Ein Brief, den jeder lesen sollte

Der Rektor einer Mailänder Schule schreibt seinen Schülern einen Brief. Und vergleicht die heutige Situation mit der Pestwelle des 17. Jahrhunderts.
Von Michèle Binswanger
13. März 2020
Aussergewöhnliche Zeiten erfordern aussergewöhnliche Massnahmen, das ist eine in jüngster Zeit oft gehörte Maxime. In Italien herrscht wegen des Coronavirus seit Wochen der Ausnahmezustand, das Leben scheint gerade in den norditalienischen Städten fast zum Erliegen gekommen zu sein. Auch in Mailand wurden die Schulen bis auf Weiteres geschlossen.

Menschen reagieren immer ähnlich

Zu einer solchen Massnahme sah sich deswegen auch Domenico Squillace angehalten, Leiter des staatlichen wissenschaftlichen Gymnasiums «Alessandro Volta» in Mailand. Der studierte Philosoph und Historiker schrieb seinen Schülern deswegen einen Brief, in dem er die Dramatik der Situation einzuordnen versucht und an die Vernunft der Schüler appelliert

Domenico Squillace.

Die Lage sei nicht zu unterschätzen, schreibt der 63-Jährige, denn «Schulen sind Einrichtungen, deren Rhythmen und Riten den Verlauf der Zeit und den geordneten Ablauf des Zivillebens anzeigen». Deren zwangsweise Schliessung zeige deshalb tatsächlich eine Ausnahmesituation an.

Er könne nicht beurteilen, ob diese Massnahme angemessen sei, schreibt der Rektor. Aber wenn es sie schon gebe, solle man daraus lernen. Denn so aussergewöhnlich unsere heutige Zeit scheinen mag   – Seuchen haben die Menschen immer wieder heimgesucht. Und wenn es in der Geschichte eine Konstante gibt, dann die, dass Menschen auf ähnliche Bedrohungen ähnlich reagieren.

Was die Pest mit den Menschen machte

So ermuntert Squillace seine Schüler, Alessandro Manzoni zu lesen, und zwar das 31. Kapitel von «Die Verlobten», einem Klassiker der italienischen Literatur. Dort beschreibt Manzoni eindrücklich, wie die Pest Italien im Jahr 1630 heimsuchte und ganze Landesteile entvölkerte. Es sei ein «lehrreicher, ungemein moderner Text», lässt Squillace seine Schüler wissen. Auch damals sah man die Gefahr langsam herankommen, konnte sie aber dennoch nicht abwenden. Und auch damals schon waren die Reaktionen der Bevölkerung absehbar.

Es sei ein urzeitlicher Instinkt, einen unsichtbaren Feind überall zu vermuten, meint der Rektor*

«Unsere Schule steht, wir sollten das nicht vergessen, genau dort, wo früher Mailands Lazzaretto war, das historische Seuchenhospital», erinnert Squillace seine Schüler. Und so sei bereits bei Manzoni auch von all dem zu lesen, was jetzt wieder zu beobachten ist: «Alles findet man hier: die Gewissheit, dass Fremde gefährlich sind, den Streit der Behörden, die verzweifelte Suche nach dem Patienten null, die Verachtung von Fachleuten, die Jagd auf Krankheitsüberträger, die Gerüchte, die verrücktesten Heilmittel, das Hamstern von Lebensmitteln, den Ausnahmezustand.»

Die grösste Gefahr aber, so der Rektor, sei nicht die Krankheit selbst, das Virus oder die Pest. Die grösste Bedrohung sei die Vergiftung des Zwischenmenschlichen. «Es ist ein urzeitlicher Instinkt einen unsichtbaren Feind überall zu vermuten. Man ist geneigt, alle Mitmenschen als Bedrohung und potenzielle Angreifer zu sehen. Anders als während der Epidemien des 14. und 17. Jahrhunderts haben wir heute die moderne Medizin an unserer Seite, ihre Fortschritte und Sicherheiten. Glaubt mir, das ist nicht wenig.» Nun gelte es, das Kostbarste zu erhalten, das man habe: die Menschlichkeit.

Erst wenn man die preisgebe, habe die Pest gewonnen.

Erstellt: 05.03.2020, 18:32 Uhr,

Michèle Binswanger, Redaktorin Meinungen & Debatte

Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/ein-brief-den-jeder-lesen-sollte/story/20294474

*Diese alte Meinung ist durch die Psychologie inzwischen überholt. Lesen Sie: Die Angst

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