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Carl Bossard: «Bildung ist an Beziehung gebunden»

Es beschäftigt mich: Wir haben heute in der Schweiz rund 800 000 Illiteraten und gegen 400 000 Leute, die mit «Alltagsmathematik» überfordert sind. Dem teuersten und wohlgenährtesten Bildungssystem der Welt gelingt es nicht, alle zu literarisieren  – davon spricht niemand!
28.08.2024 Interview mit Dr. phil. Carl Bossard* - übernommen von zeitgeschehen-im-fokus.ch
18. September 2024

Dr. phil. Carl Bossard (Bild ak)
Dr. phil. Carl Bossard* (Bild ak)

Zeitgeschehen im Fokus Für viele Lehrerinnen und Lehrer und ihre Jugendlichen beginnt im August ein neues Schuljahr. Worauf haben Sie sich als Lehrer beziehungsweise als Rektor jeweils anfangs Schuljahr gefreut?

Dr. Carl Bossard «Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne», hat Hermann Hesse in seinem Gedicht «Stufen» geschrieben. Das habe ich als Lehrer auch immer gespürt. Der Start in ein neues Schuljahr ist wie ein Aufbrechen in etwas Unbekanntes, zu etwas Neuem. Es ist ein Navigieren in die offene See   – wie es der Philosoph Friedrich Nietzsche am Strand von Genua empfunden hat: «Hinaus, hinaus, ins Offene!» Unterrichten ist für mich darum Segeln und nicht Bahnfahren. Wir sitzen in einem Boot, wir haben ein Ziel, wir müssen miteinander einen Kurs einschlagen. Auf diesem Boot sind alle verschieden, und ich als Kapitän, sei es als Klassenlehrer oder als Rektor, bin hauptverantwortlich, dass wir das gemeinsame Ziel erreichen. Wir haben aber Wind und Wellen, wir haben Unbekanntes, das wir nicht beeinflussen können. Ich muss darauf achten, dass wir in einem guten Geist miteinander unterwegs sind und dabei das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Das hat mich fasziniert. 

Heute hingegen besteht die Tendenz, Bildungsprozesse als A-B-Korrelationen zu steuern, zu kontrollieren und effizienter zu machen. Mit Schülern lernend unterwegs zu sein, funktioniert anders. 

Bleiben wir beim Bild des Kapitäns. Er braucht ein Ziel und einen Kompass, um sich auf offener See zu orientieren. Übertragen auf den Schulalltag, was ist für Sie der Kompass? 

Die Metapher bedeutet: Das Ziel ist klar vorgegeben. Es kann ein stoffliches Ziel sein, es sind aber auch prinzipielle Ziele, Haltungsziele, die ich anstreben will. Den Kompass brauche ich fürs sorgfältige Justieren des eigenen Tuns, heute nennt man das Reflexion. An den Pädagogischen Hochschulen ist der Begriff, weil inflationär gebraucht, in Misskredit geraten. Für mich war er wichtig, auch als ehemaliger Orientierungsläufer. Deshalb ist das Nachbereiten von Lektionen oder eines Schultags so wichtig. Ich möchte wissen, ob der Kompass richtig eingestellt war. Dazu gehört auch die moralische Frage: «Carl, bist du dir und deinen Grundsätzen treu geblieben?» Lehrer zu sein heisst auch, mit moralischen Dilemmata umzugehen; denn man muss immer wieder ethische Entscheide treffen. «War ich dem Schüler gegenüber, den ich heute zurechtgewiesen habe, gerecht? Hätte ich auch einen andern zur Rede gestellt   – oder wäre ich ausgewichen?» Das hat mich einerseits belastet, mir andererseits aber auch das Gefühl gegeben, dass das, was ich tue, einen Sinn hat. Für mich war dies das Schönste im Lehrerberuf und auch als Rektor: Meine Tätigkeit hatte einen Sinn. Ich konnte Sinn geben und ich erhielt Sinn.

Heutzutage wird der Lehrer zum Coach degradiert. Eine Junglehrerin hat mir erzählt, man habe ihr vorgeworfen, sie sei zu präsent im Unterricht. Inwiefern ist der Lehrer als Person entscheidend für ein erfolgreiches Lernen?

