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Frau mit Klasse

Eine Primarlehrerin erzählt, wie es ist, zu unterrichten. Und warum sie es trotz allem liebt.
09. März 2019

«Dann schauen mich zweiundzwanzig Augenpaare voller Erwartung an, und ich spüre wieder, warum ich diesen Beruf gewählt habe.»

Dass ich Lehrerin werden will, wusste ich, noch bevor ich wusste, wie ich eine gute Schülerin werde. Da war ich etwa zehn. Mir gefiel die Vorstellung, eine Horde Kinder auf einem Abschnitt ihres Lebens zu begleiten. Ihnen Wissen zu vermitteln, das sie zu selbstständigen, kritisch denkenden und toleranten Mitmenschen macht. Anders gesagt: Ich wollte die Welt ein bisschen besser machen.

Wenn ich heute vor meinen Zweitklässlern stehe und sie zum zweiten Mal bitte, leise zu sein und das Mathematikheft auf Seite 53 aufzuschlagen, oder um 17.30 Uhr allein vor einem Stapel unausgefüllter Beurteilungsbögen sitze, frage ich mich manchmal, ob ich nicht besser einen anderen Beruf gewählt hätte. Pizzabäckerin oder Glaceverkäuferin oder was ich mir als kleines Kind sonst noch ausmalte.

Am Anfang meines Studiums an der Pädagogischen Hochschule war ich noch voller Idealismus. Heute denke ich, mich hätte schon damals stutzig machen müssen, was im Zentrum der Ausbildung stand: Leistungsnachweise und Didaktikformen, Unterrichtsvorbereitungsformulare und Praktikumsauswertungen. Wir lernten viel über das Lehren, aber wenig über das Lernen.

Das erste Jahr als 24-jährige Lehrerin war eine Herausforderung. Ich übernahm, was andere Lehrpersonen mir mitgaben. Wie ein Käfer auf dem Rücken griff ich nach jedem Grashalm. Jahresplanungen, Arbeitsblätter, Elternbriefvorlagen. Ich ordnete mich in das bestehende Unterrichtsteam ein. Zusammenarbeit, so dachte ich, bedeutet eben manchmal, die Haltung anderer zu übernehmen. Unterricht, wie ich ihn erlebte, hatte viel zu tun mit Belohnungs- und Bestrafungssystemen, mit Sitzordnungen und Schulzimmerorganisation. Unterrichtsmaterial beschriften, Stempelhefte ausstellen, Kärtchen laminieren, Arbeitslisten erstellen.

Nach zwei Jahren als Klassenlehrerin wagte ich erstmals, das System zu hinterfragen. Was braucht es, damit Kinder intrinsisch motiviert lernen? Was trägt zu einem vertieften Verständnis bei? Wie muss Unterricht sein, damit die Kinder das Gelernte später auch Monate später noch selbstständig anwenden können?

Antworten lieferte der neuseeländische Professor John Hattie in seiner 2008 veröffentlichten Studie «Lernen sichtbar machen», der umfangreichsten, evidenzbasierten Studie zu Faktoren, die Einfluss auf den Lernerfolg haben: Es sind nicht Unterrichtsformen oder -methoden, die für gute Schulleistungen massgebend sind, sondern die persönliche Beziehung zwischen Lehrpersonen und ihren Schülern und Schülerinnen. Entscheidend ist laut der Studie zudem, ob die Lehrpersonen Leidenschaft für ihren Beruf und das, was sie lehren, zeigen.

Die Studienergebnisse bestätigten meinen Eindruck, dass im Schulalltag vieles zu kurz kommt, was zu einer hohen Lernqualität beiträgt. Eine gute Beziehung, welcher Art auch immer, braucht Pflege.

Pflege, für die im Unterrichtsalltag kaum Zeit bleibt. Und Leidenschaft verträgt sich schlecht mit getakteten 45-Minuten-Lektionen und schwerfälliger Bürokratie. Während meines zweiten Klassenzugs, da war ich fünf Jahre im Beruf, wurde mir bewusst, wie oft ich vor lauter Administration an den Kindern vorbei unterrichtete. Dabei war es der Austausch mit den Kindern, der mir an dem Beruf so gefiel. Ich begann zu verstehen, dass eine Lehrperson ein noch so grosses Fachwissen besitzen und didaktische Höchstleistungen vollbringen kann - wenn die Kinder nicht bereit sind, nützt alles wenig. Studien bekräftigen, dass Kinder, genau wie Erwachsene, erst dann etwas dauerhaft lernen, wenn sie es aus eigenem Interesse tun. Und wenn sie sich wohlfühlen. 

