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Tiefenpsychologie auf naturwissenschaftlicher Grundlage

Ein Beitrag zur Diskussion des wissenschaftlichen Selbstverständnisses der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle Zürich
Von Dr. phil. Urs Palmer - Auszug aus dem Buch "Soziale Psychologie" - Topia Verlag 1979
27. August 2024

Unsere Welt ist gekennzeichnet von Kriegen, Ausbeutung, Elend, Hunger und Folter. Liegen die Ursachen dafür in der Bösartigkeit des Menschen? Oder sind es andere Gründe, welche ein Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit verunmöglichen?

Die Autoren des vorliegenden Sammelbandes versuchen, eine Antwort auf diese Fragen zu geben, indem sie die Natur des Menschen beschreiben. Der Mensch wird als Ergebnis der natürlichen Evolution verstanden und deshalb mit naturwissenschaftlichen Methoden, ohne jegliche irrationale und mystische Überlegungen untersucht. Entscheidend für den Menschen sind seine soziale Natur und seine Lernfähigkeit. Da diese Faktoren durch eine unsachgemässe Erziehung, eine ungerechte Gesellschaftsordnung und eine vom mystischen Denken beeinflusste Kultur eingeschränkt und verunstaltet werden, ist unsere Welt in einem Zustand, der nicht als human bezeichnet werden kann.

Vorbemerkung

Die Gruppenmethoden in der Psychotherapie finden in der Fachwelt immer mehr Beachtung. Nicht allein die Tatsache, dass die Einzeltherapie für den Hilfesuchenden sehr kostspielig werden kann, oder das Bestreben, die seelenärztliche Betreuung jedermann zugänglich und erschwinglich zu machen, fördern diese Tendenz. Die gruppenpsychotherapeutische Praxis zeigt auch, dass von den Gruppensitzungen   – in Ergänzung zum Gespräch unter vier Augen   – eine therapeutische Wirkung ausgeht, die in der Einzeltherapie allein schwer oder gar nicht erreicht werden kann. Während aber in Fachkreisen noch heute die Meinung vorherrscht, effektive Gruppenpsychotherapie sei nur in Gruppen von 6 bis 10 Teilnehmern möglich, hat die Psychologische Lehr- und Beratungsstelle Zürich unter der Leitung ihres Begründers, Friedrich Liebling, seit mehr als 30 Jahren neue Wege beschritten. Zuerst erweiterte Liebling das psychotherapeutische Gespräch unter vier Augen zum Gespräch unter sechs Augen, dann acht, zehn... heute sind es zum Teil Sitzungen mit vielen Teilnehmern.

Als wichtige Ergänzung zur Einzel- und Gruppenpsychotherapie werden auch Sitzungen durch geführt, an denen die Teilnehmer im freien Gespräch allgemeine Fragen der Psychologie im Zusammenhang mit Kultur, Gesellschaft, Religion usw. erörtern. Solche offenen Gruppentherapie-Sitzungen umfassen oft 200 bis 300 Personen.

Obwohl an diesen Gesprächen Menschen verschiedensten Alters und mit unterschiedlichsten bildungsmässigen Voraussetzungen teilnehmen, spielt sich heute die Erörterung der aufgeworfenen Fragen auf einem ausserordentlich hohen Niveau ab. Zwar gilt für alle diese Gruppengespräche die Regel, auch die schwierigsten psychologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Probleme in einfacher, verständlicher Sprache zu behandeln, um auch den »Mann von der Strasse« anzusprechen und auch denjenigen zum Mitdenken und Mitlernen anzuregen, der keine Gelegenheit hatte, höhere Schulen zu besuchen, sich im Zuhören, Lesen und Studieren zu üben.

Immer wieder zeigt sich aber, dass neu hinzukommende Teilnehmer, ganz abgesehen von ihrer Vorbildung   – selbst Fachkollegen, ausgebildeten Psychologen, geht es so   – grosse Mühe haben, dem Gespräch zu folgen, und zu verstehen, worum es hier eigentlich geht. Erst wenn sie die Geduld aufbringen, einige Zeit regelmässig in diese Gruppen zu kommen, zuzuhören und allenfalls Fragen zu stellen, werden sie eine Ahnung davon bekommen, was für Probleme und wie diese hier gemeinsam erarbeitet werden. Das spricht für die bisherige Entwicklung der Gruppe. Hier wird dem Menschen über die blosse Behandlung seiner individuellen, seelisch bedingten Störungen hinaus ein umfassendes Wissen um die psychische Natur des Menschen, über die neuesten Erkenntnisse in der Psychologie und Psychotherapie vermittelt. Hier werden auch kulture1le und gesellschaftliche Probleme erörtert.

Die vorliegenden Ausführungen stützen sich unter anderem auf eine Reihe solcher gruppentherapeutischer Gespräche über die Frage der Wissenschaftlichkeit der Psychologie. Der Autor erhebt keineswegs den Anspruch, dieses Thema hier erschöpfend zu behandeln oder alle vorgetragenen Aspekte der vorangegangenen Diskussion in der Gruppe zum Problem »Geisteswissenschaft oder Naturwissenschaft«, genau wiedergeben zu können. Er möchte damit nur einen Beitrag leisten zum weiterführenden Gespräch.

Zur Fragestellung

Am Winterkongress 1971 der »Zürcher Schule« für Psychotherapie wurde in zahlreichen, mehrstündigen Abenddiskussionen   – mit etwa 500 Teilnehmern   – das psychologische Problem von Gefühl und Verstand erörtert. Der Mensch ist in seinem Denken, in seinem Tun und Lassen stets getrieben von unbewussten Gefühlen, von Gefühlen, die als Ganzes seinen individuellen Charakter ausmachen und die er in den ersten Lebensjahren erworben hat.

Die charakterbildenden, unbewussten Gefühle des Menschen sind Gegenstand der psychologischen Forschung. Welche unbewussten Gefühle jeweils den Hilfesuchenden bewegen, wie sie entstanden sind und wie man sie   – den Erfordernissen des Lebens gemässer   – verändern könnte, das sind Grundprobleme in der psychologischen Forschung und der Psychotherapie. Diese Frage unter anderen beschäftigte die Kongressteilnehmer. Wie wird das Bewusstsein, der Verstand, das logische Denken des Menschen durch seine unbewussten Gefühle gesteuert? Lassen sich psychologische Probleme durch rein verstandesmässige Schlüsse und Argumente ergründen und vemitteln? Was ist Psychotherapie? Lässt sie sich durch fleissiges Studieren von Büchern, Anhören und Überdenken wissenschaftlicher Vorlesungen und in der fachlichen Diskussion erlernen?

Die psychologische Forschung und die Psychotherapie, wie sie die von Liebling begründete »Zürcher Schule« versteht, arbeitet nach naturwissenschaftlichen Grundsätzen. Von anderen natur-wissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet sich diese naturwissenschaftliche Tiefenpsychologie allerdings durch ihren besonders schwierigen Forschungsgegenstand: Hier sind der menschliche Verstand und das Gefühl unmittelbar selber in Frage gestellt, nicht zuletzt auch das Denken und Fühlen des Forschers, des Therapeuten und des Lernenden. Darum ist psychologischen Problemen rein intellektuell nicht beizukommen. Im Gegenteil: So lange rationales, rein verstandesmässiges Bemühen vorherrscht, wird man weder imstande sein, bereits vorhandene psychologische Erkenntnisse richtig zu begreifen, noch selber neue Erkenntnisse zu gewinnen, und auch nicht, sie zu therapeutischer Wirksamkeit zu bringen.

Wohl kann man sprachlich formuliertes psychologisches Wissen bloss verstandesmässig auswendig lernen und dabei sogar noch überzeugt sein, auch wirklich verstanden zu haben. Das führt oft zu einer tragischen Unterschätzung der überaus schwierigen psychotherapeutischen Arbeit, die vom oberflächlichen Betrachter gerne mit einem intimen Plauderstündchen oder einem methodisch erlernbaren Frage- und Antwortspiel verwechselt wird. Effektive Psychotherapie lässt sich nicht als intellektuell darstellbare Methode erlernen. Auch eine noch so ausgeklügelte, logisch-systematisch versuchte Analyse der vorliegenden Lebensprobleme wird dem einzelnen Menschen niemals gerecht. Sowohl in der Psychotherapie als auch in der psychologischen Forschung ist der Psychologe vor allem auf das Instrument des geübten Einfühlungsvermögens angewiesen, will er wirklich weiterkommen.

Das menschliche Bewusstsein, die verständliche Aktivität, spielt in der Psychologie als Forschungsgegenstand wie auch als Forschungsmittel nur eine untergeordnete Rolle; es gleicht der Spitze eines Eisbergs, die dem Kenner verrät, dass hier ein kleines sichtbares Zeichen getragen ist von einem viel massgebenderen, viel umfassenderen und ausgedehnteren, verborgenen Untergrund. Der bewusste Verstand ist nur ein Teilaspekt des umfassenden Lebensgefühls, welches uns als das Ganze der individuellen Persönlichkeit begegnet. Wer ernsthafte, brauchbare psychologische Arbeit leisten will, muss fähig sein, sich in das individuelle Lebensgefühl seines Gegenüber einzufühlen. Rein intellektuelles Erfassen führt dabei niemals zum Ziel.

Leider ist unsere gesprochene und geschriebene Sprache so mangelhaft, dass sich der eben angedeutete Sachverhalt auf diese Weise kaum eindeutig beschreiben und verständlich machen lässt. Daran ändern auch noch so viele Definitionen der dabei vorgetragenen Worte und Wendungen nichts. Man bleibt immer an der Oberfläche des bloss Wortmässigen, und die untergründigen Gefühle, welche unsere wirkliche, lebensbestimmende Meinung ausmachen, bleiben unaufgedeckt. Die Verständigung auf diesem Gebiet ist sehr schwer. Missverständnissen sind Tür und Tor offen.

Wie ist das angesichts der besonderen Situation der Psychologie zu verstehen, wenn man in der »Zürcher Schule« betont, psychologische Forschung im naturwissenschaftlichen Sinne zu betreiben? Gerade die »Zürcher Schule« hebt doch die Ganzheit und Einmaligkeit jedes Menschen hervor und weist darauf hin, wie unfruchtbar das bloss rationale Vorgehen und wie entscheidend das Einfühlungsvermögen in der psychologischen Arbeit ist. Müsste man deshalb gerade diese Psychologie   – etwa im Gegensatz zur »mathematischen Psychologie«, zur »Psychophysik« usw.   – nicht viel eher als Geisteswissenschaft bezeichnen?

Aus diesem Fragenkomplex entwickelte sich in den an den Kongress wieder anschliessenden wöchentlichen gruppentherapeutischen Abendsitzungen ein Gespräch über das Problem: Warum versteht sich die Psychologie der »Zürcher Schule« als Naturwissenschaft und nicht als Geisteswissenschaft? Die vorliegenden Ausführungen sind als Beitrag zu diesen Gesprächen gedacht und stützen sich auch auf die dort bisher erarbeiteten Erkenntnisse. Die folgenden Erörterungen verstehen sich in erster Linie als Stellungnahme zur Frage, warum uns in unserer psychologischen Forschungsarbeit u.a. gerade dieses Problem so beschäftigt, und zwar nicht als ein blosser Streit um leere Worte, sondern als ein wesentlicher Schritt in unserer gruppentherapeutischen Arbeit. Es geht hier also weniger um die rein erkenntnistheoretische Frage als um das geschichtliche Verständnis unserer heutigen Situation in der Wissenschaft von der psychischen Seite des Lebens.

