Das Wohlergehen aller sicherstellen - mit allen zusammen

15. April 2013

Das Wohlergehen aller sicherstellen   – mit allen zusammen

ein Interview mit Professor Dr. Françoise D. Alsaker, Universität Bern

Zeit-Fragen: Frau Professor Alsaker, wir haben die Materialien studiert, die Sie entwickelt haben. Sie sind mit Herzblut geschrieben und vom Gefühl für die Kinder getragen. Da stellt sich natürlich auch die Frage, wie Sie auf dieses Gebiet gestossen sind.

Professor F. Alsaker: Ich bin durch Forschung darauf gekommen, und zwar habe ich mich in meiner Dissertation mit dem Selbstwert befasst. Während des Studiums habe ich mich eher mit Depression und ähnlichen Problemen beschäftigt. Dann ging ich zur Erforschung des Selbstwerts über und untersuchte, was den Selbstwert von Jugendlichen, das heisst bei 10- bis 16jährigen, beeinflusst. Da habe ich zuerst die üblichen Themen untersucht, wie Pubertät, Schulleistungen usw. Ich arbeitete mit Dan Olweus zusammen, der Pionier im Bereich Mobbing ist.

Im Projekt waren sehr viele Daten zu Mobbing, und ich merkte, dass, sobald ich Mobbing in die Selbstwertproblematik einbezog, die anderen Sachen fast keine Rolle mehr spielten. Das heisst, dass die Erfahrungen von Mobbing, also gemobbt zu werden, so stark waren, dass alle anderen Einflussfaktoren, die den Selbstwert beeinflussen, in den Hintergrund traten. Daraufhin habe ich angefangen, mehr Daten zu analysieren, diese Fragen zu vertiefen und irgendwann angefangen zu denken: Wir wissen eigentlich nur etwas ab einem Alter von 10, 11 Jahren. Aber wie ist es denn überhaupt in früheren Jahren? Also, wenn wir den Kindern den Schutz geben wollen, den sie verdienen, dann müsste man eigentlich schauen, was im Vorschulalter geschieht.

Bei den jüngeren Altersgruppen wurde bis dahin nichts gemacht, weil man immer mit Fragebogen gearbeitet hatte. Das kann man mit kleinen Kindern nicht machen. Ich habe mit einer interessierten Studentin mit Beobachtungen angefangen. Wir sind in Kinderkrippen gewesen. Wir haben nicht die allerjüngsten Kinder beobachtet und befragt, sondern mit den 4½ bis 6jährigen angefangen. Und auf Grund der Interviews mit den Kindern und den Betreuerinnen haben wir tatsächlich etwas gefunden, was sehr ähnlich dem Mobbing in der Schule war. Unsere Instrumente waren noch nicht so gut, und es gab noch viel Arbeit zu machen. Aber wir fanden zum Beispiel heraus, dass Eltern von Kindern, die ausgeschlossen wurden, sagten, dass ihre Kinder gestresst waren. Sie waren anhänglich, hatten Kopfweh und Bauchweh.

Es gab also tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem, was die Betreuerinnen in den Kinderkrippen sahen, und dem, was die Eltern über ihre Kinder sagten. Das war für mich der Anfang für ein vertieftes Interesse für die jüngere Gruppe. Aber eben, das war der Anfang, und als ich in die Schweiz kam, es war 1992, hatte ich die Möglichkeit, Kurse zur Prävention von Mobbing zu geben. Ich arbeitete damals mit dem Programm von Olweus. Das war das eine, und dann sah ich die Möglichkeit, ein Projekt einzugeben, um eine grössere Studie zu Mobbing im Kindergartenalter zu machen.

Das war ein Nationalfondsprojekt?

Ja, das war das erste. Ich habe eigentlich zwei grössere Projekte zu Mobbing im Kindergarten geleitet. Eines 1997, das ich damals mit zwei Doktoranden durchführte, die heute Kollegen sind, Stefan Valkanover und Sonja Perren. Das Programm Be-Prox habe ich vor allem mit Stefan Valkanover entwickelt.