«Nur was der Mensch selbst für sinnvoll hält, was ihn neugierig macht, wird er langfristig behalten. Von aussen initiierte Lernprozesse erreichen allenfalls das Kurzzeitgedächtnis», sagt der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther. Er setzt sich seit Jahren für einen Kulturwandel an öffentlichen Schulen ein und fordert einen kinderfreundlicheren und lebendigeren Unterricht.

Ich nahm mir also vor, jene Voraussetzungen zu schaffen, die Kinder dazu bringen, aus eigenem Antrieb und von einem guten Gefühl begleitet zu lernen. Ich wollte mich fortan intensiver mit den einzelnen Kindern auseinandersetzen. Doch wie ich bald feststellte, hat unser Schulsystem hier ein Problem: Die Beziehungsarbeit mit den Kindern steht zunehmend in Konkurrenz mit schulischer Bürokratie. Arbeitsblätter kopieren, Bestelllisten und Abrechnungsformulare ausfüllen, Mails beantworten. Fasnachtsumzug, Lesenacht, Sporttag, Lauskontrolle, Elternabend und Teamanlass organisieren. Lesepässe und Bastelbogenbestellungen einsammeln. Anmeldungen für die Pausenapfelaktion verteilen, Holzstäbe für die Windräder einkaufen, Schreibhefte bestellen. Kaum ist eine Sache erledigt, wartet schon die nächste.

Zu Beginn meiner Laufbahn vor zehn Jahren klebte hie und da ein gelbes Post-it als Erinnerungsstütze auf meinem Lehrerpult. Inzwischen sind sämtliche Wände mit Post-its tapeziert. Gelb allein reicht schon lange nicht mehr. Da sind so viele unterschiedliche Dinge, an die ich denken muss:

Der Logopädietermin von Dennis und Elena am Montag von 09.00 Uhr bis 9.45 Uhr. Die Deutsch-als-Zweitsprache-Stunden von Tarik, Dilara und Tiago am Dienstag von 11.00 bis 11.50 und am Freitag von 13.40 bis 14.30. Die Psychomotorikstunde von Mara am Donnerstag von 08.10 bis 09.00 und von Pedro am Mittwoch nach der grossen Pause. Die Anmeldung zum Grümpelturnier. Der Infobrief an die Eltern, Therapeutinnen und Fachlehrer betreffs Schulreise. Die Abgabefrist der Materialbestellung, der Besuchstag, die Besprechung mit der Schulsozialarbeiterin, die Sitzung mit dem Hauswart. Zwischen den farbigen Post-its hängen Schmierzettel mit Infos und Beobachtungen zu einzelnen Kindern. Nico zu spät. Emily zum zweiten Mal HA nicht gemacht. Mischa und Leandra krank. Timo Zahnarzt um 11.00. Lina wieder unkonzentriert - zu wenig Schlaf?! Finn zum dritten Mal HA vergessen - Eltern anrufen. Jessica Turnbeutel verloren - Fundkiste prüfen.

Trotz der vielen Notizen geht ständig etwas unter. Besprechungen, Therapiestunden, die Abgabe von Formularen, die Pausenaufsicht, Fötzelen am Freitagnachmittag. Wasser trinken. Durchatmen.

Wenn ich mich dann im Lehrerzimmer erschöpft aufs Sofa fallen lasse, fragt garantiert der Kollege, der den Titel «Lehrer des Jahres» anzustreben scheint, ob ich diese Woche ebenfalls mit dem neuen Deutschthema einsteige. Und ich nicke energisch in mein halb volles Wasserglas, obwohl ich beim aktuellen Thema noch nicht einmal in der Hälfte angelangt bin.

Die Zeit ist immer knapp, wenn man versucht, den Lehrplan einzuhalten. Bis ich bei der Hausaufgabenkontrolle neben allen zweiundzwanzig Namen ein Häkchen für «abgegeben» oder ein Kreuz für «vergessen» gemacht habe, sind bereits fünf Minuten verstrichen. Bis es dann im Klassenzimmer einigermassen ruhig ist, der Streit zwischen Lea und Ronja geklärt, das Bauchweh von Max verflogen und die erfundene Geschichte von Emma zu Ende erzählt ist, sind weitere fünfzehn Minuten vergangen. Kaum habe ich angefangen, unser neues Thema, den Wald, vorzustellen, klingelt es in die kleine Pause.