Geisteswissenschaft oder Naturwissenschaft   – worum geht es eigentlich?

Ob man den Menschen vom Gesichtspunkt des Physikers oder Chemikers oder Biologen oder Psychologen untersucht, ist offenbar nicht einerlei, sowohl was die Probleme, die sich dabei stellen, als auch was die klärenden Antworten darauf betrifft. Jeder Wissenschaftszweig versucht einen eigenen Teilaspekt der Natur zu erforschen und stellt dem entsprechend auch andere, eigene Fragen an die Natur, oft noch in einer besonderen Sprache formuliert.

So interessiert zum Beispiel den Phvsiker die Natur als eine räumlich-materielle Wirklichkeit, die wir durch exakte Messungen verstehen können. Er erschliesst sich die Welt gewissermassen mit dem Massstab in der Hand, d.h. er vergleicht Längen mit anderen Längen, Zeitspannen mit anderen Zeitspannen, Kräfte mit anderen Kräften usw. Die Sprache, in der er die Natur befragt, ist die Mathematik. Ähnlich, wenn auch jeweils unter einem leicht veränderten Blickwinkel, untersuchen Chemiker, Astronomen, Geologen usw. die Natur. Doch schon den Biologen, obwohl heute wesentlich und weitgehend auf die Chemie angewiesen, scheint ein ganz andersartiges Phänomen im Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stehen: das Leben. Der Psychologe schliesslich kümmert sich in seiner Forschung ausschliesslich um das Leben des Menschen, um seine Psyche. Seine Fragen an die Natur sind von besonderer Art und viel bestimmter als etwa die sehr allgemeinen Fragen des Physikers. Auch formuliert er sie   – zumindest in der Tiefenpsychologie, von der hier die Rede ist   – nicht in der Sprache der Mathematik.

Ist es angesichts dieses Sachverhalts nicht angebracht, die Gruppe von Einzelwissenschaften, die sich mit den toten Dingen der Natur befassen, grundlegend von der anderen Gruppe zu unterscheiden, die das Leben oder sogar die Lebensäusserungen des Menschen zum Gegenstand ihrer Forschung haben? Diese Frage scheint umso berechtigter zu sein, als das Leben, das sich stets zielgerichtet zeigt, im wesentlichen nicht in der Sprache der Mathematik sinnvoll beschrieben und erfasst werden kann. So naheliegend eine solche Trennung der beiden Wissenschaftsgruppen einem vorkommt, wie sie, zwar noch etwas enger gefasst, durch die Gegenüberstellung der Begriffe »Naturwissenschaft« und Geisteswissenschaft« versucht wurde   – es geht um etwas ganz anderes, wenn innerhalb der »Zürcher Schule« soviel Wert darauf gelegt wird, die Psychologie und überhaupt jede ernstzunehmende Wissenschaft als Naturwissenschaft zu bezeichnen.

Manche Gesprächsteilnehmer hatten deshalb Mühe, den Sinn der Diskussion zu verstehen; sie hatten ihre Einwände;

  • Aber mit dem Wort »Geisteswissenschaften« will man doch nur »die Wissenschaften vom Menschen«1 und »von der selbsterschaffenen Welt des Menschen«2 bezeichnen.

  • Natürlich gehört der Mensch und seine Kultur letztlich auch zur Natur. Wer wollte das heute bestreiten! Vielleicht ist diese Unterscheidung auch nicht so geschickt, weil sie allzusehr an die mittelalterliche Trennung von Geist und Natur erinnert   – aber so ist das doch heute gar nicht mehr gemeint, zumindest seit Dilthey nicht mehr, der gerade in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen hat, dass »die Tatsachen des geistigen Lebens nicht von der psychophysischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt«3 gesehen werden dürfen. Man teilt jetzt eben einmal so ein in der wissenschaftlichen Literatur. Was ist denn daran so schlimm? Jeder kann ja für sich selber die Dinge so sehen, wie sie ihm mehr liegen.

  • Was will man Zeit verlieren mit der Diskussion, ob unsere Arbeit nun der Naturwissenschaft oder der Geisteswissenschaft zuzurechnen sei? Und warum soll man nicht gerade mit dieser Unterscheidung darauf hinweisen, dass sich das Vorgehen des Psychologen eben wirklich von dem des Physikers unterscheidet?

Solche und andere, ähnliche Argumente wurden vorgebracht. Aber zur Frage steht nicht in erster Linie, wie sinnvoll heute eine Unterscheidung wissenschaftlichen Arbeitens in Natur- und Geisteswissenschaft ist, sondern vor allem: wie kam es dazu? Welche weltanschauliche Tendenz können wir hinter diesem Sprachgebrauch finden? Das Heute ist ein Kind des Gestern. Das unbewusste religiöse Prinzip, das uns heute noch beherrscht, ist ein Ausläufer der einstmals offenen Herrschaft der Kirche über unsere abendländische Kultur. In der modernen Psychotherapie lernt der Hilfesuchende, dass er, will er seine heutige Situation richtig verstehen lernen, zuerst seinen Weg vom Gestern ins Heute kennenlernen muss, seine individuelle Art und Weise, wie er in seinen ersten Kindheitsjahren ins Leben schritt. Versteht man die Psychotherapie in einem so tiefgreifenden und umfassenden Sinn wie die »Zürcher Schule«, die den einzelnen Menschen immer auch in seiner Kulturbedingtheit sieht, dann führt man ihm nicht nur den Zusammenhang zwischen seiner frühesten Kindheitsentwicklung und seinem gegenwärtigen Lebensgefühl vor Augen, sondern klärt ihn auch über die kulturellen und geschichtlichen Zusammenhänge auf, welche die Erziehungsideale seiner Eltern und die geistige Atmosphäre seiner Umwelt entscheidend mitprägten.

Der erfolgreiche Verlauf einer Psychotherapie hängt wesentlich davon ab, wie der Hilfesuchende den Therapeuten und dessen Arbeitsweise einschätzt. Seit alters her war für die seelischen Probleme der Pfarrer, der Theologe zuständig. Gemütserkrankungen legte man als Besessenheit aus   – da war der Teufel im Spiel. Gegen andere nervöse Störungen und Lebensprobleme versuchte man bestenfalls noch den Willen des Leidenden zu mobilisieren oder empfahl ihm, demütig auszuharren, zu dulden und zu beten. War von der Seele die Rede, war die Vorstellung vom Mystischen, Geheimnisvollen nicht weit zu suchen.

Von solchen, vorab unbewussten, mystischen Missverständnissen ist auch unsere Haltung der Psychotherapie gegenüber nicht frei. Darin   – und in manch anderer Hinsicht   – sind wir alle noch Kinder des abergläubischen und wunderdeutenden Mittelalters. Psychotherapie auf naturwissenschaftlicher Grundlage   – das kann man leicht nachsprechen; aber wer ist sich wirklich der Tragweite dieser Aussage bzw. des Sachverhalts, der damit angedeutet werden soll, bewusst? Nur wer versteht, wie es kommt, dass man vielenorts noch heute darauf beharrt, die Wissenschaften vom Menschen und seiner selbsterschaffenen Welt als besondere Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften zu trennen, wird diese Tragweite erkennen können. Geisteswissenschaft oder Naturwissenschaft   – worum geht es eigentlich? Indem wir uns mit dieser Frage genau auseinandersetzen, erarbeiten wir uns ein vertiefteres Wissen um unseren geschichtlich-kulturellen Hintergrund. Dieses Wissen wird dazu beitragen, unsere gegenwärtige, persönliche und gesellschaftliche Lebenssituation besser zu durchschauen.

Zur Psychologie der Wissenschaft

Wer sich Gedanken über die Wissenschaftlichkeit der Psychologie macht und in diesem Zusammenhang zwangsläufig das Wesen der Wissenschaftlichkeit überhaupt untersucht, wird nicht darum herumkommen, sich in erster Linie einmal um die Psychologie der Wissenschaft zu kümmern. Die Frage stellt sich, ob es denn möglich sei, Gültiges über die Wissenschaft als Ganzes auszusagen, indem wir sie vom Gesichtspunkt einer Einzelwissenschaft her beleuchten. Ist es nicht ein sinnloser Zirkelschluss, Methoden mit Erkenntnissen zu beurteilen, die ja gerade durch Anwendung dieser Methoden gefunden wurden?

Aber Wissenschaft ist hier nicht als abstraktes System inhaltsleerer Zeichen gemeint, sondern als ein geschichtlich greifbarer Gegenstand. Wie erwirbt sich der Mensch Wissen? Ohne hier näher auf philosophische Erörterungen des Begriffs »Wissen« und die Frage, was denn »Wissen« überhaupt sei, einzutreten, soll im umfassendsten Sinn an die naturalistische Weltauffassung angeschlossen und allein die sinnliche Erfahrung zum Massstab aller Überlegungen und Schlüsse genommen werden.

Eine psychologische Erkenntnis   – beruhend auf exakter Beobachtung vieler Forscher, zum Teil unabhängig voneinander an verschiedensten Orten der Welt, zu verschiedensten Zeiten und in Tausenden von Fällen   – ist die Tatsache, dass der Mensch bei seiner Geburt keinerlei Ideen und Ansätze zu seinem späteren Wissen von der Welt mitbringt. Alles Wissen, alle Ideen, überhaupt jede geistige Tätigkeit, die sowieso stets nur individuell auftritt, erweist sich in jedem Fall als Produkt eines vielschichtigen, sinnlichen Lernprozesses eines Einzelmenschen im Beziehungsgefüge zu anderen Einzelmenschen und zur übrigen Natur. Von diesem Sachverhalt muss eine brauchbare Wissenschaftstheorie ausgehen, will sie sich nicht in fruchtlose Spekulationen versteigen. Dazu gehört noch mehr. Jede wissenschaftliche Tätigkeit steht in einem doppelten Zusammenhang: dem der Menschheitsgeschichte und dem der persönlichen Lebensgeschichte des einzelnen Forschers.

Zum menschheitsgeschichtlichen Lernprozess

Zwar müssen wir in unserem Urteil über die frühgeschichtliche Situation der Menschheit sehr vorsichtig sein, handelt es sich doch dabei immer um Schlüsse, die wir aus einer mehrfach indirekten, sehr bruchstückhaften und in verschiedener Hinsicht fragwürdigen Überlieferung ziehen. Dennoch können wir heute auf Grund des vorliegenden Forschungsmaterials zumindest erahnen, wie hilflos einst die Menschen den Unbilden der Natur ausgeliefert sein mussten, bevor sie sich ein brauchbares Wissen um die Zusammenhänge der verschiedenen Naturerscheinungen erarbeiteten. Phantasiert und spekuliert wurde viel   – das zeigt uns die Geschichte der Philosophie zur Genüge. Wenn hier aber von »brauchbarem Wissen« die Rede ist, soll damit etwas anderes angedeutet werden: Hinter dem Streben, mehr wissen zu wollen um die wahren Zusammenhänge der verschiedenen Erscheinungen in unserem Leben, in der Welt, steckt nicht in erster Linie eine geistige Sehnsucht des Menschen nach der Wahrheit, gewissermassen eine voraus setzungslose »theoretische Neugier«4, sondern im wesentlichen das Suchen nach Wegen zur konkreten Lebensbewältigung. Schon die frühgeschichtlichen Sammler und Jäger standen vor den lebenswichtigen Fragen, wo und wie man sich am besten die notwendige Nahrung beschaffen könnte, wie man den herannahenden Sturm und Regen erkennt, was für Eigenschaften die Pflanzen haben, was die Gepflogenheiten der Tiere, des Wildes, sind. Bald einmal versuchten die Menschen auch, die Natur selber zu bearbeiten, hier und dort einzugreifen in den schicksalhaften Lauf der Dinge. Sie entwickelten in diesem Zusammenhang   – aus der Verbindung von sinnlicher Erfahrung und spielerischer Phantasie   – mannigfache Werkzeuge, Hilfsmittel und Methoden zur Veränderung mancher Bereiche der von ihnen einst mehr oder weniger unbeeinflussten Natur. Der mit primitiven Versuchen und Experimenten beginnende und zu immer erstaunlicherem Können und durchdachterer Technik fortschreitende Handwerker muss als eigentlicher Vorläufer und Begründer der modernen Naturwissenschaft gesehen werden.

