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Die Jugend auf den konstruktiven Weg mitnehmen

16. April 2013

Die Jugend auf den konstruktiven Weg mitnehmen

Werteerziehung in Familie und Schule als Gegengewicht zu den destruktiven Wirkungen der Mediengewalt

von Rudi und Renate Hänsel*

Wir werden darlegen, dass Charakterbildung immer im Zusammenhang mit Wertebildung geschieht. Es gibt keine Entwicklung und keine Erziehung ohne Werte. Dann werden wir Ihr Augenmerk auf die verheerenden psychosozialen Folgen der Gewaltdarstellungen in den audiovisuellen Medien lenken, die unsere Kinder und Jugendliche eine Reihe amoralischer und asozialer Unwerte lehren, die mit den Werten einer zivilisierten Welt unvereinbar sind.

Diese durch Bild, Sprache und Interaktion vermittelten Unwerte wie z. B. Feindseligkeit und Macht sind für immer mehr Kinder und Jugendliche Orientierung für ihre Einstellungen und Verhaltensweisen, das heisst, für ihr Fühlen, Denken und Handeln, für ihre Charakterbildung.

Das Ausmass der heutigen Kinder- und Jugenddelinquenz in vielen europäischen Ländern ist für die Gesellschaften dieser Länder eine Katastrophe: Bürgerkriegsähnliche Jugendunruhen in Grossbritannien, den Niederlanden, in Dänemark und Schweden, in Griechenland, Frankreich und in Deutschland. Auch in einer peripheren ländlichen Region wie im Schweizer Kanton St. Gallen haben laut einer Studie des Kriminologischen Instituts der Universität Zürich vom August 2009 („Jugenddelinquenz im Kanton St. Gallen“) ca. 25 % der 15-/16-jährigen Jugendlichen Gewalt erlebt und ein ebenso hoher Prozentsatz Gewalt begangen. Dieses Ausmass der Täter- und Opfererfahrung hat alle überrascht.

Damit die elektronischen Medien Gewaltbereitschaft von Jugendlichen nicht verstärken, sollten die Jugendlichen lernen auszusortieren was sinnvoll ist und was nicht und lernen, mit den Medien etwas Vernünftiges anzufangen. Wie können wir Eltern und Lehrer das bewirken? Die Heranwachsenden lassen sich heute nur schwer etwas verbieten und ausserdem muss heute jeder zur Vorbereitung auf den zukünftigen Beruf den Computer vernünftig handhaben können.

Unser Ansatz ist der folgende: Nur wenn solche Lernprozesse in ein ethisches Wertegefüge eingebettet sind, haben die Heranwachsenden einen Kompass für einen konstruktiven Umgang mit den Medien. Und diese Werte müssen in der Familie gelegt und in den gesellschaftlichen Institutionen wie Kindergarten und Schule verstärkt und gefestigt werden.

Weil wir aus langjähriger Erfahrung als Eltern und Lehrer wissen, dass alle Bemühungen nicht fruchten, wenn es uns nicht gelingt, unsere Jugend vom destruktiven Weg abzubringen und sie auf unsere Seite zu ziehen, d. h. sie zur Kooperation im Mitmenschlichen zu gewinnen, werden wir einen grossen Teil unserer Ausführungen ganz praxisnah dieser Frage widmen.

* Leicht veränderter Vortrag, gehalten auf der Tagung des Vereins Sichtwechsel e. V. für gewaltfreie Medien am 19. Okt. 2009 in Berlin. Unterstützt wurde die Tagung vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend.

1. Werte werden im mitmenschlichen Bezug erlernt

Der Mensch ist fähig, zwischen bekömmlichen und schädlichen, gesunden und kranken, positiven und negativen Tendenzen im Leben zu unterscheiden und so Werte zu setzen, Kultur zu schaffen, eine Ethik zu entwickeln. Das inhaltliche Grundprinzip, dem alle Werte verpflichtet sein müssen, ist, dass

„alles Tun und Lassen (…) der Humanität (d. h. der Selbst- und Höherentwicklung des Menschen, dem Schutz und der Würde des einzelnen und der Menschheit insgesamt) dienen muss.“ (Wiater)

Werte werden erlernt

Die seelisch-geistige Entwicklung des Kindes vollzieht sich vom ersten Tag an im sozialen Wechselspiel mit seinen nächsten Beziehungspersonen in der Familie und später mit den Personen seiner näheren und weiteren Umgebung. Gewissensbildung, ethisches Verhalten und sittliches Empfinden nehmen hier ihren Anfang.

Die Basis für diese Lernprozesse sind einige wenige Prädispositionen: (Wir orientieren uns hier an dem Erziehungswissenschaftler Wiater, der den Prozess der Werteentwicklung u. E. klar beschrieben hat.)