Wir wollten ein Programm entwickeln, das den Alltag der Lehrperson berücksichtigt. Wir wollten ihnen nicht nur eine Broschüre geben und sagen, so und so geht man vor. Es gab für uns bei der Programmentwicklung zwei wichtige Schlüsselwörter: praxisnahe Arbeit und Flexibiltität. Wenn etwas gebraucht werden soll, muss es sich auch in den Alltag einfügen können. Ein anderes wichtiges Prinzip war, dass wir stark auf die Handlungsfähigkeit der Lehrpersonen eingehen wollten. Stefan Valkanover selber ist auch Lehrer gewesen, und für uns war es wichtig zu sagen: Die meisten Leute hätten eigentlich Handlungsmöglichkeiten, nur sehen sie diese nicht. Diese müssen auf jeden Fall gestärkt werden. Das war eben ganz wichtig für uns, dass wir eine Art Zusammenarbeit mit den Kindergarten-Lehrpersonen eingingen, die mitmachten.

Sensibilisierung   – Mobbing ist ein sehr grosses Problem für alle Kinder

Könnten Sie das Be-prox-Programm kurz vorstellen?

Im Februar erscheint ein neues Buch von mir, in dem das detailliert dargestellt wird. Im Teil zu Be-prox werden die 6 Schritte des Be-Prox-Programms beschrieben.

Der erste Schritt ist zuerst einmal das, was ich Sensibilisierung nenne. Das heisst, ich muss mir klar werden, dass Mobbing ein sehr grosses Problem für alle Kinder ist. Dies nicht nur für diejenigen, die gemobbt werden, sondern auch für die Kinder, die Mobbing miterleben müssen. Man muss sich klar werden, dass die Erwachsenen eine sehr wichtige Rolle dabei spielen und dass sie eine sehr grosse Verantwortung haben. Nicht unbedingt für das Entstehen von Mobbing, auf jeden Fall aber für das Aufrechterhalten von Mobbing. Und das heisst, dass sie auch die Möglichkeit haben, sehr früh zu intervenieren und Mobbing zu stoppen. Sehr früh, das heisst, bevor es zu einem verfestigten Problem wird. Diese Bewusstmachung gehört zur Sensiblisierung. Das ist der Schritt, bei dem wir klar sagen, dass man sich entscheiden muss, ob man gegen Mobbing arbeiten will oder ob man es nicht will.

Hinschauen lernen   – Mobbing in all seinen Ausprägungen erkennen

Der zweite Schritt heisst Hinschauen lernen. Man muss tatsächlich alle unschönen Finessen von Mobbing kennenlernen oder auf jeden Fall lernen, sie zu erkennen, speziell das Muster von Mobbing. Und das diskutieren wir mit den Lehrpersonen am meisten. Es gibt kein Element, bei dem man sagen kann, wenn das vorkommt, dann ist es Mobbing. Mobbing ist abhängig von sehr vielen Handlungen, Machtspielen usw. Das heisst, in dieser Phase muss man auch beobachten lernen. Wie man das macht, ist eigentlich immer sehr individuell.

Ansprechen   – das Schweigen brechen

Der dritte Schritt ist das Ansprechen. Man muss mit den Kindern, mit den Schülern über die Thematik reden. Das heisst, das Schweigen brechen, weil eben ein wichtiger Bestandteil von Mobbing das Schweigen ist. Mobbing lebt tatsächlich sehr viel vom Schweigen, und deshalb ist es wichtig, dass man das Schweigen bricht. Und es gibt natürlich sehr viele Möglichkeiten. Die Erfahrung, die wir im Laufe der Jahre gemacht haben, ist, dass viele Lehrpersonen etwas Angst davor haben, über Gewalt und über Mobbing zu reden. So, als ob es erst entstehen würde, wenn man darüber redet. Relativ viele haben das Gefühl, bei mir läuft alles sehr gut, und wenn ich darüber reden sollte, dann wird es erst zum Problem werden.

Das Problem, dass viele wegschauen, statt etwas anzusprechen?

Ja, genau. Und die Angst davor, über schwierige Dinge zu reden. Also irgendwie, was wird geschehen, wenn ich in der Klasse anfange, über Mobbing zu reden? Und da haben wir auch angefangen zu sagen, dass man nicht unbedingt damit anfangen muss, direkt über Gewalt zu reden, sondern dass man auch über gute Gefühle reden kann. Man kann auch darüber reden, was Freude macht in der Klasse, im Zusammensein mit den anderen Kindern, und von da aus kann man darüber reden, dass es andere Dinge gibt, die nicht so viel Freude machen usw. Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht. Das war der dritte Punkt, «darüber reden», «Gewalt thematisieren». Dazu gehört auch, darüber zu sprechen, dass Mobbing nicht nur ein Problem von einem Opfer und einem Mobber ist, sondern dass alle Mitverantwortung tragen.