Zu allen Zeiten finden wir die weitläufigen handwerklich-geistigen Bestrebungen der Menschen letztlich getragen vom Motiv konkreter Lebensbewältigung. Schon in den über 5000 Jahre zurückliegenden frühesten Kulturen des Vorderen Orients entdeckten Geschichtsforscher erste Spuren, Ansätze zu einer wissenschaftlichen Naturerschliessung. Die Entwicklung von Sprache und Schrift muss wohl als eine der ersten, entscheidenden wissenschaftlichen Grosstaten der Menschheit anerkannt werden, gewachsen aus dem des Alltags im ausgewogenen Wechselspiel von Praxis und Theorie.

In der Auseinandersetzung mit den mannigfaltigen Lebensproblemen, die sich den Menschen in den ersten Hochkulturen etwa in den Flusstälern des Nils, des Euphrat und Tigris oder des Indus stellten, sei es durch die periodischen Überschwemmungen der Flüsse, durch die Entwicklung der Dörfer zu frühgeschichtlichen Städten und Grossstädten, durch den Übergang zu gross angelegtem Ackerbau usw., entstanden doch die Anfänge der Mathematik aus der Kunst des Rechnens und der geometrischen Vermessung. Man baute Schiffe und von Tieren gezogene Fahrzeuge. Ausgedehnte astronomische Beobachtungen verhalfen zu einer systematischeren Zeiteinteilung und Aufstellung eines brauchbaren Kalenders. Immer ausgeklügeltere Werkzeuge zur Bearbeitung verschiedenster Stoffe und zur Förderung der Messkunst wurden erfunden. Die Schrift und neue Schreibmittel erlaubten, angesammeltes Wissen späteren Zeiten zu überliefern und dessen Ausbreitung zu fördern.

Oft wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die vorwiegend praxisbezogene Ansammlung von Einzelwissen, z.B. dieser frühesten Hochkulturen, niemals die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft erlaubt hätten, weil darin »der Schritt von der Praxis zu der diese verarbeitenden Theorie«5 nicht getan wurde. Erst die antiken Griechen hätten das unternommen, weil bei ihnen ein »Bedürfnis nach Wissen um des Wissens willen«5 vorhanden gewesen sei, das Streben nach »reiner, gewissermassen interesseloser Theorie«5   – also das edle Suchen nach der Wahrheit um der Wahrheit willen, nach jener absoluten Wahrheit an sich, jenseits aller niedrigen praktischen   – ja gar körperlich-sinnlichen Bedürfnisse.

Natürlich genügt die blosse Ansammlung von Einzelwissen nicht zur wissenschaftlich fundierten, weitreichenden Naturbeherrschung, wie wir sie heute, dank den modernen Naturwissenschaften, über weite Gebiete unseres Lebens kennen. Unser vielfältiges Wissen um einzelne Sachverhalte muss, soll es Früchte tragen, immer zueinander in Beziehung gebracht werden. Die theoretische Verarbeitung, die Gesamtschau der Dinge ist ein ebenso wesentliches Kennzeichen wissenschaftlicher Forschungsarbeit wie das genaue Beobachten und Beschreiben individueller Tatsachen.

Die Beobachtung allein, die nackte Not des Augenblickes erzeugen noch keine fortschreitende Wissenschaft. Immer bedarf der forschende Mensch auch der schöpferischen Phantasie, die ihn veranlasst, seine Beobachtungen und konkreten Erfahrungen zusammenzufassen zu neuen Vermutungen, Hypothesen, über mögliche Zusammenhänge, deren Erkennen allein ihm erlaubt, Bestehendes zu verändern, erfolgreich in den bisher von ihm unabhängigen Lauf der Dinge einzugreifen. Es scheint auch so zu sein, dass der notleidende Mensch, Tag für Tag eingespannt in den Kampf um das nackte Leben, ohne Musse zum ruhigen Nachdenken und zur mehr spielerischen Begegnung mit der Natur, schwerlich fähig ist, Wissenschaft zu entwickeln, beizutragen zur Ausweitung und zum Fortschritt der Möglichkeiten des Menschen, sein Leben in der Natur zu gestalten.

Das hat aber wenig zu tun mit dem mystifizierenden Lobgesang auf das Streben nach der Wahrheit um der Wahrheit willen. Hinter solchen Spekulationen verstecken sich ganz andere Motive. Was soll das sein: die Wahrheit? Was hat die Idee von der reinen, absoluten Wahrheit je zum Glück der Menschen beigetragen? Oder diente (und dient) auch diese Begriffskonstruktion zur konkreten Lebensbewältigung, und sei es auch nur einer kleinen Minderheit, zur nützlichen Benebelung der dienstbaren Geister? Doch davon sei weiter unten noch die Rede.

Auch das scheinbar ziellose Suchen nach Erkenntnis des Menschen, der dazu die Mittel und Musse hat, ist letztlich getragen vom Motiv der konkreten Lebensbewältigung, vom Streben des Lebens, in der Natur zu sein, sich darin zu behaupten und zu entwickeln. Theoretische Neugier, oder wie immer man das Suchen nach brauchbaren Verallgemeinerungen nennen will, ist wichtig   – aber sie ist nie voraussetzungslos, so zufällig sich solche Erleuchtungen auch einstellen mögen, und sie darf letztlich auch nie von der Praxis losgelöst sein, will man sich nicht in haltlosen, unnützen oder gar irreführenden Spekulationen verlieren.

Zur Herrschaft der reinen Spekulation

Das bisher Gesagte hat es bereits angedeutet: Ohne etwas Kombination, ohne schöpferische Phantasie gibt es ebensowenig Wissenschaft, wie wenn die genaue Beobachtung und das Sammeln von Tatsachenmaterial fehlt. Beides ist unbedingt nötig. Fehlt die schöpferische Phantasie, verfügt man nur über ein ungeordnetes Sammelsurium verschiedenster Alltagserfahrungen, wie sie oft der sogenannte »gesunde Menschenverstand« umfasst, dann lassen sich daraus ebenso schwer brauchbare Erkenntnisse gewinnen wie aus der überbordenden Spekulation, die sich in schwindelnden Höhenflügen um keinerlei Nachprüfung der praktischen Bedeutsamkeit ihrer Ideen mit dem kritischen Massstab der sinnlichen Wahrnehmung mehr kümmert. Beide Extreme helfen dem Menschen nicht weiter in der Bewältigung seiner Lebensprobleme. Nur das ausgewogene Wechselspiel von sinnlicher Erfahrung und schöpferischer Phantasie erlaubt uns, neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Wissenschaft ist eine Frage des weisen Masses   – und der Geduld. So atemberaubend uns die Fortschritte der modernen Naturwissenschaft anmuten: Der Mensch macht diesbezüglich keine Sprünge. Alle bisherige wirkliche Naturerkenntnis ist das Resultat emsiger Kleinarbeit. Das Tempo der Entwicklung täuscht, weil wir den Fortschritt seit dem letzten Jahrhundert vergleichen mit einer Zeit, da der menschliche Forschergeist in schweren Ketten lag und jeder Ansatz zur Überwindung dieser kulturellen Bewusstlosigkeit mit Tortur, Feuer und Schwert im Keime erstickt worden war.

Gefahr droht der Wissenschaft weniger aus einem Mangel an schöpferischer Phantasie, wie oft behauptet wird, als vielmehr durch eine zur Phantasterei übersteigerte Phantasie: durch die Herrschaft der reinen Spekulation, wo die Ideen über die Natur gestellt werden, wo Sätze gelten, die sich mit dem Anspruch des höher Geistigen jeder Kontrolle durch die niedrige, verachtete sinnliche Erfahrung entziehen. Wir haben die Diktatur der Spekulanten.   – Sie beherrscht die Menschen seit Jahrtausenden. In jüngster Zeit allerdings ist ihre Herrschaft durch einen ersten gewaltigen Vorstoss der modernen Naturwissenschaft ins Wanken geraten   – gestürzt ist sie vorläufig noch nicht.

Als die Menschen in frühester Zeit der Naturentwicklung begannen, sich Gedanken zu machen und sich Vorstellungen zu bilden über die möglichen Zusammenhänge der verschiedenen Naturerscheinungen, so führten sie ihre Spekulationen nicht nur zu neuen Erkenntnissen, sondern oft auch zu mehr oder weniger verhängnisvollen Irrtümern. Brauchbare Wissenschaft und geheimnisvolle Magie erscheinen oft in buntem Gemisch. Die alten Babylonier sind nicht nur für ihre ausgedehnten und oft erstaunlich exakten Kenntnisse des Sternenhimmels bekannt, womit sie eine verblüffend genaue Zeitmessung und Zeitrechnung aufstellen konnten, sondern auch für ihre abergläubische Sterndeuterei, die ja bis heute noch in den Köpfen der Menschen herumspukt.

Vielleicht hätten viele der oft sehr zufällig entstandenen Irrtümer und unnützen Spekulationen rasch überwunden werden können, wenn sie manchen Menschen nicht plötzlich in einem anderen Sinne nützlich geworden wären. Magie und Sterndeuterei versprachen dem Menschen Lebenshilfen, an die er in seiner Hilflosigkeit gerne glaubte   – Zauberer und Sterndeuter aller Art wurden zu angesehenen Leuten mit einer besonderen gesellschaftlichen Stellung, die ihnen viel Nöte und Sorgen des Alltags, wie sie der Durchschnittsmensch jener Zeit zu ertragen hatte, ersparte. Schon in der frühgeschichtlichen Zeit des Vorderen Orients fand man die Kaste der Priester und Beamten streng geschieden vom übrigen Volk, den Handwerkern, Bauern usw. Eine Stelle aus einem ägyptischen Papyrus, der etwa aus dem Jahre 1100 v.u.Z. stammt, sagt mehr als viele Ausführungen. Da ermahnte zum Beispiel ein Vater seinen Sohn: »Präge deinem Herzen fest ein, dass du dich vor harter Arbeit jeder Form zu schützen hast, und werde ein angesehener Beamter. Der Schreiber ist von allen manuellen Arbeiten befreit   – er gibt nur Befehle. Ich habe Metallarbeiter an ihren Plätzen vor den Öffnungen ihrer Schmelzöfen gesehen. Sie hatten Finger wie Krokodile und stanken schlimmer als Fischlaich. Ich habe noch keinen Hufschmied in einer Kommission gesehen und noch keinen Giesser, der eine Gesandtschaft übernahm«.6

Damit soll nur angedeutet sein, wie das Aufkommen und die spätere Herrschaft der reinen Spekulation geschichtlich zu verstehen ist. Die Brauchbarkeit der Spekulationen werden nicht mehr im Vergleich ihrer Aussagen mit der sinnlichen Wahrnehmung in der Natur überprüft. Gewisse Spekulationen sind brauchbar, weil das »Wissen« um sie soziales Ansehen verleiht. Vor allem wurden, wie die Geschichte zeigt, spekulative Systeme entwickelt   – und wenn nötig mit Feuer und Schwert behauptet   –, welche die Herrschaft der Spekulanten über alle anderen Menschen rechtfertigten. In ihrem Geiste bemühte man sich, die Menschen zu erziehen   – das Resultat kennen wir. Ist die Entwicklung vieler Irrtümer vielleicht noch auf irgendwelche Zufälle zurückzuführen, so wurde ihre spätere Verbreitung und Weiterentwicklung oft nicht ohne Absicht gefördert.