„Es ist dem Menschen angeboren, dass er sein Handeln als lustvoll / angenehm oder schmerzhaft empfindet.“ Weiterhin hat ihn die Natur mit der Fähigkeit ausgestattet, „dass er seine Handlungen als erfolgreich oder nicht erfolgreich bewertet. Das ist für ihn überlebensnotwendig, da er sonst keine Ziele erreichen könnte“. Auch lässt schon das Kleinkind in seinen Reaktionsweisen Grundformen des logischen Denkens erkennen. Damit sind die Voraussetzungen gegeben, dass der Mensch einen Maßstab für das entwerfen kann, was sinnvoll oder sinnlos, was schädlich oder bekömmlich, was gut oder schlecht ist. Im Laufe seines Lebens erwirbt sich jeder Mensch durch Interaktion und Auseinandersetzung mit seiner spezifischen Umwelt eine „ganz persönliche Organisation von Verhaltensmerkmalen, Eigenschaften, Handlungskompetenzen und Selbstkonzepten und damit auch seine persönliche Wertorientierung.“

„Ob bestimmte Normen und Werthaltungen verhaltensrelevant erscheinen, welche Befähigungen und Fertigkeiten als nützlich und erforderlich empfunden werden, entscheidet sich daher wesentlich an seinen subjektiv und individuell verarbeiteten Sozialisationserfahrungen.“

Alfred Adler nennt diese ganz persönliche Organisation, die das Kind im Laufe der ersten Lebensjahre entwickelt, den „Lebensstil“.

In diesem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung spielen wir Erzieher eine herausragende Rolle, da wir die Interaktionspartner des Heranwachsenden sind und wir die Umgebung massgebend gestalten, die für ihn das Lernumfeld bildet. Also sind wir verantwortlich dafür, welche Werte unseren Kindern vermittelt und dass diese auch in ihrem Gefühl verankert werden, damit sie ihr Denken, Fühlen und Handeln leiten.

Vermittlung ethischer Werte im Erziehungsprozess

Wir Lehrer und Erzieher haben doch eine Vorstellung davon, wie unsere Kinder werden sollen, damit ein gedeihliches Zusammenleben möglich ist. Wir wünschen uns, dass der junge Mensch gegenüber allen Menschen sich anständig verhält, dass er Freude daran hat, einen Beitrag im Haushalt zu leisten und so zum Gelingen des sozialen Ablaufs in der Familie beizutragen. Wenn Not am Mann ist, soll er zuspringen, mit anpacken, helfen. Selbst soll er Hilfe oder Ratschläge von uns annehmen und nicht abwehren. Er soll sich an den Gesprächen der Erwachsenen über die Belange in der Familie, der Gemeinde und der Welt beteiligen, indem er zuhört, mitdenkt, sich interessiert, Fragen stellt und selbst auch Vorschläge macht, wie man helfen kann. Wir möchten, dass er Konflikte friedlich, das heisst ohne Gewalt löst. Und er soll sich für Gerechtigkeit einsetzen. Mit einem Wort: wir wollen, dass er ein guter Mitmensch und Mitspieler wird, der später einmal das Gemeinwesen konstruktiv mitgestalten hilft. Das heisst, wir möchten, dass er sich in seinem ganzen Wesen an Werten wie Frieden und Gewaltlosigkeit, Brüderlichkeit und Verantwortung orientiert.

Deshalb leiten wir das Kind zu wünschenswertem Verhalten an und bestätigen dieses, dagegen sanktionieren wir sozial unerwünschtes, schädliches bzw. destruktives Verhalten. Wir geben deutlich zu verstehen, dass ein Verhalten schädlich für es selbst und andere ist und begründen mit zunehmendem Alter des Kindes unsere Sanktionen. Da jegliches Verhalten des Kindes, ja selbst seine Gefühle und Gedanken zielgerichtet sind, haben wir Erzieher hier ein Instrument in der Hand, mit dem wir die Entwicklung seines Charakters und damit seiner Wertorientierung leiten. Das Kind sucht unsere Anerkennung und Bestätigung und vermeidet negative Reaktionen des Erziehenden. Die Erziehungsstilforschung (Baumrind) hat gezeigt, dass Kinder eher eine prosoziale Grundhaltung entwickeln, wenn sie auf diese Weise mit altersgemässen Anforderungen und ruhiger, aber konsistenter Kontrolle geführt werden. Baumrind nennt das den „autoritativen Erziehungsstil“.