Das Wohlergehen aller durch einen gemeinsamen Vertrag festhalten

Der vierte Schritt besteht darin, einen Vertrag mit den Schülern und Schülerinnen zu besprechen. Es geht darum, sich einig zu werden, wie man miteinander umgehen sollte, damit das Wohlbefinden von allen gesichert ist. Man muss sozusagen abmachen, dass man negative Verhaltensweisen unterlassen sollte, aber auch den Blick auf das Positive behalten. Also: «was hätten wir gerne», «was gibt ein gutes Gefühl in der Klasse» usw. Und wir betonen natürlich immer, dass der Vertrag eine Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern sein muss. Nicht einfach Regeln, die auf den Tisch gelegt werden. Es muss ein Mitverantwortungsgefühl entstehen; das Partizipative ist ganz wichtig.

Das heisst, dass man die Schüler ernst nimmt in dieser Situation.

Ja, genau.

Nicht wir regeln etwas für euch, sondern die Kinder als Partner müssen ihren Beitrag leisten.

Ja, genau. Wir regeln das zusammen, und das ist es an und für sich auch, wenn wir vom Thema Intervention reden, wir müssen das zusammen regeln. Und nicht die Schüler oder wir allein. Das muss wirklich gemeinsam geschehen. Und da haben wir erlebt, dass sowohl Kinder im Kindergarten als auch ältere Schüler es wirklich ernst nehmen. Das ist «ihr» Vertrag, es wird unterschiedlich genannt, Charta, Abmachung usw. Aber sie unterschreiben oder zeichnen alle, und das wird ernstgenommen.

Konsequent darauf achten, dass der Vertrag eingehalten wird

Das nächste ist   – das wäre dann der fünfte Punkt -, wenn man schon einen Vertrag hat, muss man dafür sorgen, dass dieser Vertrag auch durchgesetzt wird und eingehalten wird; und da kommen wir wieder zu einem ganz schwierigen Thema: Konsequent sein, konsequent handeln, und das bedeutet auch Sanktionen ergreifen. Aber Sanktionen sind in unserer Sprache nicht nur etwas Negatives. Sanktionen können auch positiv sein. Zum Beispiel sollte man auch konsequent positiv auf das Einhalten des Vertrags reagieren. Und wenn der Vertrag nicht eingehalten wird, gibt es eine klare Intervention. Das ist ja klar. Wenn der Vertrag da ist und niemand sich darum kümmert, ob er eingehalten wird, dann ist der Vertrag sinnlos.

Für die Kinder ist das etwas sehr Wichtiges, dass sie merken, der Erwachsene übernimmt mit ihnen zusammen auch den Schutz von allen. Viele Kinder sind sich das heute gewohnt, es gibt viel leeres Gerede, leere Drohungen ...

Genau. Die Eltern auch, von allen Erwachsenen kommen viele leere «Drohungen», die nicht einmal nötig wären und auch nicht eingehalten werden. Aber die Konsequenzen, die angedroht werden, werden von den Kindern auch ignoriert. Sie denken: Ja, ja, es beruhigt sich irgendwann.

Für das Gefühl des Kindes ist es etwas Wichtiges, dass es merkt, mein Wort gilt, aber auch das des anderen gilt. Das ist auch ein gesellschaftlicher Ablauf, dass man weiss, ich kann mich auf das verlassen, was der andere sagt. Das ist für die Grundbefindlichkeit des Kindes etwas sehr Wichtiges.

Genau. Das ist Teil von diesem «Konsequent- Sein». Aber wie gesagt, das ist ein Teil, der vielen auch sehr schwer fällt. Und die Erfahrung zeigt, dass die Lehrpersonen, die es auch wirklich durchführen, sagen, dass es am Anfang, ein wenig mehr Arbeit gibt. Man muss voll dabei sein und man muss immer hinschauen und dann auch tatsächlich konsequent sein. Dass man eher Lust hat, nichts gesehen zu haben, das ist verständlich, aber wenn man konsequent handelt, erntet man nachher die Früchte dieser konsequenten Haltung. Diese Erfahrung machen diejenigen, die auch durchhalten.

Ein Kind, das schon gelernt hat, sich so durchzusetzen und daraus einen Lebensstil entwickelt, gibt diesen nicht so schnell auf.