Der vor Kurzem verstorbene Bremer Neurologe Gerhard Roth hat ein Buch publiziert: «Bildung braucht Persönlichkeit». Das bedeutet im übertragenen Sinne: «Ich bin wichtig für meine Schülerinnen und Schüler!» Aber nicht in dem Sinn, dass ich sie zu mir führen müsste. Nein! Ganz im Gegenteil, wichtig ist, dass ich sie mit meiner Person, mit meinen Impulsen und Fragen zu sich selbst führe: Denken als innerer Dialog zwischen mir und mir selbst. Das geht nur über ein verantwortungsbewusstes Gegenüber. So führe ich junge Menschen zum Verstehen. Darum bin ich wichtig als Lehrer   – das sagt auch John Hattie. Deshalb habe ich diesen Bildungsforscher so gerne. Er hat mir meine Bedeutung zurückgegeben und mich vom dekretierten Coach-Sein befreit.

Ich war Lehrer am Seminar in Zug. Unser gemeinsamer Auftrag zielte darauf ab: «Lehrerbildung ist Persönlichkeitsbildung». Heute ist das Wort über die Political Correctness abgewertet. Man ist von der «Persönlichkeit» weggekommen und hin zur «Professionalität» geschwenkt. Das ist ein technischer Begriff, ein kalter, leerer Ausdruck. Renommierte Bildungsforscher   – zu ihnen zählen der erwähnte John Hattie, dann beispielsweise Gerd Biesta aus Schottland oder der Augsburger Ordinarius für Schulpädagogik, Klaus Zierer   – betonen, wie wichtig das «Lernen in Beziehungen» ist. Und in Beziehung treten und eine unsichtbare kognitive wie emotionale Brücke aufbauen, kann ein junger Mensch nur zu Lehrerinnen und Lehrern, die er als Persönlichkeit achtet. Zu einem «gläsernen» Lehrer kann er nur erschwert in Beziehung treten. Der Arzt und Neurowissenschaftler Joachim Bauer hat mehrfach beklagt, dass in Deutschland die Lehrer zu gläsernen Gestalten würden, die kein eigenes Profil mehr hätten. Bildung ist an eine Beziehung gebunden, die mich zu mir selbst führt. Ich kann aber nur Achtung vor Menschen haben, die auch als Person glaubwürdig sind. 

Zahlreiche empirische Untersuchungen belegen, wie wichtig die Glaubwürdigkeit des Lehrers im Bildungsprozess ist. Deshalb kann ich Dozierende an Pädagogischen Hochschulen nicht verstehen, die die Lehrpersonen als Coaches bezeichnen. Ein Lehrer kann nicht nur einfach an der Seitenlinie stehen. Auch ein Lucien Favre, der frühere Head-Coach von Borussia Dortmund, war mehr als lediglich Coach. Er nahm Einfluss und trainierte mit den Spielern, er führte Gespräche und gab Feedback, er korrigierte; kurz: Er war nicht einfach nur Coach, er war Fussball-Lehrer. Es ist eine semantisch gefährliche Veränderung, wenn man den Lehrer als Coach benennt.  Der deutsche Lernforscher Ulrich Trautwein sagt, dass das Wesentliche im Unterricht unsichtbar sei: also Vertrauen, Zuneigung oder der Pygmalion-Effekt   – unsichtbar, nicht messbar, nicht kontrollierbar. Diese Faktoren, die Tiefenmerkmale, müssten wir wieder betonen. Bildungspolitiker kennen oft nur Oberflächenmerkmale. Danach die Schule zu reformieren   – zum Beispiel durch Abschaffung der Noten und der Hausaufgaben, durch den Wegfall der Selektion   – führt nicht weiter. Unsere Lehrerverbände, angefangen bei Dagmar Rösler, Präsidentin des LCH, über Thomas Minder, den Präsidenten der Schweizer Schulleiterinnen und Schulleiter, reden kaum vom pädagogisch Wesentlichen. Sie surfen an der Oberfläche; entsprechend hören sich auch ihre Voten an.

Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter Depressionen, Einsamkeit, Angstzuständen, Selbstverletzungen bis hin zu Suizidgedanken. Mit den Reformen der letzten Jahre sind die Kinder und Jugendlichen zunehmend auf sich allein gestellt. Sind die Schulen allenfalls Teil des Problems und mitverantwortlich für den schlechten Zustand vieler Kinder und Jugendlicher?