Nur wer diese Zusammenhänge berücksichtigt, vermag den tieferen Hintergrund jener Geisteshaltung zu erahnen, die so darauf pochte, das Suchen des Menschen nach Erkenntnis in zwei grundsätzlich verschiedene Wissenschaftsmethoden zu unter teilen: in die Naturwissenschaften als das eine und die Geisteswissenschaften als das andere.

Zur individuellen Psychologie des Wissenschaftlers

So sehr uns die Wissenschaft als im kulturgeschichtlichen Prozess gewordener Gegenstand erscheint, ist dennoch jeder Zeitpunkt der Vergangenheit bis zum heutigen Tage in seinem jeweils gegenwärtigen Hier und Jetzt zu verstehen. Die Wissenschaft als Überlieferung hat kein Eigenleben, weder als schrittweise Offenbarung ewiger Wahrheit oder eines geschichtsbildenden Weltgeistes noch sonstwie als »objektiver Geist«7 in dem sich die Gesamtheit der geschichtlich aufgetretenen geistigen Äusserungen und Niederschläge alles kulturellen Lebens individualisieren würden. Zumindest helfen uns solche Spekulationen in unserem wissenschaftlichen Bemühen um lebensbezogene und nur darin wahre Welterkenntnis nicht weiter. Die Vergangenheit trägt keinen Eigenwert in sich. Solche Aussagen   – reden und schreiben kann man vieles   – bleiben sinnlose Sätze, leere Formeln. Warum man solche denn doch immer wieder aufstellt, lässt sich vielleicht von daher verstehen: Irgendwie muss doch das ewige Leben der menschlichen Seele zum Ausdruck gebracht werden. Dem naiven Glauben hat man ja abgeschworen. Manche Philosophen verneinen mit Nachdruck jede Metaphysik. Unser Verstand bleibt letztlich dennoch das Produkt unserer unbewussten Gefühle...

Mag sein, weil er allzu trivial erscheint, vernachlässigt man in diesem Zusammenhang zumeist einen weiteren Aspekt, der für die Psychologie der Wissenschaft von entscheidender Bedeutung ist: Wissenschaftler, Philosophen, Handwerksmeister usw. werden nicht einfach als solche geboren. Auch sie erblickten einst ohne ihre späteren Ideen, ohne ihr Wissen und Können das Licht der Welt, und ihr späterer Beruf stand ihnen nicht in den Sternen geschrieben. Der Mensch verfügt über keine angeborene Intelligenz oder Begabung   – alles muss er erst lernen: sein individuelles Fühlen und Denken, sein unbewusstes Weltbild und seinen Charakter, seine Fähigkeiten und seine Irrtümer. Das sind keine Spekulationen über die Natur des Menschen, sondern empirisch gesicherte und stets nachprüfbare psychologische Sachverhalte.

Durch psychologische Forschung und Praxis empirisch gesichert ist auch die Erkenntnis, dass alles Tun und Lassen des Menschen aus einer unbewussten Zielsetzung heraus erfolgt. Welche Ziele im individuellen Fall verfolgt werden und mit welchen Mitteln der betreffende Mensch sie zu erreichen versucht, hängt ab von seinem in frühester Kindheit erworbenen, unbewussten Weltbild und seinem in diesem Zusammenhang eingeübten Charakter. Allgemein lässt sich sagen, dass der unbewusste Antrieb, durch den diese Entwicklung eines persönlichen Weltbildes und Charakters erst angeregt wird, als ein Streben nach Behauptung und Entfaltung dieses je individuellen Lebens gekennzeichnet werden kann.

Dabei ist zu betonen, dass dieses Streben stets nur individuell in seinem Hier und Jetzt gesehen werden kann und beim Neugeborenen auch nicht von Anbeginn einfach da ist, sondern sich erst in der Wechselwirkung emotionaler Zuwendung aussenstehender Pflegepersonen zu entwickeln vermag. Nebst den biochemisch beschreibbaren Voraussetzungen bedarf das stets nur individuell erscheinende Leben also auch noch der gegenseitigen Hilfe im sozialen Bezug der Gefühlsübertragung und des Gefühlsaustausches. Da mehr hineinlegen zu wollen, etwa eine besondere »Lebenskraft«8 einen »élan vital«9 wie es die sogenannte Lebensphilosophie u.a. tut, führt bereits zu empirisch unbelegbaren, metaphysischen Spekulationen.

Kultur und Wissenschaft vollzieht sich nicht in einem abstrakten Raum geistiger Selbstverwirklichung, sondern in einem Wechselspiel individueller Lebensakte. Wissenschaft   – Kultur ganz allgemein   – ist nur insofern, als Individuen A und B und C als augenblicklich lebende Wesen Wissenschaft betreiben und zueinander in lebendiger kultureller Beziehung stehen. Menschliche Kultur bedeutet im Rahmen der allgemeinen Naturerscheinungen nichts besonderes. Man muss sie als Teilaspekt des jeweils zeitbedingten Naturzustandes sehen. Alle Kulturgeschichte und damit Menschheitsgeschichte gehört, ohne aussondernde Einschränkungen, in den grossen Rahmen der allgemeinen Naturgeschichte. Auch jedes wissenschaftliche Forschen, das Suchen des Menschen nach Erkenntnis, wie mehr oder weniger sinnvoll er das nun anstellen möge, erscheint stets als konkret fassbare, individuelle Lebensäusserung. Diese   – wie jede Lebensäusserung des Menschen   – ist nur als zielgerichtete Bewegung zu verstehen   – generell beschrieben als Bewegung zum Ziel der individuellen Lebensbewältigung.

Die Entstehung des Begriffs »Geisteswissenschaft«

Die vorangegangenen Anmerkungen zur Psychologie der Wissenschaft sollten auf die Voraussetzungen hinweisen, unter denen der Mensch Wissenschaft betreibt. Vielleicht können sie etwas beitragen zur kritischen Beurteilung der folgenden knapp umrissenen Entstehungsgeschichte des in einem Gegensatz zu den »Naturwissenschaften« gemeinten Begriffs der »Geisteswissenschaft« und der Trennung der Wissenschaften in zwei grundsätzlich verschiedene Erkenntniswege.

Die naturwissenschaftliche Revolution

Das Fundament des mittelalterlichen »Wissenschaftsbetriebes« bildeten die Dogmen der katholischen Kirche. Man zitierte Aristoteles und die Lehrmeinungen der heiligen Kirchenväter. Die mittelalterliche Kirchturmkultur, beherrscht vom »Zeigefinger Gottes», verwies das geistige Streben des Menschen nach oben, ins Jenseits, weg von den Erscheinungen des vergänglichen irdischen Alltags. Zwar gab es schon im 13. Jahrhundert   – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Araber   – Gelehrte, die das empirische Prinzip zum Massstab der Naturerkenntnis erklärten. Einer der frühesten Väter solcher wirklichkeitsbezogener Forscherhaltung war der Engländer Roger Bacon (1214-94), ein gelehrter Franziskaner, »Doctor mirabilis« an der Oxforder Universität. Er wandte sich gegen die Autoritätsgläubigkeit der Gelehrten, die   – gefangen durch die Macht der Gewohnheit   – ihre Unwissenheit hinter wortreichen Argumenten versteckten. Wer wirkliche Erkenntnis gewinnen wolle, schrieb er, müsse »Naturwissenschaft, Heilmittel, Alchemie und alle Dinge im Himmel und darunter durch das Experiment prüfen und sollte beschämt sein, wenn irgendein Laie, eine alte Frau, ein Bauer oder ein Soldat etwas über die Erde wüssten, was ihm unbekannt wäre«.10 Leider wurden solche kritischen Ansätze von der Kirche, welche um ihre Herrschaft bangte, immer wieder mit allen Mitteln unterdrückt. Sie ging auch gegen Roger Bacon vor, verbannte ihn nach Paris und liess ihn ständig durch seine Ordensoberen überwachen. »Der Baum der Wissenschaft betrügt viele um den Baum des Lebens oder setzt sie den heftigsten Qualen im Fegefeuer aus«, warnte der damalige General des Franziskanerordens. Denn wohin sollte das führen, wenn die Menschen plötzlich nur noch ihren Sinnen und nicht mehr den Lehren der Kirche vertrauten! Die empirische Methode konnte also damals kaum verbreitet werden. Sie wurde bestenfalls von einigen Alchimisten weitergepflegt, obwohl da noch ebensoviel Aberglaube herrschte. Doch 1317 verbot Papst Johannes XXII., in einer Bulle die Beschäftigung mit der Alchemie. Solche Angst hatte die Kirche.

Erst das 16/17. Jahrhundert   – dank veränderter politischer Machtkonstellation, der beginnenden tiefen Krise im bisherigen kirchlichen Herrschaftsbereich   – brachte neue Forschungsmethoden zum Tragen. Erfolgreiche Ketzereien von weltgeschichtlicher Tragweite vermochte schliesslich die naturwissenschaftliche Revolution einzuleiten, mit der Namen verknüpft sind wie Leonardo da Vinci (1452-1519)   – »Mir scheint, es sei all das Wissen eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Sinneserfahrung, der Mutter aller Gewissheit, zur Welt gebracht wird«11   – Nikolaus Kopernikus (1473-1543), Ludovico Vives (1492-1540), der Materialist Bernardino Telesio (1508-1588)   – »Zweck des Lebens ist die Selbsterhaltung«   –, Francis Bacon (1561-1626), Galileo Galilei (1564-1642), Isaac Newton (1642-1727) und viele weitere bahnbrechende Forscher, die genannt werden müssten.

Der bisher verachtete irdische Alltag gewann im Bewusstsein der Menschen wieder mehr und mehr an Gewicht. Die hochentwickelten Arbeitsmethoden des »niederen Handwerks« wurden zum Schlüssel zu dieser neuen Entwicklung. So entstand aus vielen, teils sehr alten, aber immer wieder unterdrückten Vorläufern und Ansätzen endlich die moderne, naturwissenschaftliche Erkenntnismethode. Die Grundlage, auf der diese neue Art und Weise, nach neuen Erkenntnissen zu suchen, aufbaut, ist der erkenntnispsychologische Standpunkt   – der sogenannte Sensualismus oder Empirismus   –, demzufolge allein die Sinneswahrnehmung als Erkenntnisquelle und Massstab für »wahr« oder »falsch« gelten darf. Ein »angeborenes Wissen« gibt es nicht.