2. Wie greifen die audiovisuellen Medien in den Werte- und Charakterbildungsprozess ein?

Wir alle wissen, die elektronischen Medien sind die heimlichen oder besser gesagt, die unheimlichen Erzieher in unseren Familien und Schulen, unserer ganzen Gesellschaft. Ihr Eingriff in Werte- und Charakterbildung ist mächtig und hat Folgen. Je nach Inhalten lehren sie die Kinder und Jugendlichen   – und übrigens auch viele Erwachsene   – eine Reihe amoralischer und asozialer Unwerte, die den oben genannten Wertvorstellungen von Eltern und Lehrern diametral entgegengesetzt sind und die mit den Grundüberzeugungen einer humanen, zivilisierten Welt unvereinbar sind.

Die Lebensaufgaben stellen hohe Anforderungen an die Heranwachsenden

Die Heranwachsenden   – insbesondere die Jugendlichen   – stehen im jeweiligen Lebensabschnitt vor vielfältigen und hohen Anforderungen: Das Kindergartenkind muss die kleine, vertraute Familiengemeinschaft für einen Halbtag verlassen, sich in eine neue, ungewohnte Gemeinschaft von zum Teil unbekannten Kameraden einleben und den Anweisungen einer neuen Bezugsperson gehorchen.

Das trifft auch auf das Schulkind zu, für das der Eintritt in eine neue Gemeinschaft von Gleichaltrigen, das Erlernen von Buchstaben und Zahlen usw. hohe Anforderungen an seine Gefühle, seinen Mut und seinen Lebensstil stellt, das heisst die Art und Weise, wie es die gestellten Anforderungen angeht.

Kommt das Kind dann in die Pubertät und ins Jugendalter, sind seine Unsicherheitsgefühle noch gesteigert. Der Jugendliche muss jetzt beweisen, dass er kein Kind mehr ist, findet sich aber in der Erwachsenenwelt noch nicht zu Recht. Er ist unsicher gegenüber dem anderen Geschlecht, empfindet sich nicht als richtiger Mann oder richtige Frau. Das Verhältnis zum anderen Geschlecht beschäftigt ihn stark.

Auch die Leistungsanforderungen machen ihm zu schaffen. Er träumt davon, das Lateinvokabelheft nachts unters Kopfkissen zu legen und am nächsten Morgen alle Wörtchen zu können. Kommt er mit einem Klassenkameraden nicht klar, weil der ihn ärgert, weil der viel bessere Noten schreibt oder sich seine heimliche Liebe geschnappt hat, dann wünscht er sich entweder, selbst vom Erdboden zu verschwinden oder den anderen von der Erdkugel zu stossen. In der Klasse oder in seiner Jugendclique möchte er gerne der Grösste sein, der beste Schüler, der beste Sportler, der Beliebteste bei den Mädchen. Und bei allen Aktivitäten will er schnell und problemlos vorankommen. Aber in der Regel hat er nicht genug Mut und Ausdauer, in kleinen Schritten seine Kompetenzen zu entwickeln. Diejenigen, die etwas scheinbar mühelos zustande bringen, bewundert er masslos. Das alles macht ihn hyperempfindlich gegenüber Kritik, Massnahmen, Einschränkungen der Erwachsenen.

Bei einem Versagen des Jugendlichen in einer Lebensaufgabe kann ein Einbruch im Selbstwertgefühl zu einem Abdriften in irritiertes Geltungs- und Machtstreben führen, welches dann mit Hilfe der elektronischen Medien vermeintlich befriedigt wird.

Um ihre Lebensaufgaben zu bewältigen, benötigen die jungen Menschen Mut, Gemeinschaftsgefühl, die Überzeugung, dass andere ihnen wohl gesonnen sind und ihnen gerne helfen, genügend Selbstwertgefühl, dass sie sich helfen lassen und die Fähigkeit zu Freundschaft und Kooperation.

Die destruktive Rolle der elektronischen Medien

All dies vermitteln ihnen die audiovisuellen Medien nicht. Im Gegenteil: Sie verstärken ihre Unsicherheit, ihre Mutlosigkeit und ihre Ängste. Sie treiben sie in die Isolation, gaukeln ihnen aber mit der so genannten Gamercommunity, den Clans, eine Pseudogemeinschaft vor, in der keine wirkliche menschliche Beziehung, kein Vertrauen, keine Freundschaft, keine gegenseitige Hilfe entstehen kann, sondern in der eine gnadenlose Konkurrenz sowie männliche Attribute vorherrschen wie cool, aggressiv, sadistisch, mächtig sein. Der Jugendliche meint, er habe jetzt doch über 100 neue Freunde und versteht nicht, warum er sich trotzdem einsam und innerlich leer fühlt.