Thomas Fuchs, Inhaber der Karl-Jaspers-Professur in Heidelberg, hielt kürzlich einen Vortrag zum Thema «Lernen in Beziehungen». Das ist vermutlich der Kern des Bildungsvorgangs. Ich persönlich habe dort gelernt, wo ich mich angenommen und verstanden gefühlt habe, wo ich mich als Individuum ernst genommen fühlte. Das sind wieder diese unsichtbaren Faktoren, die man in den letzten Jahren als weniger wichtig betrachtet hat. Wir haben das Selbstorganisierte Lernen (SOL) gestärkt, haben digitalisiert, haben die Arbeitsblätter optimiert. Konkret: Wir haben das Kind auf sich selbst zurückgeworfen. Es hat aber noch nicht die Ich-Stärke, alles selbst zu regulieren. Gemäss dem Berner Hochschullehrer Hans Aebli braucht der junge Mensch ein Vis-à-vis, das ihn ernst nimmt, zur Autonomie führt und sich nach und nach überflüssig macht. Wenn ich Hans Aeblis berühmte «Zwölf Grundformen des Lehrens» betrachte, so sind das alles interpersonale Prozesse wie beispielsweise Vorzeigen-Nachmachen, Erzählen-Nacherzählen und so weiter. Und diese interpersonalen Prozesse wie auch den Klassenunterricht vernachlässigen wir heute. Das ist ein Verlust. Jede Ausschliesslichkeit sei inhuman, hat der Basler Philosoph und Psychiater Karl Jaspers einmal gesagt.

Warum? Welche Bedeutung hat die Klassengemeinschaft fürs Lernen? 

Ich habe in der Primarschule wie später auf der Sekundarstufe unsere Klasse als lebendiges Miteinander erfahren, als eine verschworene Gemeinschaft. Das sehe ich beim heutigen stark individualisierten Unterricht weniger. Wir müssten uns darum in der Ausbildung auch das Gemeinschaftliche des Unterrichts wieder vergegenwärtigen   – oder anders gesagt: Lernen wird erst im gegenseitigen Austausch zur Bildung. «Die Welt liegt zwischen den Menschen», sagte die Philosophin Hannah Arendt. Ein Kernsatz für die Pädagogik. Das zielt auf eine sozial und mit-verantwortlich gedachte Individualität. Es ist das pädagogische Sowohl-als-auch. Die Individualität und das Gemeinschaftliche, das Einzelne und das Soziale müssen sich gegenseitig ergänzen und beleben, praktiziert im Klassenzimmer.

Ein guter Klassenunterricht hat darum immer die Individualität des Einzelnen wie das Gemeinschaftliche im Blick. Klassenunterricht ist ein Zusammenspiel von Individuation und Sozialisation. Unsere Gesellschaft braucht heute mehr denn je ein Verständnis von Miteinandersein oder eben eine Dimension des WIR, das zum gemeinsamen Handeln fähig ist. 

Mit «singulär plural sein» liesse sich diese Haltung wohl umschreiben. Die Klassengemeinschaft als Biotop fürs spätere Leben, der Klassenunterricht als gemeinschaftsfördernde Lernform: Kinder lernen, sich in Gemeinschaft auf eine Thematik zu konzentrieren. Sie profitieren von den Stärken der Leistungsfähigeren oder setzen sich mit den Schwierigkeiten der schwächeren Mitschüler auseinander. Das hat mich als Teil des Klassenteams belebt. Eine gemeinsame Aufmerksamkeit, eine «joint attention», sei grundlegend für die gemeinsame Wirklichkeit, sagt der US-amerikanische Evolutionsbiologe Michael Tomasello.

Doch die heutige Ausbildung, so mindestens höre ich es von jungen Absolventinnen der PHs, bekommt Unterricht als lebendiges Miteinander-Sein, als gemeinsames Nachdenken kaum mehr in den Blick. Das Gemeinsame und Soziale und damit auch das Emotionale werden wie ausgeblendet. Im Zusammenspiel mit digitalen Tools entstehen neue Formen des Lernens. Gefragt und gepusht ist das isolierte Lernen in der Atmos­phäre eines digitalisierten Grossraum-Schulbüros. Vereinzelung pur! Ob Kinder dabei zu postmodernen Einzellern werden? Die Gefahr ist gegeben. 