Die Kriterien der Naturwissenschaft

Diese erkenntnispsychologische Feststellung allein rechtfertigt das allen naturwissenschaftlichen Disziplinen gemeinsame Arbeitsprinzip: die induktive Methode. Sie fordert, kurz zusammengefasst, etwa folgendes:

1. Jedes Suchen nach Erkenntnis beginnt prinzipiell mit der sinnlichen Beobachtung. Sie liefert die Grundlage für eine erste Erfahrung. Auch komplizierte Sachverhalte und Gegenstände gilt es zu nächst sorgfältig zu untersuchen und zu analysieren, d.h. die betreffende Erscheinung in ihre elementaren Tatsachen zu zerlegen, indem man die einzelnen Merkmale, aus denen sich dieser Sachverhalt oder Gegenstand zusammensetzt, und gewisse leichter ersichtliche Zusammenhänge aufzeigt.

2. Die so gewonnenen ersten Erfahrungen geben eine bessere Grundlage zu weiteren, bereits gezielteren Beobachtungen: Man tritt schon mit gewissen Vermutungen, allerdings sehr vorsichtig, an den Untersuchungsgegenstand heran und sucht nach weiteren, eventuell grösseren Zusammenhängen. In manchen Bereichen der Naturforschung erleichtert für derartige Untersuchungen das Experiment die genaue Beobachtung. Das Wesen des Experiments besteht darin, dass der Forscher einen sonst selbständig in der Natur verlaufenden Prozess gewissermassen in eigener Regie und unter mehr oder weniger genau bekannten Ausgangsbedingungen veranlasst. So könnten die jeweiligen Ausgangsbedingungen planmässig variiert, eine komplizierte Situation allenfalls vereinfacht und das Experiment beliebig oft wiederholt werden. Jedes Experiment ist eine Frage an die Natur; das dabei beobachtete Ergebnis ist ihre Antwort. Durch vielfache Wiederholung solcher Experimente lassen sich Aussagen über vermutete Zusammenhänge auf ihre Stichhaltigkeit hin prüfen.

3. Stellt man nun experimentell fest, dass eine Erscheinung stets in gleicher Weise abläuft oder dass gewisse Tatbestände immer gekoppelt auftreten, so spricht man diesen Zusammenhang als Naturgesetz aus. Das heisst, man trifft die Annahme, dass dieser Zusammenhang auch über die bereits gemachte Erfahrung hinaus ausnahmslos gültig sei. Als Naturgesetze bezeichnet man Zusammenhänge, die zwischen verschiedenen Sachverhalten bestehen   – seien diese Sachverhalte nun physikalischer, chemischer, biologischer oder psychologischer Natur.

4. Solange noch nicht genügend Beobachtungen vorliegen, welche das postulierte Naturgesetz bestätigen, bleibt es eine vorläufige Vermutung, eine Hypothese. Hypothesen dienen vorerst dazu, weitere Experimente und Beobachtungen auf ganz bestimmte Aspekte eines Problems zu konzentrieren. Wenn sich durch eine solche Klärung des betreffenden Sachverhalts die anfängliche Vermutung in jeder Hinsicht bestätigt, wird die Hypothese als empirisch gefundenes und bestätigtes Naturgesetz bezeichnet. Es ist nun Bestandteil einer bestimmten wissenschaftlichen Theorie.

5. Um die neu gewonnenen Erkenntnisse nicht nur in einem, sondern in vielen Fällen nutzbringend anwenden zu können, reiht man die naturgesetzlichen Einzelerfahrungen in einen geordneten Zusammenhang ein, indem man aus diesen als gültig befundenen Sätzen durch logisches Überdenken weitere Folgerungen ableitet. Ein solcher geordneter Zusammenhang von empirisch gefundenen Grundgesetzen und ihrer Folgerungen ergibt dann eine bestimmte wissenschaftliche Theorie.

6. Dieses wissenschaftliche Vorgehen, durch das eine Theorie stets aus Grundgesetzen abgeleitet wird, die der sinnlichen Erfahrung durch Experiment und Beobachtung entstammen, nennt man induktive Methode. Selbstverständlich gehört zur induktiven Methode auch eine sorgfältige empirische Überprüfung aller in der Theorie abgeleiteten Folgerungen. Eine wissenschaftliche Theorie und auch die Naturgesetze, auf denen sie aufbaut, dürfen also nie in einen wirklichkeitsfremden Himmel zeitloser »absoluter Wahrheit« erhoben werden. Bestehende Theorien müssen stets der Kritik durch neue Erfahrungen offen sein, Erfahrungen, die sie allenfalls in Frage stellen oder gar widerlegen können. Diese kritische Offenheit und Relativität aller so gewonnenen Erkenntnis besagt aber keineswegs, dass der zeitgebundene Mensch letztlich unfähig sei, wirklich etwas über die Natur zu wissen, sondern gerade das Gegenteil: wirkliche Erkenntnis ist immer relativ. Der Begriff der »letzten, absoluten Wahrheit« ist eine leere Konstruktion, bestenfalls zur Irreführung des unkritisch gehaltenen Menschen brauchbar.

7. Die induktive Methode ist das eigentliche Hauptmerkmal der Naturwissenschaft. Sie kennzeichnet die Arbeitsweise aller naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie verschieden diese auch sonst vorgehen mögen. Wer sich auf der Suche nach Erkenntnis ihrer bedient und ihren strengen Anforderungen gerecht wird, kann den Anspruch erheben, seine Arbeit als Naturwissenschaft zu kennzeichnen. Ein Attribut allerdings, nit dem zu Recht die Vorstellung vom alleinigen Weg zu wirklichem Wissen verbunden ist.

Hilfe, das Chaos bricht aus...

Was den Naturwissenschaften, abgesehen von den veränderten politischen Machtverhältnissen, schliesslich zum Durchbruch verhalf, war ihr immer weniger zu leugnender, greifbarer Erfolg in der technischen Anwendung. Ein spürbar neues Kapitel in der Geschichte menschlicher Versuche zur Lebensbewältigung hatte begonnen. Das Selbstbewusstsein des Menschen, das Gefühl seinen Lebensnöten nicht blass hilflos ausgeliefert zu sein, sondern sein Leben selber in die Hand nehmen zu können, bekam einen gewaltigen Auftrieb. So erfreulich dieser Umstand für den geplagten Menschen sein musste, so gefährlich erschien das den wenigen, die zufälligerweise von der bisher herrschenden Lebensordnung und dem darniederliegenden Selbstbewusstsein der Menschen profitierten und dementsprechend auch alles daran setzten, die bestehenden Zustände aufrechtzuerhalten   – oder zunächst zu retten, was noch zu retten war.

Die traditionelle Organisation des zwischenmenschlichen Lernens war aber getragen vom bisher herrschenden Weltbild. Das gesellschaftliche Oben und Unten rechtfertigte sich aus der hierarchischen Ordnung des Kosmos. Das damit verbundene Elend und die unzähligen Lebensnöte der meisten Menschen galt als unabwendbares Schicksal des von Natur ohnmächtigen Menschen oder gar als Strafe Gottes für den Ungehorsam der Untertanen. Auf dieser umfassenden Sinngebung, solange sie vom Volk geglaubt eurde, beruhte die herrschende Gesellschaftsordnung.

Der Einbruch des empirisch-kritischen Denkens in diese versklavte heile Welt und der überraschende Erfolg der naturwissenschaftlichen Forschung erschütterte die Grundfesten alles bisher Geglaubten und nahm   – wie man befürchtete   – der bestehenden Lebensordnung jeden tieferen Sinn, aus dem heraus sie hätte als notwendig gerechtfertigt werden können. Für die konservativen Philosophen und Gelehrten brach eine Welt zusammen. Der alte Glaube beinhaltete noch Werte, an die man sich halten konnte. Die höheren geistigen Offenbarungen der Metaphysik bildeten das feste Fundament der traditionellen Philosophie. Die Erschütterung dieses Unterbaus brachte das ganze spekulative Gebäude zum Einsturz.

Die Herrschenden waren beunruhigt, ihre Hofgelehrten konsterniert. »Der ausschliessliche Verlass auf empirische Fakten würde«   – so meinte man   – »eine von Grund her sinnlose Welt bedeuten«12. Da man, bewusst oder unbewusst, die Werte des Lebens als absolute Werte immer noch im platonischen Ideenhimmel wähnte, jetzt aber einsehen musste, dass himmelwärts gerichtete, metaphysische Spekulationen eben nichts als haltlose Spekulationen waren, geriet man in Panik. Der moderne Mensch sah sich jählings dem Zusammenbruch des Systems der absoluten Werte durch das Chaos der Überzeugungen gegenüber13. Da konnte ja jeder behaupten, was er wollte. Da liess sich ja alles Bestehende in Frage stellen. Wohin soll das führen? Woher soll der Mensch seine Werte nehmen, seinen Halt? Wer führt ihn jetzt? Jahrtausende war der Mensch unmündig gehalten   – jetzt, da ihm Gelegenheit winkt, sich endlich zu befreien, prophezeien ihm seine weisen Führer das totale Chaos. Auch das Verbreiten von Irrtümern hat Methode...

Geisteswissenschaft - das Trojanische Pferd der spekulativen Reaktion

Vom geozentrischen Weltbild bis zum Mythos von der Erschaffung des Menschen fiel eine Festung der Spekulation nach der anderen unter den Hammerschlägen immer neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Auf dem Feld der Astronomie, Physik, Chemie usw. triumphierte der naturwissenschafliche Forschergeist. Und schon rüstete er auch zum Angriff auf die übrigen Gebiete möglicher Welterkenntnis   – bis hinein in die Hochburg der metaphysischen Spekulation: die spiritualistische und idealistische Philosophie. Die Entwicklung des naturalistischen und materialistischen Weltbildes bedeutete eine Ungeheuerlichkeit, der gegenüber man niemals bereit war, einfach zu kapitulieren   – zu vieles, weit über die Bedeutung der reinen Philosophie hinaus, stand auf dem Spiel.

Alle verfügbaren Kräfte wurden für diesen erbitterten Kampf mobilisiert, von der primitiven Kanzelpolemik gegen neue wissenschaftliche Erkenntnisse (z.B. die Abstammungslehre) über Verbote und Repressionen bis zur ausgeklügeltsten, philosophisch erkenntnistheoretischen Argumentation. In diesem reaktionären Zusammenhang hat sich die Trennung des wissenschaftlichen Suchens nach Erkenntnis in Natur- und Geisteswissenschaften ergeben. Wo die Geisteswissenschaften im primitiven Kleid altertümlicher Metaphysik und Theologie auftraten, vermochten sie dem Ansturm der Naturwissenschaften in gelehrteren Kreisen kaum Widerpart zu leisten. Ihre Unwissenschaftlichkeit und Fruchtlosigkeit im Bemühen, brauchbare Erkenntnis zu gewinnen, war leicht aufzuzeigen.

Wo die Geisteswissenscha,ften aber in Form raffiniert ausgeklügelter erkenntnistheoretischer Ausführungen scheinbar ebenso losgelöst von aller Metaphysik wie die Naturwissenschaft zu begründen versucht wurden, wie etwa bei Wilhelm Dilthey, da hat man den erkenntnishungrigen Menschen ein veritables trojanisches Pferd der spekulativen Reaktion in die beinahe materialistisch entweihten Hallen ihres Wissenschaftsbetriebs gestellt. Viele auf ihrem Spezialgebiet naturwissenschaftlich vorgehende Gelehrte sind ihm zum Opfer gefallen, sobald sie ihr Teilwissen in einen grösseren Rahmen zu stellen versuchten. Dieser Sachverhalt und nicht etwa eine angeblich darum einseitige, weil bloss naturwissenschaftliche Bildung ist die tiefere Ursache des heute manchenorts beklagten Fachidiotentums.

