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The Lancet: Psychische Krankheiten weit mehr verbreitet als angenommen

Psychische Störungen treten viel häufiger auf als vermutet und nehmen stetig zu. Warum das trotzdem die wenigsten beschäftigt
Von Jean-Martin Büttner*
15. Oktober 2018
Appelle haben einen ähnlich schlechten Ruf wie Studien; viele von ihnen bleiben statistisch irrelevant, die meisten bestätigen nichts anderes als die Meinung des Auftraggebers oder sind aus anderen Gründen befangen. Wenn aber «The Lancet» etwas publiziert, muss man das lesen.

Das medizinische Wochenblatt, benannt nach einem zweischneidigen Skalpell, erscheint seit 1823, gilt als meistzitierte Publikation seines Fachs und geniesst, von sehr wenigen Polemiken und Falschpublikationen abgesehen, einen weltweiten Ruf der Seriosität.

Enorme Summen Geld und Millionen Menschenleben

Nun ist ein Rat von 28 weit verteilten Expertinnen und Experten in der Zeitschrift zum Schluss gekommen, dass die psychischen Krankheiten weit mehr verbreitet sind als angenommen. Und schlimmer noch: Sie nehmen zu. Das verwendete Vokabular klingt dramatisch. Jedes Land der Welt sei mit einer «mental health crisis» ­ konfrontiert und reagiere zu wenig oder nicht auf sie, steht da zu lesen. Also weltweite Gleichgültigkeit als Reaktion auf die Krise der psychischen Krankheiten.

Die Experten konkretisieren ihre Warnung mit dem Hinweis, es gebe eine Epidemie von Depressionen und Angstzuständen sowie von Leiden, die durch Gewalt und Traumata erzeugt worden seien. Also Krieg, Folter, sexuelle Missbräuche und andere Formen der Brutalität. Diese Art ­von psychischen Versehrungen ­würde mehr junge Menschen töten als jede andere Ursache, sagt der Mitveröffentlicher Vikram Patel von der Universität Harvard   – die einen durch Suizid, die anderen durch mangelnde oder fehlende Betreuung. Die Zahl sei viel höher als angenommen, weil die Todesursache oft auf Verletzungen oder Überdosen reduziert werde.

Und weil die Politiker am ehesten reagieren, wenn es um Geld geht, hat das Gremium errechnet, dass die Kosten dieser Unterlassungen bis zum Jahr 2030 auf 16 Billionen Dollar anwachsen werden. Eine Billion ist die zweite Potenz einer Million, also 1' 000 000' 000'000. Die Zahl leitet sich aus Berechnungen der Weltbank ab, wie viele Arbeitsstunden wegen psychischer Probleme ausfallen. Selbst wenn man diese anzweifelt, deutet die Anzahl Nullen an, von welcher Grössenordnung die Fachleute ausgehen. Psychische Erkrankungen und ihre falsche oder fehlende Behandlung kosten unvorstellbar viel Geld. Und weltweit über 13 Millionen Leben jedes Jahr.

Lieber unerkannt bleiben

Noch dramatischer als solche Berechnungen sind die Reaktionen darauf, die «The Lancet» beschreibt: Sie bleiben mangelhaft. Das hat düstere Gründe. In vielen, sogenannt unterentwickelten Ländern werden psychisch Kranke in Gefängnissen weg­gesperrt, zu Hause angekettet, oder sie schleppen sich als Obdachlose durch die Strassen, erhalten also keinerlei Behandlung. Untersuchungen in China oder Indien, die zusammen ein Drittel der Weltbevölkerung aus­machen, gehen davon aus, dass achtzig Prozent der psychisch Kranken sich nicht behandeln lassen oder nur eine schlechte Behandlung erhalten.

Dazu kommt, dass die Folgen schwerer Traumata vom DSM, dem Klassifikationssystem der Psychiatrie, erst 1980 als psychische Störung benannt wurden. Obwohl man das Symptom seit dem Ersten Weltkrieg erkannt hat, blieben heimkehrende Soldaten meistens untherapiert. Die einen schwiegen über die Gräuel, die sie erlebt, erlitten oder begangen hatten, die anderen erzählten immer wieder dieselben Szenen, wieder andere wurden bestimmte Bilder nicht los. Er werde den Blick dieser griechischen Frau nie vergessen, «die ich umgelegt habe», erzählte ein ehemaliger ­SS-Offizier in einer der unsäglich vielen Dokumentationen des Fernsehhistorikers Guido Knopp mit seinem Betroffenheitstremolo. Die Wortwahl des Mörders deutet schon die Un­fähigkeit an, die Tat zu verarbeiten.

Psychische Krankheiten werden bis heute oft verdrängt. Über die meisten Operationen redet man locker und bekommt Sympathie dafür. Süchtige aber, Depressive, Maniker und andere wollen nichts lieber, als dass ihre Versehrungen unerkannt bleiben. Der Kranke schämt sich, und die anderen gehen auf Distanz. Die einzige Krankheit, die weitherum akzeptiert wird, ist das Burn-out-Syndrom, diese verdächtig weit verbreitete Erkrankung, die manche ihrer Ereilten tragen wie eine Medaille: Erschöpfung als Folge übermässiger Arbeit. In manchen Chefetagen sagt man dem wohl Beförderung.

Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/contentstationimport/die-unberuehrbaren/story/18283054
Erstellt: 14.10.2018, 22:44 Uhr

jean martin buettner m
*Jean-Martin Büttner
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