Die nächste Lektion widme ich den Waldbewohnern, den Eichhörnchen und Würmern und Ameisen. Wir hören uns an, wie ein Rotkehlchen singt, wie eine Spitzmaus unter dem Laub raschelt, ein Frosch ins Wasser platscht. Auf dass es in den Köpfen der Kinder funken und sprühen möge, weil die Neuronen ein elektrisches Signal nach dem andern abfeuern. Lernen pur. Manchmal gelingt das. Dann schauen mich zweiundzwanzig Augenpaare erwartungsvoll an, und ich spüre wieder, warum ich diesen Beruf gewählt habe.

Dieser Teil meiner Arbeit, das eigentliche «Kerngeschäft», ist in den letzten Jahren mehr und mehr durch einen Berg von Administration ersetzt worden: Protokolle und Traktandenlisten schreiben, Fragebögen ausfüllen, Werbung und Kataloge für neue Lehrmittel und Unterrichtsmaterialien studieren, Infoflashs durchlesen, Noten im Lehreroffice eintragen, Arbeitszeit erfassen, Beobachtungen notieren. Meine Aufmerksamkeit beanspruchen dann häufig vor allem die Störenfriede der Klasse. Die Kinder, die daheim zu wenig Struktur und zu viel Fernsehzeit bekommen.

Und ich frage mich einmal mehr, wie sinnvoll ein System ist, in dem alle Kinder dasselbe mit denselben Methoden und im gleichen Tempo lernen sollen. Schulleistungen sind multikausal bedingt. Also abhängig von Motivation, Intelligenz, Lernvoraussetzungen. Von der Stimmung im Elternhaus, der Lernförderung ausserhalb der Schule, der körperlichen und seelischen Gesundheit des Kindes. Jedes denkt, handelt und lernt anders. Bei zweiundzwanzig Kindern muss ich von zweiundzwanzig unterschiedlichen Lerntypen ausgehen. Ganz zu schweigen von den ungleichen Charakteren und Tagesformen.

«Emilia müht sich immer noch mit der schriftlichen Division ab. Davids Schrift hat sich trotz der Grafomotoriktherapie kaum verbessert. Lars kann nicht länger als fünf Minuten still sitzen, man müsste ihn dringend auf ADHS abklären lassen. Und Vera beginnt in letzter Zeit immer gleich zu heulen, wenn ihr etwas nicht gelingt. Geringe Frustrationstoleranz. Wahrscheinlich wegen der Trennung ihrer Eltern. Und hast du gemerkt, wie aufmüpfig Thomas ist, seit er wegen Hochbegabung abgeklärt wird?»

So und ähnlich klingt es in der wöchentlichen Sitzung mit der Heilpädagogin. Diese neue Berufsgattung ist die Folge des vor einigen Jahren eingeführten, integrativen Schulmodells: Auch Kinder mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen werden in Regelklassen unterrichtet. Die Idee, diese Kinder zu integrieren, ist zwar nobel, aber nicht durchdacht. Gruppenräume fehlen. Für geeignetes Fördermaterial ist das Budget zu klein, und es mangelt in vielen Schulen an ausgebildeten Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Auf deren Fachwissen bin ich als Lehrerin angewiesen, wenn in meiner Klasse ein Kind mit Downsyndrom sitzt. Oder eines, das wegen seiner Körperbehinderung nicht selbstständig auf die Toilette kann.

Heilpädagogen sind eine Hilfe im Unterrichtsalltag. Zumindest während der drei bis fünf Lektionen pro Woche, in denen sie anwesend sind. Den Rest muss ich als Klassenlehrerin weitgehend allein bewältigen. Zwar sind da auch noch die Deutsch-als-Zweitsprache-Lehrerin, der Logopäde und die Psychomotoriktherapeutin, der Schulsozialarbeiter und der Lernklubcoach. Doch mit jeder Lektion, in der ein bis sechs Kinder fehlen, wird es schwieriger, den Überblick über deren Lernentwicklung zu behalten. Ganz zu schweigen vom Aufwand, ihnen kurz vor der Mittagspause einzeln zu erklären, welche Seite sie im Deutschheft nachholen und welche Rechnungen sie zu Hause noch lösen müssen, damit sie den Anschluss nicht verpassen.