Der Begriff »Geisteswissenschaften« scheint eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts zu sein. Möglicherweise wurde er zum erstenmal von einem Übersetzer von J.S. Mill's Buch »On the Logic of Moral Sciences« verwendet; er übersetzte »Moral Sciences« mit dem Wort »Geisteswissenschaften«14. Von ausschlaggebender Bedeutung für die allgemeine Verbreitung des Begriffs »Geisteswissenschaften« unter den Gelehrten war eine akademische Festrede des Naturwissenschaftlers (!) Hermann von Helmholtz, die er 1862 in Heidelberg hielt, zum Thema »Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft«. Helmholtz leistete als einstmaliger Militärarzt und vor allem ,,später als Physiologe und Physiker etliche wertvolle Beiträge zur medizinischen und physikalischen Forschung.

Seine berühmt gewordene Rede widerspiegelt einen für die Kampfsituation der naturwissenschaftlichen Forscherhaltung gegenüber dem spekulativen Denken typischen Zwiespalt. So vertritt er zwar   – mit dem Ernst des erfahrenen und um die täglichen, konkreten Nöte des Menschen besorgten Forschers   – die empirische Arbeitsmethode, die sich allein an festzustellende und jederzeit nachprüfbare Tatsachen hält; kaum überschreitet er in seinen Ausführungen aber seinen eigenen Forschungsbereich, zeigt er sich als Kind des Mittelalters   – der Theologie, Jurisprudenz und spekulativen Philosophie bei allen Vorbehalten seine bescheidene Reverenz erweisend. Mit prägnanten Worten würdigt er die Bedeutung der Philosophie Hegels für Entwicklung und Begriff der Geisteswissenschaften: Die idealistische Philosophie »war kühner. Sie ging von der Hypothese aus, dass auch die wirkliche Welt, die Natur und das Menschenleben das Resultat des Denkens eines schöpferischen Geistes sei, welcher Geist seinem Wesen nach als dem menschlichen gleichartig betrachtet wurde. Sonach schien der menschliche Geist es unternehmen zu können, auch ohne durch äussere Erfahrungen dabei geleitet zu sein, die Gedanken des Schöpfers nachzudenken und durch eigene innere Tätigkeit dieselben wieder zufinden. In diesem Sinne ging nun die (idealistische) Philosophie darauf aus, die wesentlichen Resultate der übrigen Wissenschaften a priori zu konstruieren. Es mochte dieses Geschäft mehr oder weniger gut gelingen in bezug auf Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst, Geschichte, kurz in allen den Wissenschaften, deren Gegenstand daher unter dem Namen Geisteswissenschaften passend zusammengefasst werden. Staat, Kirche, Kunst, Sprache sind dazu da, um gewisse geistige Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen«15.

Von da an beschäftigten sich verschiedene philosophische Schulen mit dem Problem der »Geisteswissenschaften«, die gelegentlich »historische Wissenschaften« oder »Kulturwissenschaften« genannt wurden, was aber an der hintergründigen Absicht solcher Wissenschaftseinteilung nicht viel ändert. So zog zum Beispiel der Philosoph Heinrich Rickert (1863-1936), ein Vertreter der von Wilhelm Windelband (1848-1915) begründeten »Heidelberger Schule« des Neukantianismus, mit scharfen Worten in den Kampf gegen »die Anmassung der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung«16. Sogar den Begriff »Geisteswissenschaften« wollte er durch »Kulturwissenschaften« ersetzt wissen, weil »Geist« ihn zu sehr an die Psychologie erinnerte, die er zu seiner Zeit ganz den Naturwissenschaften zurechnete und daher in keiner »Kulturwissenschaft« angewandt wissen wo1lte17.

Eine andere Richtung des Neukantianismus, die von Hermann Cohen (1842-1918) begründete idealistische »Marburger Schule«, der u.a. auch Ernst Cassirer (1874-1945) und Paul Natorp (1854-1924) angehören, versucht die Geisteswissenschaften auf einer Grundlage der Ethik des reinen Willens zu begründen. Hier, aber auch in allen anderen idealistischen Schulen, sehen wir bereits den ersten, vielleicht gefährlichsten Krieger dem Trojanischen Pferd der Geisteswissenschaften entsteigen: den freien Willen.

Am Anfang stand die Trennung der Welt in Geist und Materie. Die Spekulationen der Idealisten erklärten darauf die ganze Welt als eine Ausgeburt des reinen Geistes, und endlich: »unangerührt noch von Untersuchungen über den Ursprung des Geistigen findet der Mensch in diesem Selbstbewusstsein eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, alles dem Gedanken zu unterwerfen und allem innerhalb der Burgfreiheit seiner Person zu widerstehen, durch welche er sich von der ganzen Natur absondert«18.

So steht hinter dieser Wissenschaftseinteilung, wohl als zentralstes Argument, die von der empirischen psychologischen Forschung längst widerlegte Behauptung, der Mensch verfüge über einen freien Willen und unterscheide sich dadurch prinzipiell von der übrigen Natur. Geisteswissenschaft wäre dann die Wissenschaft von allen Äusserungen des freien Willens des Menschen. Der behauptete, unvereinbare Gegensatz zwischen den Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften wird untermauert mittels den   – dank der Konstruktion des »freien Willens« gefundenen Gegensätzen zwischen Physik und Ethik, Wirklichkeit und Wert, kurzum zwischen Natur und Freiheit. Gezwungenermassen gesteht man zwar zu, dass alle Naturvorgänge voneinander abhängig sind und alles, was dort geschieht, seine notwendigen Voraussetzungen und Zusammenhänge hat   – der Mensch aber, so wird phantasiert, hebe sich durch seinen freien Willen weit über die Niederungen alles determinierten Geschehens heraus und setze in freiem Schöpfertum willkürlich neue Werte, entscheide in freier Verantwortlichkeit im ethischen Bereich über sein moralisches Verhalten...

Zwar wird der Terminus »Geisteswissenschaften« nicht von allen Autoren im gleichen Sinn verwendet. Ein Trojanisches Pferd soll ja in seinem Wesen unerkannt bleiben. Aber hier geht es darum, auf den wesentlichen geschichtlichen Sinn dieser Wissenschafteinteilung zurückzukommen   – selbst wenn diese Klassifizierung von anderen Wissenschaftlern historisch mehr oder weniger unreflektiert in jeweils leicht modifizierter Weise übernommen wurde. Alle stehen, ob bewusst oder unbewusst, im Bann der grossen Auseinandersetzung um die eine Grundfrage: Was ist die letzte Instanz, die über Wahrheit oder Unwahrheit entscheidet? Der Naturalist vertraut in letzter Instanz nur der sinnlichen Erfahrung. Erkenntnis sucht er durch Anwendung der induktiven Methode. Daraus entwickelten sich die Naturwissenschaften. Deren Erfolg bestätigten ihm eine ursprüngliche Voraussetzung, nämlich, dass alle Naturerscheinungen, alles Sein bedingt ist, dass es keine voraussetzungslose und zusammenhanglose Sachverhalte gibt   – auch keinen »freien Willen« des Menschen. Der Idealist sucht seine Instanz ausserhalb der Sinneswelt im reinen Geist: »Der Idealismus ist die Religion des Unbedingten«19. Das Unbedingte, Voraussetzungslose ist absolut gedacht, jeder Zeitlichkeit enthoben. Dieser reine Geist wird, in den Einzelmenschen verlegt, zum »freien Willen«.

Naturalismus und Idealismus sind zwei grundsätzlich entgegengesetzte, unversöhnliche Standpunkte. Im Kampf gegen die Unverschämtheit der Naturwissenschaften haben die deutschen Geisteswissenschaften ihren Namen von der Hegelschen Philosophie des Geistes geerbt. Es geht um den Kampf der philosophischen Instanz als geistige Herrin über alle Forschungsgebiete, die sie den Geisteswissenschaften zuordnet·. Was gilt, der Massstab der empirischen Naturerfahrung oder die Philosophie, die philosophische, spekulative Kritik? Ein Streit um Königsrechte!   – Im Hintergrund als graue Eminenz: das religiöse Prinzip. Aber es geht um mehr: Wenn über dem »Reich der Natur«, das durch Kausalgesetze geordnet ist, nicht noch ein »Reich der Freiheit«, durch das Sittengesetz geordnet, bestünde, wodurch wäre dann z.B. die bestehende Strafrechtsmoral zu rechtfertigen?

Die geisteswissenschaftliche Dilthey-Schule

Obschon sich, wie aufgezeigt, verschiedene philosophische Schulen die Frage »Natur- und Geisteswissenschaft« zu einem Anliegen machten, wird von zeitgenössischen Autoren immer wieder Dilthey zitiert. Ihm schreiben manche die moderne erkenntnistheoretische Begründung der Geisteswissenschaften zu. Er gilt vielen als der fortschrittlichste Verfechter dieser Wissenschaftseinteilung, die er, in Abwendung von jeder metaphysischen Spekulation, rein empirisch zu begründen vorgibt   – und das auch glaubhaft zu machen versucht in langen geschichtlichen Ausführungen über die Herrschaft, den Verfall und die heutige Unmöglichkeit der Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften20. Vieles, was Dilthey schreibt, klingt nach moderner Psychologie, wie wir sie von der »Zürcher Schule« her zu kennen vermeinen. Man ist oft versucht ihm beizustimmen, zu unterstreichen, was er vorbringt   – aber leider ist das anders gemeint, stehen hinter den beinahe gleichen Wendungen zwei unversöhnliche Welten. Das macht Dilthey gefährlich. Sein Trojanisches Pferd wird allzuleicht mit einem echten Pferd verwechselt.

Wilhelm Dilthey (1833-1911, Professor in Basel, Kiel, Breslau und Berlin) schrieb sein über zehnbändiges Werk in der Absicht, »denen, welche sich mit der Geschichte, der Politik, Jurisprudenz oder politischen Ökonomie, der Theologie, Literatur oder Kunst beschäftigen«21, den übergreifenden Zusammenhang all dieser Einzelwissenschaften vor Augen zu führen und ihnen aufzuzeigen, dass diese »Geisteswissenschaften ein selbständiges Ganzes neben den Naturwissenschaften«22 seien. Dabei geht er sehr vorsichtig zu Werke. Er versucht nicht, wie gewisse andere Philosophen, längst verlorene Stellungen dem Schein nach wieder zu halten. Die Trennung von Körper und Seele weist er von sich, ja selbst den Begriff »Geisteswissenschaften« hält er für unvollkommen. Denn er sieht »die Tatsachen des geistigen Lebens nicht von der psycho-physischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt«23. Auch er geht aus vom erkenntnistheoretischen Standpunkt: »Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft...«24. »In einem weiten Umfang fassen die Geisteswissenschaften Naturtatsachen in sich, haben Naturerkenntnis zur Grundlage«25. Selbst die Phantasie vom »freien Willen« vermeint man bei ihm in Frage gestellt: »Und so sind wir selbst da, wo wir wollen..., von dem Naturzusammenhang abhängig«26.   – Das Pferd, das uns Dilthey anbietet, scheint wahrhaftig echt zu sein.