Die Schwäche- und Unzulänglichkeitsgefühle, die ihn am Vormittag in der Schule plagen, hat er am Nachmittag am Computer scheinbar nicht mehr. In seiner virtuellen Welt lassen sich alle diese Probleme per Mausklick lösen. Dann kann doch nicht stimmen, was die Eltern und Lehrer immer an ihm auszusetzen haben. Er ist doch ein Superman, ein Nationbuilder, ein Counterterrorist, ein Feldherr, der ganze Heerlager mit Atomwaffen aufrüsten kann, der liebe Gott, der über Leben und Tod entscheidet.

In Wirklichkeit bleibt der Heranwachsende   – ähnlich wie beim Drogenmissbrauch   – in seiner Charakterentwicklung stehen, wächst nicht heraus aus seinen Schwächegefühlen. Im Gegenteil: er regrediert.

Oder wann wird er im Killerspiel aufgefordert, dem Kameraden zu helfen, Mitgefühl mit ihm zu haben, wenn er verletzt ist, mit ihm zu sprechen, ihn zu trösten, ihm Mut zusprechen? Es geht immer ums Töten, Abschlachten, die Bösen verfolgen, sie quälen, foltern, sie hinterrücks meucheln, sie auf dem Grill rösten und mit dem Flammenwerfer verdampfen.

In den weniger brutalen Spielen erlebt er sich als über allen Menschen Stehender, als Deus ex machina, schiebt Völker hin und her, lässt Kriege führen.

Der junge Mensch, der sich den Anforderungen des realen Lebens nicht stellen kann, der ausweicht, findet im Online-Spiel einen „idealen“ Ausgleich, eine Kompensation seiner Insuffizienzgefühle, eine schnelle Befriedigung seiner Bedürfnisse. Auch seine sexuellen Bedürfnisse werden durch die Pornographie schwer irritiert und er gewöhnt sich daran, solche sexuellen Phantasien im Internet auszuleben, wie es z. B. der Amokläufer von Winnenden tat.

In Wirklichkeit wird die Jugend durch die „Pornografisierung des Alltags“ (Kusano) um das Schönste gebracht: die Liebe und die Zärtlichkeit. Allein das ist ein Verbrechen an der Jugend. Der Medienwissenschaftler Werner Glogauer schrieb dazu in unserem Buch einen Beitrag: „Wie Kinder und Jugendliche durch Sexmedien und Pornographie zu Sexualtätern werden.“

Auch die Jugendmusikszene   – namentlich die Hip-Hop-Szene   – vermittelt in ihren Texten nichts als Gewalt, Kriminalität, Drogen, Pornografie, Hass und Intoleranz. Die Texte im Gangsta-Rap kreisen um Gewalt, Waffen, Drogenhandel und das brutale Leben in den Vororten der Grossstädte, wo man auf niemanden Rücksicht nimmt und nur die eigene Clique schützt. Sie werden von der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ als „jugendgefährdend“ eingestuft, weil sie sexistisch, gewaltverherrlichend, schwulen- und frauenfeindlich sind. (Ulfkotte)

Als Beispiel ein Auszug aus dem Lied „Arschficksong“ vom deutschen Rapper Sido, das in Tausenden Kinderzimmern lief und sogar in den deutschen Charts war:

„Es fing an mit 13 und ner Tube Gleitcreme / Da braucht man nicht erst lockern, sondern kann ihn gleich reinschieben / Kathrin hat geschrieen vor Schmerzen, mir hats gefallen (…) ihr Arsch hat geblutet, und ich bin gekommen. Seit diesem Tag singe ich den Arschficksong. “

Je gewalthaltiger die Bilder, die Sprache und die Handlungen der audiovisuellen Medien sind, je früher Kinder gewalthaltige Medien konsumieren und je häufiger sie das tun   – so die Ergebnisse der seriösen Medienwirkungsforschung   –, desto verheerender wirkt sich diese Mediengewalt auf die Charakterentwicklung der Heranwachsenden aus.

Zu den Ergebnisse deutscher Langzeitstudien, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem exzessiven Gewaltmedienkonsum und der Jugenddelinquenz sowie der Jugend- und Erwachsenenkriminalität herstellen, siehe u. a. Hopf et al.:

„Media Violence and Youth Violence. A 2-Year Longitudinal Study“. In: Journal of Media Psychology 2008; Vol. 20 (3): 79-96.