Als dialektisches Gegengewicht zur forcierten Individualisierung ist der Klassenunterricht, das gemeinsame WIR, darum so notwendig wie dringend. Die empirische Unterrichtsforschung ist sich einig: Nicht digitalisierte oder virtuelle Formate, sondern verkörperte Lehre und persönliche Präsenz sind für die Primarschule die wirksamste Form des Unterrichts   – in gemeinsamer Interaktion. Ich betone nochmals: Lernen wird erst im gegenseitigen Austausch zur Bildung. Sie ist ein gemeinsamer Prozess, der Mikrokosmos der Klassengemeinschaft das entsprechende Gefäss. Kurz gesagt: Wir sollten im guten und anregenden Klassenunterricht wieder einen Bildungswert erkennen.

Immer wieder wird der Lehrermangel beklagt. Tatsache ist, dass viele Junge motiviert sind, den Lehrerberuf zu erlernen, und auch erfolgreich eine Pädagogische Hochschule absolvieren. Nach wenigen Jahren quittieren sie jedoch den Dienst, gehen in die Administration oder zurück an die Universität. Sie gehen der Schule verloren. Wie erklären Sie dieses Phänomen?

Es werden genug Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet. Aber wir haben zu wenig Lehrpersonen, die sich ein ganzes Pensum zutrauen und damit auch die so wichtige Aufgabe der Klassenverantwortlichen. Viele reduzieren sehr schnell das Pensum. Das mag zunächst dem Praxisschock geschuldet sein. Junglehrer sind vielfach zu wenig eingeübt und damit zu wenig vorbereitet aufs «Classroom-Management». Die Ausbildung an den PHs zielt eher aufs Individualisieren und weniger aufs anspruchsvolle Führen einer Klasse. 

Zudem ist unser Schulsystem immer komplexer geworden. Seit dem PISA-Schock von 2000 haben wir Reform um Reform lanciert. Die jungen Lehrerinnen und Lehrer kommen in ein hochkomplexes System, wo ganz viel koordiniert und administriert werden muss. Das Wesentliche, weshalb sie Lehrerin, Lehrer geworden sind, nämlich das Unterrichten, kommt vielfach zu kurz. Konkret: Sie müssen unter schwierigen Bedingungen arbeiten. Der deutsche Philosoph, Jürgen Habermas, hat von «entgegenkommenden Verhältnissen» an Schulen gesprochen. Aufgrund der maximierten Heterogenität haben wir vielerorts deutlich erschwerte Verhältnisse. Das führt zu Unterrichtsituationen, die oft nicht mehr zu bewältigen sind. Und wenn man etwas nicht bewältigen kann, so zweifelt man als Erstes nicht am System, sondern an sich selbst. Das weiss ich aus Gesprächen mit jungen Lehrpersonen. Sie ziehen dann die Reissleine und reduzieren ihr Pensum. Sie werden Fachlehrer oder unterrichten Deutsch als Zweitsprache, wo sie weniger Verantwortung tragen. Sie wagen sich nicht mehr ins «Haifischbecken» heutiger Klassen. Der Beobachter spricht vom «Tohuwabohu» und davon, dass Unterricht in gewissen Klassen gar nicht mehr möglich sei. Meine besten Studierenden haben teilweise nach zwei Jahren an die Uni gewechselt und weiterstudiert. Sie gingen dem Schulalltag verloren. Das dürfte nicht sein. Doch Bildungspolitik und Stäbe schauen weg. 

Spätestens die Resultate der PISA-Studie müssten doch den Politikern zu denken geben: Am Ende des neunten Schuljahres können 25 Prozent der Schweizer Schülerinnen und Schüler nur ungenügend Lesen und Schreiben! Warum?