Aber warum und worin sieht er denn »die Verfahrensweisen der Geisteswissenschaften... (so) sehr verschieden von denen der Naturwissenschaften«27? Sie unterscheiden sich, philosophiert Dilthey, durch zwei ganz unterschiedliche Erfahrungsweisen. Alle Erkenntnis von der Natur, der physikalischen Welt, ist nur »relativ«, indirekt. Die Natur steht uns als etwas Fremdes gegenüber. Wir beobachten die Natur rational, unter »Zurückführung aller dieser Bewusstseinserscheinungen auf atomartig vorgestellte Elemente«28. Von da aus erklären wir die Zusammenhänge dieser Elemente durch vermutete Gesetzmässigkeiten (Hypothesen), welche dann durch die Erfahrung auf ihre Stichhaltigkeit hin geprüft (verifiziert) werden.

Ganz im Gegensatz dazu ist für Dilthey die geisteswissenschaftliche Erkenntnis unmittelbare, allein wirkliche Erkenntnis. Die Geisteswissenschaften stützen sich nicht auf etwas Fremdes, ausserhalb von uns selber, sondern nach ihm ist »das Wissen von Geistigem direkt oder indirekt überall auf innere Erfahrung gegründet«29. »Im Gegensatz zur äusseren Wahrnehmung beruht die innere Wahrnehmung auf einem Innewerden, einem Erleben, sie ist unmittelbar gegeben«30. Die geistige Welt baue sich nicht aus einfachen Elementen auf, aus denen man das Ganze zusammensetzen könnte. Jedes kleinste Erlebnis sei schon ein gegliedertes Ganzes, das wir unmittelbar verstehen, in seinem Sinn erfassen könnten.

Kurz gesagt: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«31. Während wir die Natur verstandesmässig zu erklären suchen, entzieht sich das Seelenleben der rein verstandesmässigen Analyse. Das logische Denken ist nur ein Teilaspekt des Lebens. Das geisteswissenschaftliche Verstehen aber ist umfassender, tiefer. »Leben erfasst hier Leben32.« Durch das Erleben des eigenen Lebens kommen wir zum Verstehen des fremden Lebens. Allerdings möchte Dilthey seinen Erlebnisbegriff nicht in subjektivistischer Verengung verstanden wissen »Wir bewegen uns nicht in der Sphäre der Empfindungen, sondern der Gegenstände, nicht der Gefühle, sondern Wert, Bedeutung usw.«33. Im Erleben ist »Realität für mich da«, verschmelzen Subjekt und Objekt zu einer Einheit. Erst durch unser Denken vergegenständlichen wir das Erlebnis34 und zerstören es damit eigentlich. »Unser Bild der ganzen Natur ist blosser Schatten   – dagegen Realität, wie sie ist, besitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewusstseins«35. Darum stehen die Geisteswissenschaften in ihrem Erkenntniswert über den Naturwissenschaften.

Dilthey möchte deshalb die Geisteswissenschaft auf einer »zergliedernden und beschreibenden Psychologie« aufbauen, die über der naturwissenschaftlich vorgehenden »erklärenden Psychologie« stünde, weil die naturwissenschaftliche Psychologie nur einen Teilinhalt aus dem Erlebnis des Menschen heraushebt, während die geisteswissenschaftliche Psychologie darauf abzielt, die in der inneren Erfahrung als Ganzes gegebene Realität des Erlebnisses zu verstehen36. Manches, was er dazu ausführt, klingt verlockend. Wissen wir nicht auch in unserer modernen Psychologie um die Grenzen des logischen Denkens in der psychologischen Arbeit (vgl. Abschnitt 2)? Aber Dilthey meint das anders. Sein Menschenbild steht ganz im Gegensatz zu dem unserer modernen naturwissenschaftlich orientierten Tiefenpsychologie. Warum, das versteht man wohl besser, wenn man das geistige Herkommen Diltheys untersucht.

Dilthey muss in der geistesgeschichtlichen Tradition der sogenannten Lebensphilosophie gesehen werden. Diese wurzelt bereits in der Generation des Sturm und Drang gegen Ende des 18. Jahrhunderts und vor allein in der späteren Romantik. Im gesellschaftlichen Klima der politischen feudalen Reaktion gegen die Französische Revolution gediehen auch starke irrationale Strömungen als Reaktion auf die vernunftbetonte Aufklärung. Seit der Französischen Revolution durchzieht die europäische Geschichte ein bald unterschweliger, bald offener Kampf zwischen den feudalen und später grossbürgerlichen Machthabern gegen verschiedene revolutionäre Elemente. Dazu in Wechselwirkung steht innerhalb der Geistesgeschichte die Auseinandersetzung verschiedenster irrationaler Strömungen mit den Erben der Aufklärung. So ist auch der Rückgriff der Geisteswissenschaften auf das Irrationale als strategische Offensive gegen den siegesbewussten Vorstoss der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert mit all seinen politischen Konsequenzen zu verstehen.

Wenn die Romantiker   – und später auch Dilthey u.a.   – die aufklärerische Vernunft in Frage stellten, so meinten sie damit etwas wesentlich anderes, als wenn wir heute über die modernen psychologischen Erkenntnisse in der Frage »Gefühl und Verstand« sprechen. Der geistige und gesellschaftspolitische Grundzug und Gehalt der Aufklärung bestand nicht bloss in einer einseitigen, intellektualisierenden »Vernünftelei«, wie ihn die Reaktionäre gerne darstellten, sondern im neu erwachten Selbstbewusstsein der Menschen, dass die Welt kein übersinnliches Geheimnis sei, das sich in vielen Dingen unserem Wissensdurst verschliesse, im erstarkenden Lebensmut, sein Schicksal in die eigene Hand nehmen zu wollen und dazu durchaus alle Zusammenhänge der Welt und des Lebens durch schauen zu können. Dagegen - und nicht bloss gegen die Überbetonung des Intellektuellen   – liefen die Romantiker Sturm. In dieser reaktionären Tradition stehen auch die Geisteswissenschaften.

Dilthey war Pantheist37. Für ihn gab es noch das Geheimnisvolle, Unerklärliche, von dem er zum Beispiel an einer Stelle schreibt: »Dieser Knäuel von quälenden, von entzückenden Fragen, von intellektueller Lust und von Schmerzen der Insuffizienz, der Widersprüche: das ist das Rätsel des Lebens: der einzige, dunkle, erschreckende Gegenstand aller Philosophie... das Antlitz dieses Lebens selber... diese Sphinx mit dem animalischen Leib und dem Menschenantlitz«38. Dilthey knüpfte auch an die sogenannte Historische Schule an, vorab deren Tendenz, keine festen menschlichen Normen anzuerkennen, sondern jedes geschichtliche Ereignis in seinem individuellen Eigenwert zu bestaunen. Für die Historische Schule, wie sie etwa L. v. Ranke (1795-1886) vertrat, war Gott allein das einigende Band dieser individuell zu verstehenden geschichtlichen Ereignisse, und man glaubte, dass im Falle der Erschütterung des christlichen Glaubens die Geschichte ihren Sinn verlieren und dem Menschen das Chaos der Werte bescheren werde39. Für den Pantheisten Dilthey ist dieser Gott einfach der im Grenzenlosen zerfliessende Untergrund des Lebens. Dieses Leben wird letztlich eben doch als ein überindividuelles, mystisches Prinzip verstanden, das sich in der Geschichte der Menschheit und jedes Individuums als vorgegebene Anlage entfaltet, in einer »Explikation, die zugleich Schaffen ist«40.

»Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte«41. Die Entschlüsselung dieses Satzes lässt uns einen neuen Krieger dem Trojanischen Pferd der Geisteswissenschaften entsteigen sehen: Die mystische Spekulation, dass es gar kein festes »Wesen des Menschen« gebe, dass das Wesen des Menschen nicht erklärbar sei, weil es unabhängig vom geschichtlichen Wandel gar nicht existiere. Wieder erscheint hier das Geistwesen Mensch vom biologisch existenten Menschen völlig getrennt. »Der Typus Mensch zerschmilzt in dem Prozess der Geschichte«42, phantasiert Dilthey. Ein zeitgenössischer Vertreter der Dilthey-Schule, der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883-1955), formuliert das nochmals mit Nachdruck: »... dass es falsch ist, von der Natur zu sprechen   –, dass der Mensch keine Natur hat«46. Darum sei der Mensch und die von ihm geschaffene Welt nicht erklärbar durch die induktive Methode der Naturwissenschaft, sondern nur als ganzheitliche, einmalige Erscheinung zu verstehen. Anstelle brauchbarer Erkenntnis, die dem Menschen erlaubt, die Zusammenhänge der Welt zu enträtseln und sie so zu verändern, tritt bald einmal wieder das fassungslose Staunen vor dem unergründlichen Schalten und Walten eines Schicksals, das selber zu lenken der Mensch doch zu unvollkommen, zu schwach ist. Geisteswissenschaftliche Erkenntnis versteht sich immer abhängig von einer subjektiven Wert- und Zielvorstellung: Man glaubt, alle psychologische oder gesellschaftliche Erkenntnis sei letztlich allein von der Absicht des Forschers abhängig. Damit sind der willkürlichen Spekulation bereits wieder Tür und Tor geöffnet. Wie gefährlich solche Spekulation sein kann, zeigt sich dort, wo der »freie Wille« wieder ins Spiel gebracht wird. Dilthey meinte zum Beispiel, »dass das Ganze geistiger Zustände und Vorgänge... durch das Bewusstsein der Souveränität des Willens (!) von dem ganzen Reiche der Natur unterschieden und vor ihm ausgezeichnet ist«43. »Alle äusseren körperlichen Handlungen dieser psycho-physischen Wesen sind uns Ausdruck von Willensvorgängen in denselben. Willenseinheit, Kampf der Willen, Verwandtschaft und Solidarität derselben, Herrschaft, Abhängigkeit, Verband: alles Willenstatsachen. Auf ihnen beruht die Geschichte«44. Dilthey spricht in diesem Zusammenhang nicht nur vom individuellen Willen   – alle Gesellschaft hat ihren Lebenszweck und damit einen kulturellen Willen; und der »letzte Regulator dieser vernünftigen Zwecktätigkeit in der Gesellschaft ist der Staat«45. »Dilthey stimmt mit Kant und Hegel darin überein, dass der Staat letztlich Gewalt und Zwang, sogar brutale Härte erfordert, da nur die Existenz des Staates Kultur ermöglicht«46.

Durch die Dilthey-Schule wurde die sogenannte »Verstehende Psychologie« begründet, als deren Vertreter neben Dilthey u.a. noch Eduard Spranger (1882-1963) und Karl Jaspers (1883-1969) aufgetreten sind. Äusserlich scheint die verstehende Psychologie viel Verwandtes mit der Individualpsychologie Alfred Adlers zu haben, die u.a. auch Ausgangspunkt der »Zürcher Schule« war. Aber eben: die Verwandtschaft ist nur äusserlich...47.