Ja, das ist richtig.

Wenn man als Erwachsener nicht konsequent ist, dann ändert es nichts für das Kind. Man muss wissen, dass es nicht reicht mit einer schnellen Entschuldigung. Sie sagen oft: «Entschuldigung, ich mach' es nie mehr. Ich habe es nicht extra gemacht, es war nur ein Spass.» Sie denken, es sei damit erledigt, und fahren schon bald genau gleich fort.

Ja, genau. Das haben wir häufig gesehen. Wie wichtig das konsequente Verhalten ist, haben wir mehrfach in unseren Kursen erlebt. Zum Beispiel haben wir gemerkt, dass einige Lehrpersonen, die nach einem konsequenten Einsatz merkten, dass es etwas gebracht hatte, in ihren Bemühungen nachliessen. Und häufig geschah genau das, was Sie gesagt haben, es fing wieder von vorne an. Dann bekamen einige Lehrpersonen das Gefühl, «es nützt doch nichts». Da war es sehr wichtig, dass wir da waren und sie abholten und mit ihnen über die Situation reflektierten: was war eigentlich passiert? Die meisten merkten dann, dass sie selber nicht mehr konsequent hinschauten und reagierten. Bei vielen kam natürlich das Gefühl: «Ja, muss man denn die ganze Zeit dran bleiben?!»

... und strikt sein!

Genau, und dann war es interessant zu beobachten, dass sich die Teilnehmer klar wurden, sie mussten die Situation wieder unter Kontrolle bekommen, und dann auch merkten, «jetzt verbessert sich die Situation und die ganze Stimmung». Das gibt natürlich ein Kompetenzgefühl. An und für sich ist es gut, wenn man merkt: «Ich habe es eigentlich doch in der Hand. Natürlich nie 100%ig, aber ich habe da viel zu sagen.»

Die Ressourcen stärken

Der letzte Schritt in unserem Programm handelt von dem Stärken von Ressourcen. Man muss auch die sozialen Kompetenzen der Kinder stärken. Man weiss inzwischen, dass die Mobber an und für sich ganz gute soziale Kompetenzen haben, im Sinne von sozialer Intelligenz, sie wissen sehr wohl, was in der Gruppe geschieht, sie verstehen die Emotionen der anderen usw. Was ihnen fehlt, sind eher die Normen und die Motivation, die moralischen Werte umzusetzen. Das heisst, man muss ihre Kompetenzen nicht generell stärken.

Man könnte zum Beispiel bei den Opfern von Mobbing das Neinsagen oder die Kompetenz, eigene Grenzen respektieren zu lassen, üben. Und bei den mobbenden Kindern muss man tatsächlich auch mit moralischen Normen und Regeln arbeiten. Ein Problem ist auch die Empathie, die bei Mobbern relativ oft fehlt. Sie haben zwar ein normales Verständnis von Emotionen, aber irgendwie Mitgefühl mit dem Opfer haben sie kaum. Ob man das so leicht ändern kann, ist eine offene Frage. Es ist, soweit ich weiss, nicht durchgehend untersucht worden. Aber was man machen kann, ist die Empathie der anderen Kinder zu stärken. Also der Kinder, die nicht direkt involviert sind, aber die sehr grosse Ressourcen in der Gruppe repräsentieren. Ich denke, dass mit dem Stärken von vorhandenen Ressourcen bei den Kindern, die nicht involviert sind, bereits viel erzielt werden kann.

Es gibt viele Kinder, die sagen, ich habe es schon gemerkt, aber ich habe ja nichts gemacht.

Genau. Es ist die grosse Gruppe der passiven Zuschauer. Die Arbeit mit Zivilcourage gehört auch zu diesem sechsten Schritt im Programm. Viele Kinder, die am Rande sind, fühlen sich auch sehr unwohl bei Mobbingvorfällen, aber sie wissen nicht richtig, was tun. Dass die Kinder lernen, ihre Mitverantwortung zu sehen, ist wichtig: «Da kann jeder etwas machen.» Durch die Arbeit mit dem Vertrag und die Gespräche darüber, was man machen sollte, wenn der Vertrag nicht eingehalten wird, bekommen alle Kinder eine Möglichkeit zu handeln. Dann heisst es zum Beispiel, alle sollen versuchen, Mobbingvorfälle zu stoppen, und wenn man es nicht selber stoppen kann, dann soll man die Lehrperson holen. Das heisst, man hat durch den Vertrag und das abgemachte konsequente Handeln auch eine klare Aufgabe.