Und die Absprachen mit all den Fachlehrern und Therapeutinnen? Die müssen irgendwann zwischendurch getroffen werden. In der Zehnuhrpause, auf dem Weg zur Schulhaussitzung, in der Kaffee-und-Gipfeli-Zeit vor einer schulischen Weiterbildung oder zwischen Tür und Angel in der Fünfminutenpause. An manchen Tagen sage ich mir: Das gehört eben dazu. An anderen reicht es, wenn mir in der Zehnuhrpause jemand, kaum dass ich mein Dar-Vida-Päckchen aufgerissen habe, eine organisatorische Frage stellt - und ich könnte laut schreien.

Zu dem Gefühl, den Anforderungen nicht zu genügen, kommen die sich häufenden Vorgaben von Bildungspolitikern hinzu. Der Auftrag zum Beispiel, jedes Kind seinem Niveau und Entwicklungsstand entsprechend zu fördern, und das bei immer höheren Schülerzahlen. Oder die paradoxe Forderung, den unterschiedlichen geistigen und emotionalen Voraussetzungen der Kinder gerecht zu werden, deren Leistungen am Ende aber trotzdem nach einem einheitlichen Zahlensystem zu bewerten.

Diesen Leistungs- und Notendruck beklagt auch Sabine Czerny in ihrem Buch «Was wir unseren Kindern in der Schule antun und wie wir das ändern können». Und meint weiter: «Wir erziehen Kindern durch das ständige Be- und Verurteilen durch Noten die Fähigkeit ab, auf sich selbst zu hören, sich selbst, so wie sie sind, als liebenswert und wunderbar zu erleben. Individuelle Förderung und Selektion durch Noten schliessen sich gegenseitig aus. Denn individuelle Förderung braucht Freiraum und ein Lernen ohne starre Grenzen. Die Selektion hingegen beruht auf einem begrenzten Lernen im erzwungenen Gleichschritt.»

In diesem Klima aus Forderungen setze ich nicht nur mich unter Druck, sondern auch die Kinder, die spüren, dass sie Leistungen auf Knopfdruck bringen und Lernziele zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichen müssen. Ich finde es traurig genug, dass wir Erwachsene von einem Burn-out zum nächsten schlittern. Wollen wir unseren Kindern wirklich so früh ihre Unbeschwertheit rauben?

Eine weitere Herausforderung ist, dass sich die Erziehungsverantwortung von den Eltern auf die Lehrpersonen verschiebt. Vor zwanzig Jahren, das erzählen mir ältere Kolleginnen und Kollegen, konnte man voraussetzen, dass die Kinder bei Eintritt in die erste Klasse fähig sind, ihre Schuhe zu binden, die Hände nach dem Toilettengang zu waschen, einander zuzuhören, nicht ins Wort zu fallen, aufeinander zu warten und der Lehrerin bei der Begrüssung in die Augen zu schauen. Solche Grundlagen müssen Kindergärtner und Erstklasslehrerinnen vielen Kindern heute erst beibringen, bevor sie mit dem Unterricht anfangen können.

Für einiges, was früher selbstverständlich war, braucht es heute eine schriftliche Information. Und selbst dann kann ich mich als Lehrerin nicht darauf verlassen, dass die Eltern mitdenken. Regelmässig begegne ich unvollständigen Etuis mit abgebrochenen Stiften und zerfetzten Radiergummis oder Pausenbroten, die seit Tagen im Rucksack vor sich hin gammeln. Es kommt vor, dass ich mehrmals pro Woche nachfragen muss, wem der Pullover, das Znüniböxli oder die Brille gehören, die schon seit einem Monat in der Garderobe herumliegen und offenbar weder von den Kindern noch von den Eltern vermisst werden. Es gibt kaum eine Schulreise, bei der nicht mindestens ein Kind mit Schuhen ankommt, die sich knapp für den Schulweg eignen. Dafür glitzern die paillettenbesetzten Ballerinas schon von weitem in der Morgensonne. Die Angry-Birds- und Lillifee-Rucksäcke sind prall gefüllt mit Süssigkeiten und Chips. Da geht die Wasserflasche schon einmal vergessen. So viel zur Schulreiseausrüstung, die eher ein Thema ist an Schulen mit einem hohen Anteil an fremdsprachigen Kindern und in Gemeinden mit ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen.