Fassen wir zusammen

Die überwiegende Mehrheit der internationalen Medienwirkungsforscher und Kriminalpsychologen kommt zu dem Ergebnis, dass Mediengewalt   – und die allermeisten Spiele, die die Jugendlichen heute benutzen, enthalten Gewalt in verschiedener Ausprägung   – über ihren Einfluss auf Gefühle, Gedanken und Einstellungen in Richtung Feindseligkeit, Macht-, Rache- und Gewaltphantasien einen machtvollen Beitrag zur Entstehung von Kinder- und Jugenddelinquenz sowie Erwachsenenkriminalität leistet. Das heisst, solche Inhalte, die die elektronischen Medien vermitteln, haben einen äusserst schädlichen Einfluss auf die Charakter- und Wertebildung von Jugendlichen.

Damit sind die meisten Inhalte der audiovisuellen Medien, die Jugendliche konsumieren, dem Friedensanliegen als ethisches Ziel in Erziehung und Gesellschaft diametral entgegengesetzt und drängt dieses in den Hintergrund; denn sie führen dazu, dass Gewalt leichtfertiger angewandt wird im Leben des Einzelnen und im Zusammenleben der Menschen und Völker. Hier liegt die Vermutung nahe, dass junge Menschen so bereit gemacht werden, sich an den immer weiter sich ausufernden Kriegen der Welt zu beteiligen.

3. Wie können Eltern, Erzieher, Lehrer und andere gesellschaftlich Verantwortliche gegensteuern?

Wir Erzieher überlassen es natürlich nicht dem Zufall, an welchen Werten und Vorbildern sich unsere Kinder und Jugendlichen orientieren, wenn wir eine Generation heranziehen wollen, die einmal konstruktiver Gestalter eines friedfertigen und mitmenschlichen Gemeinwesens sein soll. Unsere Überbetonung der so genannten Selbstverwirklichung, des Spaßhabens als Lebensziel in der Fun-Gesellschaft und unsere fehlende Stellungnahme bei destruktiven, egoistischen Haltungen unter dem Einfluss der Ideologien der 68er hat bei vielen Heranwachsenden zu Egozentrik und mangelnder Berücksichtigung der Belange der Mitmenschen geführt.

In der Erziehung muss der Schwerpunkt heute deshalb mehr denn je auf andere Ziele gelegt werden, nämlich auf die Fähigkeit zu sozialer Anteilnahme, Verantwortung und Einsatzbereitschaft für das Gemeinwohl.

Prosoziale Werthaltungen werden durch eigene Aktivität gefestigt

Damit sich prosoziale Werthaltungen im Heranwachsenden festigen, braucht es seine eigene Aktivität. Er muss positiv handeln und fühlen können und Genugtuung und dankbares soziales Echo bei echten Handlungen erleben. Belehrungen allein haben da wenig Effekt.

Schon ganz kleine Kinder können etwas für das Gemeinwohl beitragen, wenn wir es ihnen nur zutrauen und es als selbstverständlichen Beitrag einfordern, ob in der Familie, im Klassenzimmer oder auf Gemeindeebene. Zum Beispiel wird durch die Mithilfe des Kindes im Haushalt der soziale Ablauf in der Familie gestärkt und beim Kind ergibt das eine Festigung des Selbstwertgefühls. („Unsere Familie funktioniert und ich trage meinen Teil aktiv bei!“) So macht die vierjährige Tochter eines Kollegen schon jeweils eine sehr gute Salatsosse und ist stolz darauf. In einem anderen befreundeten Haushalt bringen die Töchter der pflegebedürftigen Grossmutter, die mit im Haushalt wohnt, nach dem Abendessen ein Schälchen Kompott und einmal pro Woche besuchen sie eine kranke Nachbarin, backen ihr einen Kuchen oder pflücken einen Blumenstrauss.

Die Familiengemeinschaft besteht nämlich nicht nur aus den Eltern, das müssen wir unsere Kinder klar und deutlich wissen lassen. Dass wir ihnen daher nicht überbemüht jede Anstrengung abnehmen, versteht sich von selbst.

Und in einer afrikanischen Familie unserer Bekanntschaft mit fünf Kindern hat jedes Kind seine Aufgabe im Sozialablauf: eines ist für die Wäsche, eines für das Kochen, zwei sind für die jüngeren Geschwister und eines ist für den Einkauf zuständig.

In unserer Wohngemeinde sammeln Primarschulkinder zusammen mit einem pensionierten Landwirt und dessen Traktor mit Anhänger regelmässig Altpapier ein, das wir gebündelt vor die Haustüre legen. Sie haben grosse Freude dabei, nicht nur, weil dafür der Unterricht ausfällt. Dank ihrer Arbeit ist es sauber im Dorf und den älteren Mitbürgern wird der Weg zum Papiercontainer erspart.

Diese mitmenschlichen Aktivitäten im wirklichen Leben fördern den Stolz und das Selbstbewusstsein der Kinder auf realistische Weise, sie verfestigen die positiven Anteile ihres Charakters und stärken damit ihre ganze Persönlichkeit.