Man kann vieles in der Gruppe stärken, was das Entstehen von Mobbing erschwert. Man kann dahin arbeiten, dass keine Kinder ausgeschlossen werden. Mein Kollege Stefan Valkanover, der Sportlehrer gewesen ist, betont zum Beispiel, wie wichtig es ist, die Einteilung in Teams beim Sport nie einfach den Kindern zu überlassen. Es ist die Aufgabe der Lehrperson, Teams zu bilden. Es sind eigentlich sehr viele kleine Sachen, die schlussendlich die Stimmung in einer Gruppe ausmachen.

Im Lehrmittel des Roten Kreuzes über das Humanitäre Völkerrecht ist das ziemlich genau herausgearbeitet, was Sie sagen. Der Mensch ist immer Zeuge, bei jeder Mobbingsituation ist er immer Zeuge, und er muss lernen, im ethischen Sinne zu handeln. In dieser Schrift sind konkrete Situationen aus dem Schulalltag und aus der Umwelt, aus der Geschichte usw. dargestellt, mit denen sie lernen müssen, als Zeuge zu handeln, sich entscheiden zu handeln ...

Oder jemanden zu holen.

Wir haben das in der Schule gemacht, und das hat sich sehr gut ausgewirkt auf die Kinder. Sie haben begonnen, mehr Verantwortung zu übernehmen.

Ja, genau, so geht es. Ich denke, dass sie dadurch ihre Verantwortung klarer sehen, und ich denke auch, dass sie sich, sobald sie das passende Werkzeug bekommen, nicht mehr so ausgeliefert oder hilflos fühlen. Die Kinder reagieren oft nicht, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen. Und die Frage kommt in ihnen auch auf: «Geht es mich etwas an, oder geht es mich nichts an?» Ich habe das auch an Elternabenden diskutieren müssen.

Es gibt Eltern, die fragen, wie kann mein Kind sich bloss da heraushalten? Und das heisst, die Kinder bekommen ab und zu Bescheid, lieber wegschauen, um gar nichts damit zu tun zu haben. Wobei die Gefahr besteht, dass sie dadurch auch Schwäche signalisieren. Und das macht sie nicht immun gegen späteres Mobbing. Aber ich denke, alle diese Ansätze, dass Kinder sich einmischen und Hilfe suchen sollen, gelten erst ab dem Augenblick, wo tatsächlich mit den Kindern darüber diskutiert wird. Weil sie dann wissen, dass im schlimmsten Fall eine erwachsene Person tatsächlich intervenieren wird. Sie sollen unbedingt das Gefühl bekommen, dass sie nicht allein stehen, das ist nämlich das, wovor viele Angst haben. Sie haben Angst davor, dass ihnen niemand hilft, wenn die Mobber auch auf sie los gehen würden. Aber, wenn sie wissen, dass jemand hinter ihnen steht, dann fühlen sie sich stärker. Deshalb meine ich ganz klar, dass diese Prozesse unbedingt von verantwortungsvollen Erwachsenen begleitet sein müssen.

Wissen Sie, was sonst in der Schweiz existiert neben dem, was Sie und Ihr Kollege gemacht haben? Gibt es sonst noch Ansätze?

Nein, ich habe keine systematische Übersicht. Ich kenne Szaday, der zum No-blame-­Approach Kurse gibt. Es ist nicht ein Mobbingpräventionsprogramm an sich, aber es ist ein gutes Instrument in vielen verstrickten Konflikten. Auch das Themenzentrierte Theater (TZT)® bietet Interventionen an und arbeitet mit uns zusammen. Viele Erziehungsberatungen bieten heute auch Hilfe bei Interventionen. Ich weiss auch vom Roten Kreuz, dass sie gewisse Interventionen anbieten, ich weiss, dass die Berner Gesundheit auf Grund von meinen Arbeiten auch etwas anbietet; sonst habe ich eigentlich wenig Informationen.

