seinen Machtmitteln, seinen Ressourcen, seinen Verschuldungen und seiner Schuld   – allen, die ihn konstitutionieren, und das heisst, sich zu ihm bekennen, ihn tragen, ihn beanspruchen, die also den gedachten Contract social eingegangen sind: Sie haben ihre Freiheiten eingeschränkt, um in den Genuss seiner Ordnung, vornehmlich des Schutzes der verbliebenen Freiheiten, zu kommen. Diese Res publica wiederum ist als Demokratie verfasst.»

(Ach, die Werte, 1999, S. 28)

Von Hentig führt weiter aus, dass die Macht im Staat geteilt sein und die Regierungsgewalt periodisch zur Verfügung gestellt werden muss,

«es muss eine erhebliche Opposition geben; es muss, damit diese entstehen kann, Meinungsfreiheit herrschen und den Minderheiten Schutz gewährt werden; die Bürger müssen ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen, ohne Helden sein zu müssen   – sie sind der Staat, die Beamte sind dessen Diener». Alle bürgerlichen Freiheiten in allen Bereichen und die verfassungsmässigen Gesetze werden vom Staat nicht nur «gewährt», «er ‹garantiert› sie, und das heisst, er hat auch für die Bedingungen ihrer Wahrnehmung zu sorgen».

(Ach, die Werte, 1999, S. 29)

Er stellt neben den gültigen pädagogischen Grundlagen, neben der staatsbügerlichen Verantwortung auch die Aufgabe der Wirtschaft in einen Zusammenhang. So kann eine Marktwirtschaft nur mit einer zahlungskräftigen Nachfrage existieren und ist darum auch anfällig. Dieser freie Markt ist jedoch

«unempfindlich für die Bedürfnisse der Mittellosen und nimmt keine Rücksicht auf künftige Generationen und auf die frei zugänglichen öffentlichen Güter (Hardin)   – die Luft, die Gewässer, die Schönheit der Landschaft, die Stille. Das Gemeinwesen muss hier schützend eingreifen und stört damit natürlich die Selbstregulierung. Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch Senkung der Steuern und Soziallasten, durch Aufhebung von Sicherheitsauflagen und Kontrollen, die Privatisierung gemeindienlicher Funktionen (Post, Telefon, Bahn, Strassenbau, Wasserversorgung, Müllabfuhr, öffentliche Sicherheit, Forschung und Bildung), das Auswandern zu anderen Produktionsstandorten mit niedrigen Lohnkosten und Steuern wird unter Berufung auf ein einseitiges, gründlich durchlöchertes, unverwirklichtes Prinzip vorgenommen und entwertet und ignoriert den Grundgedanken des liberalen Staates: dass er ein Zusammenschluss frei tätiger Menschen ist   – um einer gemeinsamen Ordnung willen, die wir Gerechtigkeit nennen und die den Frieden sichert. Wirtschaft ist eine dienstbare Tätigkeit. Wie die staatliche Verwaltung trägt sie zum Gemeinwohl bei.»

(Ach, die Werte, 1991, S. 31) Auch bei der Gestaltung von Europa muss reifer Bürgersinn bestimmend sein: «Europa wird in Brüssel und Strassburg zusammengebastelt, soll und muss aber in den Vorstellungen und Empfindungen der Menschen Fuss fassen.»

(Bewährung, 2006, S. 89)

Von Hentig zählt auch eine Reihe von «Plagen» auf, die sich im Schulwesen seit Jahren aufgestaut haben: Grössere Klassen, längere Arbeitszeit, «vermehrte Konferenzen, Schulentwicklung, Qualitätsmanagement, Fortbildung und Selbstevaluation mit der Folge, dass weniger Zeit und weniger Aufmerksamkeit für das einzelne Kind bleiben …»

(Bewährung, 2006, S. 88)

In diese vorbildlichen psychologischen, staats- und wirtschafts­politischen Grundpositionen stellt von Hentig sein pädagogisches Verständnis. Dabei wird «Effizienz» und Leistungstüchtigkeit kein Gegensatz, denn diese

«Tüchtigkeit wird nicht nur im Gemeinwesen gebraucht   – zur Sicherung und Förderung der gemeinsamen Lebensverhältnisse   –, sie ermöglicht dem einzelnen erst die Teilhabe an den bedeutenden gesellschaftlichen Genuss-, Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten, an den Freiheiten, Rechten und Verantwortungen und nicht zuletzt an der vernünftigen und bekömmlichen Nutzung des Wohlstands».

(Bewährung, 2006, S. 96)

Hartmut von Hentigs pädagogische Ethik beinhaltet eine Schule und Pädagogik, die auf den Dienst am Frieden, den Gemeinsinn und eine freiheitlich-demokratische Bürgergesellschaft ausgerichtet ist. Sein Beitrag verdient weite Diskussion und Verbreitung, sein Optimismus gilt der Jugend. Der erfahrene Pädagoge weiss, dass eine demokratische Bürgergesellschaft, Eltern und gut geschulte Lehrerpersönlichkeiten den Jugendlichen zur Lösung dieser gestellten Aufgaben verhelfen können, im Wissen, dass sie zu noch viel mehr fähig sind.    

Quelle:
http://www.kultur-und-frieden.ch

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling

Weitere Beiträge in dieser Kategorie