Auch im Leben des Jugendlichen können positive Werthaltungen in einem aufrichtigen zwischenmenschlichen Austausch mit seinen Eltern und Lehrern noch aktiv entwickelt und bestätigt werden. Wir wissen von Jugendlichen in meiner Gemeinde, die in Nothelferkursen Werthaltungen lernen wie Verlässlichkeit, gegenseitige Hilfe, Solidarität, Sorgfalt und Fürsorge. Sie nehmen an diesen Kursen freiwillig teil, bekommen dafür kein Geld, leisten aber einen Dienst an Dritten. Ihre Motivation ist das Gefühl der Mitmenschlichkeit und sich für wichtige ethische Werte der Gesellschaft einzusetzen.

Die Erfahrung, auf der nützlichen Seite des Lebens zu stehen, stärkt diese Jugendlichen. Ein 14jähriger meinte nach dreiwöchigem Schlamm-Schaufeln in einem Überschwemmungsgebiet: „Das war die schönste Zeit in meinem Leben!“ Auch das Engagement als Rettungssanitäter beim Jugend-Rotkreuz oder als junges Mitglied bei der freiwilligen Feuerwehr bedeuten Abenteuer und Stolz auf den konstruktiven Beitrag. Der Vater könnte seinen Sohn z. B. auf folgende Weise zu einem solchen Engagement einladen: „Ich möchte etwas für unsere Gemeinde tun. Ich mache bei der freiwilligen Feuerwehr mit   – und wo würdest Du gerne mithelfen?“

Viele Jugendliche engagieren sich in Projekten für den Frieden in der Welt oder leisten einen materiellen oder ideellen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen in Entwicklungsländern. Die DEZA („Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit“) hat kürzlich Projekte im Rahmen einer Kampagne „Von Jugend zu Jugend“ ausgezeichnet. Ein Projekt, das einen Preis erhielt, bestand darin, zusammen mit Jugendlichen aus Burkina Faso ein Kreditwesen für eine Dorfgemeinschaft zu entwickeln. Computer und Internet waren hierbei unerlässliche Hilfsmittel.

Wenn solche Jugendliche sich mit elektronischen Medien beschäftigen, werden sie eine andere Auswahl treffen. Ihre Aktivität ist dann in ein gefestigtes Wertgefüge eingebettet. So erwerben sie Medienbildung (Ostbomk-Fischer), nicht Medienkompetenz. Diese schliesst Herzensbildung mit ein.

Die Schule muss helfen, Medienbildung zu vermitteln

Es ist die Aufgabe der Schule, die Fähigkeit der Heranwachsenden zu fördern, die Möglichkeiten, aber auch die Risiken der modernen Medien und deren Wirkung auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu erkennen und einschätzen zu können. Unserer Meinung nach kann man die Heranwachsenden nicht früh genug für die Mechanismen der Manipulation sensibilisieren.

In den 70er / 80er Jahren war das ein Pflichtprogramm für uns Lehrer. Auch heute sind Jugendliche ansprechbar für dieses Thema, weil sie sich nicht gerne manipulieren lassen, weil sie es nicht gerne haben, dass man mit ihnen macht. Wenn man sie über diese Mechanismen aufklärt, gehen sie gerne mit und entwickeln eine innere Abwehr dagegen.

Einige Anregungen

Kürzlich hat die „Neue Zürcher Zeitung“ einen Ordner mit Lektionen „Zeitung in der Schule   – Lesen macht gross““ schon für die Kleinen in der Primarschule angeboten. Daraus kann der Lehrer eine Unterrichtseinheit mit folgenden drei Schritten entwickeln:

  1. Was für Medien gibt es überhaupt?
  2. Wie können Medien manipulieren und was tut man, wenn man manipuliert wird?
  3. Was tun die elektronischen Medien mit den Menschen überhaupt?

Wertorientierung gehört in alle Schulfächer

Eine prosoziale Schulkultur wird auch das Selbstwertgefühl der Schüler stärken und so die notwendige Grundlage für ihre Wertentscheidungen bilden. Angesichts der allgemeinen Werteunsicherheit, des Wertepluralismus und des Werteverfalls in heutiger Zeit muss die Schule dem Thema Werteorientierung mehr Aufmerksamkeit schenken und sie bewusster planen.

Wohl aus diesem Grund hat Bayern bereits Ende 2006 unter dem Motto „Werte machen stark“ an allen Schulen des Landes die Initiative „Werteerziehung“ gestartet, die bis heute anhält. Angestrebt wurde in Anlehnung an Brezinka eine „Werteinstellungserziehung“, die auf die „Vermittlung überindividueller Normen“ abzielt. Die Forderungen und Anregungen, die im Rahmen dieser Initiative erhoben und gegeben wurden, können Anregung sein auch für Werteerziehung von Schule allgemein.