Ich weiss, dass es inzwischen viele Privatpersonen gibt, die etwas anbieten. Was mich ab und zu gestört hat, ist, dass einige vermitteln, dass es die Intervention von aussen brauche, um Mobbing zu lösen. Da bin ich nicht einverstanden, ich denke, es braucht Wissen und etwas Mut, und es braucht auch die Stärkung der Handlungsfähigkeit und deshalb am Anfang oft auch eine gewisse Unterstützung. Aber dass man immer einen Experten zuziehen sollte, das finde ich nicht richtig. Und ich denke, es ist auch kontraproduktiv; wenn ich eine Mobbingsituation in einer Klasse habe und mir jemanden hole, der meine Situation löst; was passiert dann das nächste Mal? Dann bin ich genauso hilflos.

Das hinterlässt das Gefühl, dass jemand kommen muss, der nicht in der Klasse ist, und das Problem lösen muss.

Genau, dass ich nicht fähig bin, das zu tun, oder dass es mich nichts angeht. Andererseits gibt es ab und zu Situationen, die so eskalieren, dass alle überfordert sind, weil sie die Sache nicht rechtzeitig in den Griff bekommen haben. Wenn Lehrpersonen, Schulen, Eltern, verschiedene Familien so dermassen involviert sind, braucht es häufig tatsächlich Fachpersonen von aussen.

Damit das Gefühl der Unparteilichkeit entsteht bei den Einzelnen.

Ja, und ich denke, wenn alle so involviert sind, schaffen sie es tatsächlich nicht mehr. Sie haben kein Vertrauen mehr ineinander, sie können die Situation nicht mehr genug objektiv einschätzen, es sind zuviele Emotionen im Spiel.

Im Kanton Thurgau und Kanton St.Gallen gibt es Gemeinden, die sogenannte »Höflichkeitstage» eingeführt haben, mit gutem Erfolg. Es gab eine Gemeinde, in der schon überlegt wurde, Senioren einzusetzen, die in den Garderoben interventieren usw. Jetzt haben die Kinder selber begonnen, Verantwortung zu übernehmen und zu schauen, dass das ruhig abläuft.

Davon habe ich auch schon vor längerer Zeit gehört. Es gab in St.Gallen einige Schulen, in denen gewisse Anstandsregeln wieder eingeführt wurden, eben zum Beispiel, dass man einander begrüsst. Ich finde alle solche Ansätze sehr interessant. Weil es sehr positive Ansätze sind. Natürlich wird man damit nicht alle Probleme aus der Welt schaffen. Aber es bringt natürlich auch positivere Stimmungen, die allgemein für die Prävention von sozialen Problemen zwischen den Kindern gut sind. Alle solche Ansätze gehören zum sechsten Schritt in unserem Programm: Ressourcen stärken. Mit all dem aktiviert man Ressourcen und schafft so ein positives Klima. Man kann es wie ein geschlossenes System sehen, je mehr Zeit ich oder meine Klasse in positive Aktivitäten investiere, desto weniger Zeit gibt es für negative Auseinandersetzungen. Und ich denke, alles, was zu einer ­positiven Stimmung in einer Gruppe, in einer Klasse führt, ist Gold wert.

Das haben wir auch schon festgestellt in den Schulen. In diesem Zusammenhang wollten wir Sie fragen, wo Sie die Ursachen für diese Ausbreitung all dieser Phänomene sehen in den Schulen und auch in der Gesellschaft.

Sie meinen von Mobbing. Mobbing ist an und für sich kein neues Phänomen. Man hat vor den ersten Studien von Olweus in den 1970er Jahren keine Daten erhoben, aber man hat die Literatur, in der immer wieder Mobbingfälle beschrieben wurden. Die Ursachen davon sind eben sehr vielfältig. Es muss auf jeden Fall ein Aggressionspotential bei gewissen Kindern in der Gruppe geben. Ohne Mobber gibt es kein Mobbing. Die Frage nach dem Einfluss von gesellschaftlichen Strukturen ist schwieriger zu beantworten. Olweus hat einmal untersucht, ob es mehr Mobbing in grossen Schulen oder in kleinen Schulen gibt. Er hat keinen Unterschied gefunden. Es gibt auch keinen Stadt-Land-Unterschied. Man hat auch versucht, Mobbing in Zusammenhang mit Leistungsdruck zu bringen. Dann müsste es eigentlich auf der Sekundarstufe und im Gymnasium mehr Mobbing geben. Wir haben es 1994/95 in der Schweiz gemacht. Also, wir haben gleichzeitig in der Schweiz und in Norwegen Untersuchungen gemacht, und es gab keine Unterschiede. Es gab mehr Mobbing auf der Realstufe. Das bedeutet, es gab dort mehr Mobbing, wo es mehr Kinder hatte, die sonst Probleme hatten.