Das Kernproblem liegt beim Verstehen. Textlesen und Sinnverstehen werden für manche Jugendlichen zur Schwerstarbeit. Umso mehr müsste die Schule Gegensteuer geben, nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Und hier liegt meines Erachtens eines der grössten Probleme: Leseverstehen muss eben geübt werden. Aber dafür haben wir keine Zeit mehr. Die Reformen haben zu einer curricularen Überfülle der Primarschule geführt. Kennzeichen der letzten 25 Jahre war die Addition.

Unterricht besteht aus vielen dialektischen Prozessen. Jeder Inhalt braucht als Gegenwert das Festigen. Wenn wir nun die Inhalte erhöhen   – Frühenglisch, Mittelfrühfranzösisch   – dann entsteht auf der Gegenachse eine Subtraktion: das Üben. Es gibt eine Formel, die ich meinen Studierenden mitgegeben habe: L = V x Ü x A, was so viel heisst wie: Lernen = Verstehen x Üben x Anwenden in verschiedenen Situationen. Wenn man die Inhalte maximiert, erfolgt auf der Übungsebene eine Reduktion. Das zeigt sich in den PISA-Resultaten.

Das heisst, die Inhalte werden zwar «durchgenommen», man kann sie abhaken, aber mangels Übung bleiben sie den Schülerinnen und Schülern nicht. 

Genau. Es bräuchte einen Schulunterricht jenseits der Erledigungsmentalität. Dieser Satz stammt von Horst Rumpf, einem phänomenalen Pädagogen und eigenständigen Denker. Ein Ding richtig zu können ist eben mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt insbesondere für die grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie sind zu trainieren. Viel Nebensächliches aus dem Lehrplan 21 kann weggelassen werden. Das wussten meine Studierenden. Es gäbe, so habe ich ihnen gesagt, aus der Verantwortung für gutes Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler das Gebot der kreativen Dissidenz der Unterlassung. Das ist ein wirksames Mittel, um an den Anforderungen nicht zugrunde zu gehen. Ein Kapuziner hat mir einmal gesagt: «Carl, du wirst Fehler machen, entschuldige dich einfach. Sich etwas zu schämen, tut übrigens nicht lange weh.» Zum Glück wird mit jedem Kind auch ein Widerspruchsgeist geboren. Freiheit lässt sich auch in der Pädagogik nicht über Vorgaben und Vorschriften von oben eliminieren. 

Welche Bedeutung hat eine umfassende Bildung, wie Sie sie eingangs beschrieben haben, für unsere direkte Demokratie, für unser gesellschaftliches Zusammenleben in Freiheit?

Die Bildung muss alles daransetzen, dass die jungen Leute lesefähig werden und zum Verstehen gelangen   – interessiert am Sozialen, an der Gemeinschaft, an der Welt. Zur Veranschaulichung dieser Aufgabe zeichnete ich meinen Studierenden drei Kreise. Der innere Kreis: «Die Kinder im Individuellen stärken», der mittlere Kreis: «die Kinder im Sozialen stärken», und im äussersten Kreis: «die Kinder hinführen zur Citoyennität». Ein Citoyen ist mehr als ein gewöhnlicher Bourgeois   – er partizipiert an unserer Kommunität, zeigt Interesse an unserem Staatswesen, an unserer Gemeinschaft; er engagiert sich. Es sind die drei schulischen Grundaufträge: Individuation, Sozialisation, Enkulturation   – die ursprüngliche Idee der Aufklärung. Dafür kämpfte der helvetische Bildungsminister Philipp Albert Stapfer um 1800; das war Pestalozzis Anliegen. Voraussetzung sind die drei grossen «G»: Grundwissen, Grundfertigkeiten, Grundhaltungen: Eine pädagogisch-didaktische Trias, die gar nicht veralten kann, weil sie so etwas wie ein NON PLUS ULTRA darstellt. Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen. Davon hat mein Lehrer in der fünften und sechsten Primarklasse immer und immer wieder gesprochen. Das war ihm wichtig   – für uns als seine Schüler.

Es beschäftigt mich: Wir haben heute in der Schweiz rund 800 000 Illiteraten und gegen 400 000 Leute, die mit «Alltagsmathematik» überfordert sind. Dem teuersten und wohlgenährtesten Bildungssystem der Welt gelingt es nicht, alle zu literarisieren   – davon spricht niemand! 