Lesen Sie das im Einzelnen nach unter
www.werte.bayern.de

Beiträge weiterer gesellschaftlicher Kräfte

Zuletzt möchte ich noch auf weitere gute Initiativen hinweisen. So hat das bayerische Kultusministerium bereits 2003 LAN-Parties und gewalthaltige Computerspiele in schulischen Räumen untersagt aufgrund von Beeinträchtigungen der Schüler und Begleiterscheinungen, die den schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag negativ beeinflussen. Andere Bundesländer   – z. B. das Saarland   – haben einen Anstandsunterricht fest in ihre Stundenpläne eingebaut.

Die Landes- und Stadtpolizei Zürich und Winterthur hat 2006 aufgrund von Vorfällen mit Gewaltfilmen auf Schülerhandys in Zusammenarbeit mit dem kantonalen Volksschulamt Zürich mit einer Präventions-Kampagne bei Lehrern und in der Öffentlichkeit ein sehr positives Echo gefunden. Der Slogan auf den Plakaten hiess: „Gwalt isch feig! Hilf mit, gemeinsam die Gewaltkette zu durchbrechen. Sprich darüber! Hilf mit, andere vor Gewalt zu schützen. Handle gewaltfrei! Bleib nicht stumm! Lehrpersonen, Eltern und Polizei helfen dir. Bliib suuber! Kei Gwalt uf diim Compi und Handy. Gwalt isch feig.“

Erst vor kurzem hörten wir von einem Kollegen aus Berlin, dass Polizisten   – als ordnende Kraft in unserer Gesellschaft   – im Stadtteil Spandau schwierige Jugendliche am Abend mit auf Streife nehmen, die ihnen dann helfen, zu anderen herumhängenden Jugendlichen auf öffentlichen Plätzen Kontakt herzustellen. Auch Fussballturniere organisieren diese Polizisten in angemieteten Hallen mit solchen heimatlosen Jungen.

Und noch ein schönes Beispiel: Der Verband der Berliner Kaufleute gründete eine „Lesehilfe“ für Berliner Grundschulen und demnächst auch für Oberschulen. Dabei unterstützen Hunderte von Rentnern als „Lesepaten“ Lehrer in ihrer fachlichen und pädagogischen Arbeit. Durch das Vertrauensverhältnis, das sie zu den Kleinen aufbauen, machen diese Fortschritte im Lern- und Sozialverhalten. Sie zeigen Anstand gegenüber ihren Helfern und verbessern ihre Schulleistungen. Eine nachahmenswerte Idee auch für andere Städte.

Was noch fehlt, ist, dass sich auch Politiker um das Wohl der Jugend verdient machen. So versprachen die Koalitionäre im Koalitionsvertrag vom 11.11. 2005 unter Punkt 6.3. „Aufwachsen ohne Gewalt“, dass sie „den Schutz von Kindern und Jugendlichen nachhaltig verbessern wollen, weil die aktuellen Regelungen angesichts der rasanten Entwicklungen im Bereich der Neuen Medien noch nicht ausreichend sind, um den wachsenden Gefährdungen junger Menschen auf dem Mediensektor wirksam entgegenzutreten.“ Passiert ist wenig. Kein Verbot der Produktion und des Vertriebs von Killerspielen, kein ausreichender Schutz unserer Jugend. Es sieht so aus, als wäre das Gegensteuern vorerst uns überlassen.

4. Wie können wir mit unseren Kindern und Jugendlichen ein Bündnis schliessen?

Zum Abschluss wollen wir kurz andeuten, welche Haltung es bei uns Erwachsenen braucht, um unsere Kinder und Jugendlichen zur Kooperation im Mitmenschlichen zu gewinnen: Nur wenn sie ihr Misstrauen uns Erwachsenen gegenüber aufgeben können, werden wir sie vom destruktiven Weg abbringen und auf unsere Seite ziehen können.

Ganz sicher müssen wir sie als gleichwertige Kameraden nehmen, nicht als Kinder, sonst vertrauen sie uns nicht, fühlen sich unterschätzt und sind gekränkt.

Auf Massnahmen sollten wir möglichst verzichten, weil Heranwachsende Massnahmen hassen.

Was hilft, ist, Verantwortung einzufordern, die der Jugendliche übernehmen muss. Dann spürt er, dass wir ihm etwas zutrauen.