Einen tiefen Selbstwert?

Ja, das wohl auch, aber das Wichtigste ist das Aggressionspotential. Was nachher Mobbing auslöst, ist eigentlich noch nicht wirklich ganz klar. In einigen Situationen sind es gewisse Ängste, dass man bestimmte Privilegien verlieren könnte. Man geht dann auf eine Person los, von der man erwartet, dass sie diese Privilegien gefährden könnte. Das kann ein neues Mädchen in der Klasse sein, das die neue Freundin von einem anderen Mädchen werden könnte. Aber das muss auch gar nicht sein. Es hat sehr viel mehr mit Macht zu tun.

Das heisst, Mobbing gibt den Mobbenden wirklich Macht. Das heisst wiederum, es müssen Kinder da sein, die tatsächlich auch sehr viel Macht haben wollen. Wenig Selbstwert findet man bei Mobbern nicht. Mobber sind nicht diejenigen, die wenig Selbstwert haben. Die Mobber sind auch relativ gut integriert. Kinder, die wirklich einen tiefen Selbstwert haben und auch depressive Gefühle, das sind die Opfer des Mobbing und besonders die aggressiven Kinder, die selber auch gemobbt werden. Das sind die aggressiven Kinder, die das Ausüben der Aggressionen nicht unter Kontrolle haben. Das heisst, sie verwenden sie nicht für ganz bestimmte Ziele oder gegen ganz bestimmte Kinder, sondern sie sind impulsiv aggressiv, und das sind oft Kinder, die auch sonst Verhaltensauffälligkeiten haben.

Es sind häufig Kinder, die Probleme mit der Aufmerksamkeit haben, etwas hyperaktiv sind und auch impulsiv aggressiv, das finden wir relativ oft. Sie machen Dinge, die andere Kinder stören. Und diese Kinder, die andere stören, haben tatsächlich ein schlechtes Bild von sich. Die Mobber sind manipulativ. Wir haben jetzt sogar Befunde dazu, dass die Jugendlichen, die mit 12 Mobber sind, im Kindergarten als manipulativer von den Lehrpersonen eingeschätzt wurden als andere Kinder.

Man kann sagen, gut, aber warum sind diese Kinder so, warum suchen sie diese Macht schon im Kindergarten? Was ist es eigentlich? Das allgemeine Prinzip ist, man macht das, was sich lohnt. Diese Kinder haben wohl die Erfahrung gemacht, dass ihr Verhalten sich lohnt, und das Gefühl ist da und dann wird es weiter gemacht. Der Zufall kann hier auch eine Rolle spielen, sie üben diese Art von Macht aus, dürfen es einfach machen, weil man irgendwie fälschlicherweise denkt, Kinder sind einfach Kinder, und so lernen sie, dass es ein erfolgreiches Verhalten ist.

Sie haben einen Gewinn.

Ja, sie haben einen Gewinn.

Haben Sie auch festgestellt, ob das einen Zusammenhang hat mit dem Verhalten der Eltern oder dem Medienkonsum?

Wir haben es nicht gemacht. Wir haben keine klaren Befunde. Das, was wir haben an Daten zu den Eltern, ergibt kein klares Bild, deshalb haben wir es auch nicht publik gemacht. Es ist eigentlich eine offene Frage, aber ein gewisses Machtgehabe können sie auch zu Hause lernen. Das kann durch Modellernen oder fehlende Interventionen geschehen, weil die Eltern nicht recht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Und dann bekommt das Kind doch durch dieses Verhalten etwas zu viel.

Sie haben uns gesagt, wie Sie reagieren, wenn die Mobbingsituation schon da ist, mit diesen sechs Schritten.

Auch wenn sie noch nicht da ist, das ist eigentlich alles auch präventiv.

Wie können Eltern ihre Kinder präventiv schützen, was können Lehrpersonen machen? Da haben Sie einen Teil schon beantwortet. Und was wäre auch auf gesellschaftlicher Ebene erforderlich? Wir haben Ihre Materialien gelesen und haben gedacht, eigentlich müsste es so sein, dass gesamtgesellschaftlich ein Konsens bestehen sollte, diese Bresche, die Sie schlagen mit Ihrem Konzept, dass man sich da anschliesst und sagt: Wir miteinander schaffen das!