Zum Glück gibt es auch vermehrt Stimmen, die sich der Bedeutung einer umfassenden Bildung bewusst sind. Dieses Frühjahr erschien zum Beispiel der von Ralf Lankau herausgegebene Sammelband «Die pädagogische Wende», an dem Sie aktiv mitgewirkt haben. Welches Anliegen verbindet die Autoren?

Uns verbindet das Anliegen   – etwas plakativ formuliert   –, die Pädagogik wieder ins Schulzimmer zurückzubringen. Es ist die gemeinsame Einsicht, dass wir eine (Rück-)Besinnung auf das Unterrichten bräuchten, eine Art Renaissance der Konzentration auf den Nukleus der Schule, den Kern, auf das Kind und sein Lernen: systematisch aufgebaut, strukturiert und angeleitet. Es ist das Junktim von Lehren und Lernen, diese unerlässliche Kombination von Instruktion und Konstruktion   – das Zusammenspiel von Interpersonalem und Intrapersonalem: diese für die Lernqualität so konstitutiven Elemente des Sowohl-als-auch. Vieles davon fehlt in der aktuellen Debatte und im Bildungsdiskurs weitgehend. Darauf möchten wir uns besinnen.


ISBN: 978-3-407-25907-3

Damit verbunden ist das Selbstverständliche, nämlich die Bedeutung der Lehrerinnen und Lehrer. Sie vermitteln eben nicht nur Stoff, sondern sie prägen als Lehrerpersönlichkeiten ihre Schülerinnen und Schüler weit über das Fachliche hinaus. Nicht formale Vorschriften, Leistungstests und Evaluationen sind der Kern von Schule und Unterricht, sondern das päda­gogische Wirken der Lehrenden als Persönlichkeit. «Junge Menschen zu sich selber zu führen», ist ihre Aufgabe. Nur so können Kinder ihre Potenziale entfalten.

Einen solchen Klassenlehrer hatten wir beispielsweise in der fünften und sechsten Primarschule. Als passionierter Theatermensch wollte er uns zum guten Lesen und Sprechen führen und natürlich zum korrekten, kohärenten Schreiben. In zwei Jahren verfassten wir über 20 Aufsätze. Jeden Text hat er sauber korrigiert und mit jedem Einzelnen seiner rund 50 Schüler persönlich besprochen. Das bedeutete mehr als tausend Gespräche. Noch heute höre ich einige seiner Aufsatz-Feedbacks. «Carl, zwischen diesen beiden Abschnitten stimmt der Übergang nicht.»   – «Das Wichtige kommt in den Hauptsatz, nicht in den Nebensatz. Probiere nochmals! Und dann kommst du wieder!» Er praktizierte das, was der Philosoph Hegel für die Kurzform der Bildung hält: «Im Anderen zu sich selber kommen.» Ich habe von all jenen Lehrern am meisten mitbekommen, die mich unerbittlich im Detail gefordert, dies aber mit einer humanistischen Grundverpflichtung verbunden haben: streng in der Sache, menschlich zur Person. Ich spürte, dass sie mich ernst nahmen und mich weiterbringen wollten. Ihnen bin ich mein Leben lang dankbar.

Ein Pädagoge muss also den Mut haben, im Gegenwind zu stehen. 

Ja, das ist es. Der deutsche Pädagoge Thomas Ziehe sagte einmal, die Lehrer müssten mit einer charmanten Autorität die Kraft aufbringen, die Schüler aus ihren Eigenwelten herauszuholen und sie in Kulturwelten zu führen. In diesem Sinne seien sie heute eine Art «Fremdenführer». Darum müsse die Schule auch Gegenläufiges verlangen und gegenhalten; sie kann nicht immer mit dem Wind ziehen und dem Zeitgeist huldigen. Das ist die anspruchsvolle Aufgabe der Schule. Erziehen und Unterricht sind eben dialektische Prozesse. Darin liegt das Faszinosum unseres schönen Berufs.

Herr Bossard, vielen Dank für das Gespräch. 

*Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter http://www.carlbossard.ch/

Interview Susanne Lienhard und Andreas Kaiser

veröffentlicht am 28. August 2024

Quelle: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-14-15-vom-28-august-2024.html#article_1727
Mit freundlicher Genehmigung von zeitgeschehen-im-fokus.ch

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