Ein anderes Thema, und das betrifft sämtliche Milieus: der Schulweg. Seit einigen Jahren muss ich mich auch darum kümmern. Dass es für Lars wichtig ist, diesen zu Fuss zu gehen, für die Bewegung und den Kontakt mit anderen Kindern, muss ich seinen Eltern lange und breit erklären, bis sie ihn nicht mehr täglich mit dem Geländewagen zur Schule karren. Und dann ist da der Medienkonsum. Elenas Eltern zu erklären, dass zwei Stunden Fernsehen am Tag nicht die beste Förderung für ihre übergewichtige, schulisch überforderte Tochter sind, braucht Überzeugungskraft. Und dass es für den Erstklässler Admir auf Dauer zur psychischen Belastung werden kann, wenn er vor der Schule via Gamekonsole regelmässig virtuelle Menschen abknallt, kommt den Eltern nicht einmal in den Sinn.

In demselben Zeitraum, in dem die Verantwortung von Lehrpersonen gestiegen ist, ist ihr Ansehen gesunken. In manchen Kantonen stagnieren die Löhne schon seit Jahren. In gewissen Gemeinden drohen Eltern mit dem Anwalt, wenn der Lehrer die Prüfung, die ihre Tochter verhauen hat, nicht wiederholen oder den lernfaulen und unreifen Sohn nicht in die Kanti schicken möchte. Manche Schulleitungen suchen den Fehler bei ihren Lehrpersonen, wenn Schülerinnen die Mitarbeit verweigern oder Schüler aggressiv sind, weil sie die Gunst gesellschaftlich einflussreicher Eltern nicht aufs Spiel setzen wollen. Seit das integrative Schulmodell eingeführt wurde, sehen sich Lehrer und Lehrerinnen zudem vermehrt mit körperlich und geistig beeinträchtigten Kindern konfrontiert. Eine Aufgabe, für die sie nicht ausgebildet wurden. Alle paar Jahre kommen neue Lehrmittel, Studien, Reformansätze oder gleich ein neuer Lehrplan und der neue Berufsauftrag wie im Kanton Zürich - und mir wird einmal mehr bewusst, warum beim Anforderungsprofil «Belastbarkeit» so weit oben steht.

Ich habe in den vergangenen zehn Jahren in fünf Kantonen gearbeitet und das Klima in mehr als zehn verschiedenen Schulhäusern erlebt. Die meisten meiner Lehrerkolleginnen und -kollegen kämpfen mit denselben Belastungen. Manche machen ihren Frust im Lehrerzimmer oder an Sitzungen deutlich. Die Mehrheit jedoch hält sich zurück. Hinter vorgehaltener Hand wird lamentiert, doch wenn es darum geht, sich gegen die Belastung zu wehren, dann bleiben die meisten stumm. Den ersten Schritt zu machen, ist unbeliebt.

Es ist eine verzwickte Lage. Schliesslich tragen wir Verantwortung, nicht für Dokumente oder Fahrzeuge, die man auch mal stehen lassen kann, sondern für Kinder. Also schreiben wir noch ein Protokoll und führen noch ein Gespräch, so lange, bis wir völlig erschöpft sind. Was dann gerade noch fehlt, sind Kommentare wie: Das sind aber Klagen auf hohem Niveau bei einem jährlichen Ferienpensum von dreizehn Wochen. Wenn ich die Schaumschläger darauf hinweise, dass sie jederzeit in den Lehrerberuf quereinsteigen können, winken sie ab. Auch die zwanzig Prozent Junglehrpersonen, die den Beruf nach nur vier Jahren wieder verlassen, empfinden die vielen Ferien offenbar nicht als ausreichende Entschädigung für die Belastung, die diese Arbeit mit sich bringt.

Ich hätte schon lange den Beruf gewechselt, hätte ich nicht zwischendurch Pausen eingelegt. Pausen, in denen ich um die Welt reiste oder die Rolle wechselte und als Deutsch-als-Zweitsprache-Lehrerin oder als Heilpädagogin arbeitete, so lernte ich andere Schulhäuser und andere Lehrerteams kennen. Der Abstand und die Abwechslung bewahrten mich davor, auszubrennen oder, ebenso schlimm, abzustumpfen. Noch immer macht mir meine Arbeit meistens Freude. Noch nie bin ich der Auseinandersetzung mit den Kindern müde geworden. Ihre Offenherzigkeit und Begeisterungsfähigkeit trösten mich über den Verwaltungskram hinweg. Umso mehr beschäftigt mich die Tatsache, dass ich ihnen oft nicht gerecht werde.

Statt alle Kinder einem englischen Rasen gleich auf dieselbe Höhe zu trimmen, sollten wir ihnen Zeit geben. Es ist für niemanden gesund, sich gesellschaftlichen Normvorstellungen unterwerfen zu müssen. Kinder sollen eigene Erfahrungen machen und irren dürfen. Und nicht zuletzt sollte die Schule den Kindern helfen, Selbstwert und Selbstachtung zu entwickeln.

Ein Schulsystem, ausgerichtet nach diesen Werten, hat sich die schwedische Reformpädagogin Ellen Key schon vor mehr als hundert Jahren in ihrem Buch «Das Jahrhundert des Kindes» gewünscht: «Die Zeit ruft nach Persönlichkeiten, aber sie wird vergebens rufen, bis wir die Kinder als Persönlichkeiten leben und lernen lassen; ihnen gestatten, einen eigenen Willen zu haben, ihre eigenen Gedanken zu denken, sich eigene Kenntnisse zu erarbeiten, sich eigene Urteile zu bilden; bis wir, mit einem Wort, aufhören, in den Schulen die Rohstoffe der Persönlichkeit zu ersticken, denen wir vergebens im Leben zu begegnen hoffen.»

Vor einem Stapel unkorrigierter Hefte sitzend, male ich mir aus, wie unsere Volksschule sein müsste, damit Kinder gerne hingehen. Da gibt es einiges, das ich umkrempeln würde: Klassen von maximal zwölf Schülern und Schülerinnen. Ein Unterricht, in dem die Kinder sich von ihrer Neugier treiben lassen. Lernfortschritt und persönliche Entwicklung würde ich nicht mit Noten, sondern in Gruppen- und Einzelgesprächen aufzeigen. Als Hausaufgaben würden die Kinder von mir empfohlene Literatur und Sachbücher lesen und an eigenen Projekten arbeiten, statt alle dasselbe Arbeitsblatt abzuarbeiten. Den Stoff würde ich kürzen, die einzelnen Themen vertiefter behandeln und öfter wiederholen. Ich würde fächerübergreifend und blockweise unterrichten und so den Kindern die Möglichkeit geben, sich auf die einzelnen Themen über längere Zeit einzulassen. Ich würde den Unterricht öfter in die Natur oder ins Museum verlegen und die Pausenglocke abschaffen, die nach jeder zweiten Lektion daran erinnert, das Fach zu wechseln.

«Alles, was wir einem Kind beibringen, kann das Kind nicht mehr lernen», sagte Jean Piaget, Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie. Der bekannte Schweizer Kinderarzt Remo Largo ergänzt in seinem Buch «Babyjahre»: «Echtes Lernen besteht aus selbstbestimmten Erfahrungen, die das Kind nicht zielgerichtet anstrebt, sondern bei denen es immer auch Umwege macht.»

Manchmal tut es gut, sich an seine eigenen Umwege zu erinnern. An Hürden und vorschnelle Beurteilungen anderer. An meine Kindergärtnerin zum Beispiel, die fand, ich sei zu wenig konzentriert (oder auf das Falsche). An meine Erstklasslehrerin, die mich im Lernbericht als Schülerin mit viel Fantasie, aber wenig Struktur beschrieb. An meine Sekundarlehrerin, die den Versuch unterliess, mich zu fördern, und nach einem halben Jahr in die Realschule versetzte. Doch es gab auch Lichtblicke. Die Fünftklasslehrerin, die mich wegen meiner musischen und sozialen Stärken trotz knappen Notendurchschnitts in die Sekundarschule schickte. Der Reallehrer, der immer ermutigende Worte für mich übrig hatte und so mein Selbstvertrauen stärkte. Ich wurde dann doch noch eine gute Schülerin und fand den Weg an die Hochschule.

Wenn ich heute einen einzigen Wunsch frei hätte, so würde ich mir wünschen, dass alle Kinder gerne zur Schule gehen. Dass sie auf ihre Weise und mit positiven Gefühlen lernen können. Jedes Kind ist von Natur aus lernfreudig. Es ist die Aufgabe von uns Pädagogen, Politikerinnen und Eltern, die Primarschule so zu gestalten, dass diese Freude erhalten bleibt. Im besten Fall ein Leben lang. 

Alma Pfeifer ist Primarlehrerin; die Personen im Text wurden anonymisiert. redaktion@dasmagazin.ch

«An der PH lernten wir viel über das Lehren, aber wenig über das Lernen.»

Das Magazin 09   – 2019
Quelle: https://epaper.dasmagazin.ch/#read/30/Das%20Magazin/2019-03-02/14

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