Die sechs Schritte, die ich da geschildert habe, sind für uns vor allem Prävention. Aber wenn Mobbing da ist, kann man auch genau nach denselben Prinzipien vorgehen. Ich denke, was Lehrer tun können, um präventiv zu arbeiten, ist ziemlich klar: wachsam sein, die eigene Verantwortung wahrnehmen.

Für Eltern kommt es darauf an, ob wir von Eltern aggressiver Kinder sprechen oder von Kindern, die gemobbt werden. Auf Grund meiner letzten Studie finden wir interessanterweise, dass die sogenannten passiven Opfer nicht unbedingt wieder als Opfer in der Schule und auch nicht mit zwölf Jahren zu finden sind. Das heisst, es ist nicht so, dass Kinder einmal Opfer sind und immer Opfer sind. Aber Kinder, die aggressiv sind und gemobbt werden, also die sogenannten aggressiven Opfer, findet man zwei Jahre später immer noch in einer hochaggressiven Rolle. Und sogar, wenn diese Kinder 12 Jahre alt sind, stellen wir fest, dass die Hälfte von ihnen immer noch in einer Opferrolle ist. Das sind für mich die Kinder, die am meisten gefährdet sind. Mit Kindern, die aggressives Verhalten zeigen, muss man wirklich sehr konsquent sein. Fünf- bis sechsjährige Kinder, die aggressives Verhalten zeigen, besonders physisches, aber auch andere Formen, sind wirklich sehr gefährdet.

Sie sind gefährdet, eine Mobber-Karriere zu entwickeln. Wenn Kinder unbeherrscht und aggressiv sind, muss man Hilfe holen, um ihnen eine gute Chance zu geben, damit sie in der Peer-Group nicht selber Opfer von Mobbing werden. Gesamtgesellschaftlich braucht es mehr Zusammenhalt. Man muss Kinderrechte ernst nehmen. Mobbing ist ein Angriff auf Kinderrechte. Wir müssen die Problematik früh ernst nehmen, und wir müssen entsprechend intervenieren, damit aggressive Kinder eine Chance haben, ihr Verhalten so zu ändern, dass sie merken, dass etwas anderes sich mehr lohnt.

Dann sind wir Erwachsenen verantwortlich, ihnen ein Echo zu geben. Es gibt viele Kinder, die haben über Jahre hinweg auch die Erfahrung gemacht, dass sich ihr negatives Verhalten so auszahlt, dass sie sehr viel Aufmerksamkeit haben. Und da muss man eine Kehrtwendung machen und sagen: Schau, wenn du dich positiv eingibst, dann hast du mehr davon. Letztlich ist das auch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ein wichtiger Prozess. Die Kinder im Kindergarten sind in zwanzig Jahren Erwachsene und sollten dann eigentlich die gesellschaftliche Entwicklung in eine positive Richtung mittragen.

Eben, ganz genau. Es gab immer wieder kritische Stimmen am Anfang, das war Mitte der achtziger Jahre, als das Programm von Olweus in Norwegen durchgeführt wurde, Stimmen, die sagten, wenn Mobber in ihrem Verhalten einfach verhindert werden, könnte es für ihre psychische Gesundheit ein grosser Nachteil sein. Das war damals, als man gedacht hat, man ist aggressiv, weil man einen schlechten Selbstwert hat. Es ist nicht so. Mobbing geschieht nicht wegen eines schlechten Selbstwerts. Was wir damals gefunden haben, war, dass in Klassen, in denen  Mobbing abnahm, auch die Mobber profitierten. Die Erwachsenen müssen ein Modell vorleben, dazu gehört Respekt, Zuhören und Ernstnehmen.

Hier muss die Bedeutung der Medien noch einbezogen werden.

Das ist klar, die Vorbilder aus den Medien. Aus der Gewaltforschung weiss man, dass klare Zusammenhänge zwischen Medien und Gewalt bestehen. Man hat klare Fakten. Wer will das schon leugnen?
Es ist mir noch ein Anliegen, auf die Kandersteg-Deklaration aufmerksam zu machen, die ich 2007 initiiert habe, um einen gesellschaftlichen Konsens zu erwirken. Die Deklaration kann unter www.kanderstegdeclaration.com heruntergeladen werden.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Das neue Buch von Prof. Françoise D. Alsaker „Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule“. Verlag Hans Huber, Hogrefe AG Bern. ISBN 978-3-456-84913-3

Quelle:
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