Wir sollten einen echten Beitrag für das Gemeinwohl einfordern. Das stärkt den Heranwachsenden in seinem Selbstbewusstsein. Es darf keine Spielerei sein, kein „pädagogischer Kniff“.

Und wir leben vor, was wir von ihnen verlangen und laden sie ein, mit uns gemeinsam aktiv zu werden.

Es ist günstig, sie von ihrer positiven Seite zu nehmen, an ihren vorhandenen Stärken anzuknüpfen. Solche Stärken hat jeder. Wir müssen sie nur wahrnehmen.

Einfordern sollten wir auch, dass sie wieder zuhören, wenn es um ihr Wohl und das Wohl des Ganzen geht.

Verbieten können wir einem Jugendlichen den Computer nicht. Er braucht ihn ja für die Schule und für den späteren Beruf. Und wir schwächen ihn, wenn wir ihm den Computer einfach verbieten, weil wir damit unser Misstrauen zum Ausdruck bringen, dass er selbst aufgrund eigener Einsichten nicht in der Lage ist, etwas Destruktives wie zum Beispiel das Spielen gewalthaltiger Computerspiele abzulehnen.

Was wir auch versuchen können, ist, ihn bei seinem Stolz, bei seiner Ehre zu packen: „Du wirst doch nicht der milliardenschweren Spieleindustrie Deine kostbare Zeit opfern! Du hast doch Besseres zu tun. Komm,…“

Wie auch immer, wir müssen einen Weg finden, unsere Jugend für die Kooperation zu gewinnen:

„Wer in der Kinderstube, in der Familie nicht für die Gesellschaft und für die Mitarbeit gewonnen wird, wird fortan auf unsozialen Wegen gefunden werden. Kann ihn die Schule auch nicht erlösen, erschwert sie ihm vielleicht wissentlich oder ohne ihr Wissen die Einkehr zur Mitarbeit, so leistet sie seinen Vorbereitungen zu Verwahrlosung Vorschub. Sie macht sich mitschuldig, wenn sie dem Kind die Abkehr von der Mitarbeit erleichtert. Es bleiben dann dem Kinde nur wenige Möglichkeiten übrig. Unter ihnen ist die Verwahrlosung die greifbarste und verlockendste.“

(Alfred Adler, in: „Soziale Praxis“, Wien 1921).

Thesen

  • These 1: Es gibt keine Erziehung ohne Wertevermittlung. Charakterentwicklung und Werteerziehung gehen Hand in Hand.
  • These 2: Viele von elektronischen Medien transportierte Inhalte vermitteln unseren ethischen Werten entgegen gesetzte (Un)Werte.
  • These 3: Eltern und Schule müssen ethische Wertorientierungen legen und stärken, die auf das Gemeinwohl gerichtet sind.
  • These 4: Wir werden die Jugend nur zur Kooperation gewinnen, wenn wir mit ihnen auf gleichwertiger Ebene ein Bündnis für Menschlichkeit eingehen.

Literatur

  • Baumrind, D. (1987). A Developmental Perspective on Adolescent Risk Taking in Contemporary America. In: Irwin, C. E. (ed.). Adolescent Social Behavior and Health. New Directions for Child Development. San Francisco, P. 93   – 121. [Übersetzung: Renate Hänsel]
  • Glogauer, W. (2006). Wie Kinder und Jugendliche durch Sexmedien und Porno-graphie zu Sexualtätern werden. In: Hänsel, R. u. R. (Hrsg.) (2006-2). S. u.
  • Hänsel, R. u. R. (Hrsg.) (2006-2). Da spiel ich nicht mit! Auswirkungen von „Unterhal-tungsgewalt“ in Fernsehen, Video- und Computerspielen   – und was man dagegen tun kann. Eine Handreichung für Lehrer und Eltern. Donauwörth: Auer.
  • Hentig, H. v. (1999). Ach, diese Werte   – Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert. München/Wien.
  • Kusano, L. (2009).Sexuelle mediale Gewalt. Der „Arschfickersong“ (www.vgmg.ch)
  • “Medienbildung“ (www.gwg-ev.org).
  • Ostbomk-Fischer, E. (2008). Menschenbild und Medienbildung. In: gwg.ev 1/08
  • Schneider, H. J. (2002). Vorbeugung gegen tödliche Schulgewalt. In: forum kriminalprävention 4/2000, S. 26   – 28.
  • Staub, E. (1979). Positive Social Behavior and Morality. Vol. 2. Socialisation and Development. New York. [Übersetzung: Renate Hänsel]
  • Wiater, W. (2003). Wertorientiert denken und handeln lernen. In: Katholische Erziehergemeinschaft (Hrsg.). Christ und Bildung 04/2003, S. 4   – 9.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling