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Eine Ex-Lehrerin packt aus

Chaotische Zustände, komplizierte Bürokratie und keine Zeit für persönliche Entwicklungen. Eine ehemalige Primarlehrerin rechnet in ihrem Buch mit dem Schweizerischen Schulsystem knallhart ab.
05. Mai 2019
Die Buchautorin und ehemalige Lehrerin Andrea Stadler setzt sich für ein neues Schulsystem ein. Aktuelle Unterrichtsmethoden und Lehrpläne seien erfolglos und würden sowohl Lehrern als auch Schülern das Leben schwer machen. Im Interview erzählt die 34-jährige Zürcherin von ihren Erfahrungen und Ansichten.

Wie haben Sie als Lehrerin den Berufsstress erfahren?
Ich dachte, wenn ich Lehrerin werde, unterrichte ich Kinder, musste aber merken, dass mir dafür kaum Zeit blieb. Damit fing der Stress an.

Worum geht es denn, wenn nicht ums Unterrichten?
Unterrichten ist zum Abarbeiten einer endlosen To-do-Liste verkommen. Die Lehrperson jagt darin die Schüler mit der Peitsche von einem Inhalt zum nächsten. Dazu kommt ein gigantischer Anteil an Bürokratie: Absprachen mit Stellenpartnern, Heilpädagogen, Therapeuten, Schulsozialarbeitern und Eltern, Mitarbeit an der Schulentwicklung, Evaluationen, Sitzungen. Die Liste ist endlos.

Was kommt zu kurz?
Zeit für die Kinder und die Inhalte. Man streicht beim Freudvollen: basteln, zeichnen, spielen, gemeinsam in den Wald gehen.

Wie sind Sie damit umgegangen, wenn Sie ein bestimmtes Ziel mit einem Kind nicht erreicht haben?
Ich setzte mich selber unter Druck, wollte alles dafür zu tun, um das Kind zum Ziel zu bringen und gab diesen Druck an das Kind weiter.

Ist das Tempo das Problem?
Ja, auch. Den Kindern fehlt die Zeit für echte Auseinandersetzung mit den Inhalten   – das Verweilen, Eintauchen, Handeln. Die Strukturen haben sich so verändert, dass durch Teamteaching, integrative Förderung und diverse Therapien ein ständiges Kommen und Gehen in den Klassen herrscht, was zu konstanter Unruhe führt. Im Zuge der Individualisierung gehen viele Kinder schlicht verloren im Unterricht. Das bedeutet einen riesigen Stress für die Lehrpersonen, deren Job es ist, allen gerecht zu werden.

Wie wirkt sich der Stress der Lehrer auf die Kinder aus?
Die Schüler verspüren Unruhe, Nervosität, Druck und Lieblosigkeit. Viele Kinder gehen mit ihren Bedürfnissen unter. Das ist verhängnisvoll für ihre Entwicklung und zerstört die Freude am Lernen.

Wie sollten Lehrer mit Stress umgehen?
Mut haben zur vermeintlichen Lücke, nach dem Motto «Weniger ist mehr». Und indem sie die Beziehungen zu den Schülern pflegen. Unterrichten funktioniert, zumindest bei Kindern, nur über Beziehung. Beziehungen wiederum sind es, die den Beruf für die Lehrer wertvoll machen. Dabei ist es wichtig, Zeit zu haben, um Fragen zu beantworten und neugierige Schüler nicht abzublocken.

Welchen Rat haben Sie für gestresste Lehrer? 
Lehrpersonen sollten mutig sein und sich viel mehr dafür einsetzen, dass ihr Job entspannter wird. Dass alle am Anschlag sind, ist schlicht Normalzustand geworden. Man beklagt sich und spricht sich gegenseitig Mut zu, tut aber nichts   – und zwar auf allen Hierarchiestufen nicht. Daneben rate ich, was ich jedem Menschen, der sich in einem hektischen Berufsalltag befindet, nahelege: Eigene Bedürfnisse spüren lernen und diesen nachgehen.

Was hat Ihnen persönlich geholfen?
Die tolle Beziehung, die ich zu meiner Stellenpartnerin hatte und meine tägliche Yogapraxis. Und schlussendlich ein kritischer Blick auf das System. Was auch dazu geführt hat, dass ich das Buch «Macht Schule dumm?» geschrieben habe. Was nicht heisst, dass man seine Erfahrungen in einem Buch verarbeiten muss. Aber Innehalten und Nachdenken tut auf jeden Fall immer gut.

Quelle: https://www.20min.ch/native/stories/story/Eine-Ex-Lehrerin-packt-aus-11423171

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