Die wissenschaftliche Arbeitsmethode der »Zürcher Schule«

Die Psychologie der »Zürcher Schule« steht auf dem Boden der Naturwissenschaft. Sie hält sich in Theorie und Praxis streng an die induktive Methode. Ihr Bild vom Menschen als einem lernenden Wesen ohne angeborene Charaktereigenschaften wurde auf streng empirischem Wege gefunden und geprüft. Das gilt auch für alle weiteren Befunde: Der durch die ersten Kindheitsjahre erworbene Charakter jedes Individuums erhält schon in den ersten Lebensjahren seine für das ganze Leben bestimmende Ausprägung. Der Mensch verfügt über keinen freien Willen, sein Verhalten ist durch seinen Charakter, sein in der Kindheit erworbenes Lebensgefühl, grundsätzlich determiniert   – wenn es sich hier auch um eine Determination finaler Art im sogenannten Wahrscheinlichkeitsraum und nicht um einfache Kausalität handelt. Charakteränderungen erfordern therapeutische Hilfe. Der Mensch ist ein soziales Wesen insofern, als er unbedingt angewiesen ist auf die mitmenschliche Hilfe und Zuwendung, um überhaupt leben zu können und sich zu entwickeln. Das soziale Prinzip der gegenseitigen Hilfe steht im Mittelpunkt der menschlichen Lebensmöglichkeiten und -bedürfnisse.

Der Mensch ist prinzipiell ein Egoist. Sein Egoismus veranlasst ihn, die Gemeinschaft zu suchen und das Prinzip der gegenseitigen Hilfe als Grundlage seines Lebens anzuerkennen. Wo dies nicht der Fall ist, sondern einer sich von den Mitmenschen abwendet oder sich »gegen sie« kehrt, da liegt eine Gemütskrankheit, eine seelische Irritation vor. Diese ist die Folge eines irritierten charakterlichen Lernprozesses in frühester Kindheit. Der Mensch hat weder einen angeborenen noch einen erworbenen Aggressionstrieb. Ein die Gemeinschaft störendes Verhalten ist vielmehr die Folge des auf Grund eines irritierten Menschenbildes pervers gewordenen Strebens nach Selbstentfaltung, die ja prinzipiell nur in der Gemeinschaft möglich ist. Die Identität der sozialen und egoistischen Natur des Menschen erwähnen wir oft in der Kurzformel: Der Mensch ist gut. Die Ausgangssituation, aus der solche Gefühlsirritationen zu verstehen sind, ist das irritierte Lebensgefühl der Erzieher, ihr psychologisches Unwissen und die zu all dem in steter Wechselwirkung stehenden kulturellen und gesellschaftlichen Irrümer. Soweit eine   – allerdings äusserst mangelhafte und abstrakte   – Skizze der empirisch entwickelten und gesicherten Theorie von der psychischen Natur des Menschen. Mit dieser Theorie, entstanden aus der Praxis und immer wieder an der Praxis überprüft, arbeitet die

»Zürcher Schule«, sich ganz den strengen Anforderungen unterziehend, welche die Prinzipien der induktiven Methode an jede naturwissenschaftliche Arbeit stellen. Durch die Voraussetzung einer rational erklärbaren menschlichen Natur unterscheidet sich diese Psychologie grundsätzlich von jeder Geisteswissenschaft.

Die objektive Erkenntnisweise dieser Psychologie

Obschon zu Beginn dieser Ausführungen darauf hingewiesen wurde, dass sich psychologische Forschung und Psychotherapie niemals »rein intellektuell« betreiben lassen, dass vielmehr das Einfühlungsvermögen das entscheidende Werkzeug des Psychologen sei, bleibt die »Zürcher Schule« damit auf dem Boden der Naturwissenschaft. Ihr Begriff des »Einfühlungsvermögens« steht in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur irrationalen Methode des »Verstehens« in den Geisteswissenschaften.

Der naturwissenschaftlich orientierte Tiefenpsychologe kennt nicht zwei verschiedene, sondern nur eine Erkenntnisweise, die streng wissenschaftliche, auf der Grundlage der induktiven Methode. Wenn er die übliche Trennung von Gefühl und Verstand aufhebt, dann nicht im Sinne einer höheren, mystischen Einheit, sondern in einer Erweiterung des Verstandesbegriffs, des Rationalen, wie das auch manchem Aufklärer vorgeschwebt haben mag, bloss dass ihm damals das empirische Material zu dessen Begründung fehlte: die Erkenntnis der naturwissenschaftlich orientierten Tiefenpsychologie.

So wie diese Psychologie den landläufigen, einseitigen Begriff der Intelligenz auf Grund ihrer neuen wissenschaftlichen Befunde gründlich revidieren musste   – Kriterium der Intelligenz ist die Fähigkeit eines Menschen, sein Leben in der Gemeinschaft auf der Basis der gegenseitigen Hilfe zu entfalten   – genau so ist der Begriff des Verstandes, des Rationalen auf Grund solcher empirischer Befunde zu revidieren und auf eine breitere Grundlage zu stellen. Allzuleicht verfallen wir dem Fehler, unsere augenblicklichen Fähigkeiten mehr oder weniger absolut zu setzen. So verhält es sich wohl auch mit unseren heutigen Vorstellungen über den Verstand So, wie wir denken, glauben wir, denkt »man«   – und schon reden wir von den Grenzen der menschlichen Vernunft. Was aber, wenn wir erkennen müssten, dass die menschliche Vernunft   – trotz allen gewaltigen Errungenschaften in der Technik - erst daran ist, das Abc buchstabieren zu lernen?

Eingangs wurde der menschliche Verstand mit der Spitze eines Eisbergs verglichen, von dem er nur das sichtbare Zeichen eines viel umfassenderen Ganzen sei. Dieses Ganze könnte man zum Beispiel das individuelle Lebensgefühl des Menschen nennen. Er bringt es nicht mit als Anlage bei seiner Geburt, sondern erwirbt es in einem vielschichtigen Lernprozess in den ersten Lebensjahren. Das so gewordene Lebensgefühl des Menschen, die Grundlage seines Charakters, ist nichts als die Art und Weise, wie das kleine Kind sich seine Welt, all die mannigfachen Eindrücke seines Alltags und deren Zusammenhang erklärt   – wobei, der sozialen Natur des Menschen entsprechend, die zwischenmenschlichen Beziehungen im Mittelpunkt dieses Alltags stehen und das Lebensgefühl des Menschen von ihnen am tiefsten geprägt wird.

Obwohl die geschilderten Vorgänge der Charakterprägung, das Entstehen des individuellen Lebensgefühls, unbewusst verlaufen   – wie wir sagen: durch die Gefühlsübertragung der Erzieher auf das Kleinkind   –, ist es sinnvoll, in diesem Zusammenhang die Verstandesbegriffe »lernen« und »erklären« zu verwenden. Das Neugeborene beginnt sein Lebensgefühl zu erlernen: Es nimmt seine Umwelt wahr mit all seinen Sinnen und reagiert darauf, unbewusst Antwort und Befriedigung suchend. Zugleich nimmt es wiederum die Reaktion seiner Umwelt wahr   – ein unablässiges Wechselspiel von sinnlicher Erfahrung und interpretierender Reaktion.

Bereits diesen Sachverhalt könnte man als eine ursprüngliche, primitive und noch unbewusste Form der Theoriebildung beschreiben, ein interpretierendes Bild von Zusammenhängen sinnlich wahrgenommener Tatbestände. Bereits sein unbewusstes, charakterprägendes Lebensbild erwirbt sich der Mensch also mittels der induktiven Methode, wenn auch in einer sehr primitiven, unwissenschaftlichen Weise   – unwissenschaftlich insofern als das kleine Kind in seiner Hilflosigkeit so sehr auf das Vorbild und die Anerkennung seiner Erzieher angewiesen ist, dass es unfähig ist, zu seinen eigenen gefühlsmässigen Spekulationen im zwischenmenschlichen Bereich genügend kritische Distanz zu gewinnen. Da das so entwickelte Lebensbild zur vorwiegend unbewussten Leitlinie des Charakters wird, fehlt auch dem späteren Erwachsenen diese kritische Distanz im Urteil über sich und seine Mitmenschen. Erst durch die in der therapeutischen Gefühlsübertragung empirisch fundierte psychologische Aufklärung können diese frühkindlichen Irritationen korrigiert und auch in diesem Bereich ein kritischeres, wissenschaftlich brauchbares Urteilsvermögen entwickelt werden.

Gefühl und Verstand sind nicht zwei Dinge. Die Grenze zwischen bewusst und unbewusst ist fliessend. Dasselbe gilt auch für das kritische Urteilsvermögen, die Objektivität. In diesem erweiterten Sinne gesehen ist die menschliche Psyche objektiv erklärbar   – abseits aller willkürlichen Spekulation. Einfühlungsvermögen ist keine irrationale Grösse, sondern erweiterte Vernunft, ein auch im zwischenmenschlichen Bereich gut trainiertes, kritisches Urteilsvermögen. Daran mangelt uns so sehr, weil unsere unbewussten Gefühle oder unser unbewusster Verstand   – bzw. Unverstand   – geprägt sind von der Angst vor dem Mitmenschen und einem unentwickelten sozialen Engagement, verursacht durch eine unsachgemässe Erziehung.

Einfühlungsvermögen ist nicht Gefühlsduselei

Einfühlungsvermögen bedeutet, den Menschen beobachten zu können (im weitesten Sinn des Wortes), fähig zu sein, ihm genau zuzuhören   – mehr noch: herauszuhören, was wesentlich ist, worin das Lebensgefühl meines Gegenüber ersichtlich wird, wohin seine »Lebensbewegung« zielt. Richtiges psychologisch geschultes Einfühlungsvermögen setzt daher vieles voraus: Sein unbedingtes Fundament ist zuerst die richtige, d.h. empirisch fundierte und bewiesene Theorie vom Menschen. Ebenso wesentlich bedarf es der auf dieser Grundlage aufbauenden psychotherapeutischen Abklärung unseres unbewussten Lebensgefühls; denn unsere Kindheitsirritationen verhindern eine richtige Entwicklung mitmenschlichen Gefühls. Schliesslich aber lässt sich ein wirkliches und wirksames Einfühlungsvermögen nur durch sehr viel und unablässiges, geduldiges Üben im Gespräch und Umgang mit den Menschen entwickeln   – eine grosse Erfahrung ist nötig.

Auch das psychologische Einfühlungsvermögen ist nichts als   – zum Teil wohl bereits unbewusst   – spontan angewandte induktive Methode: beobachten, verbinden, beobachten... Wichtig ist dabei die Fähigkeit, Beobachtungen psychologisch richtig zu verbinden, schon beim Wahrnehmen zu scheiden in wesentlich und unwesentlich. Das kann man Intuition nennen. Darin besteht das ganzheitliche Erfassen des Menschen. Intuition ist nichts Mystisches, keine grundsätzlich neue, zweite Erkenntnisweise, keine begnadete Erleuchtung durch den heiligen Geist. Das intuitive, ganzheitliche Erfühlen des Menschen in der Psychotherapie hat nichts zu tun mit subjektiver Willkür des Therapeuten. Wenn in der »Zürcher Schule« gesagt wird, der Therapeut müsse sich so in den Hilfesuchenden hineinversetzen können, »dass er mit ihm krank wird«, um ihn von da aus zur Gesundheit zu führen, wenn man immer wieder betont, wie wichtig es für jeden Schüler der Psychologie ist, in der offenbaren Schwäche des Gegenüber sein eigenes Spiegelbild zu sehen, dann soll damit keinerlei geheimnisvolle Subjekt-Objekt-Verschmelzung angedeutet werden. Im Gegenteil. Psychologisches Einfühlungsvermögen ist ein unentbehrliches Werkzeug zur Erlangung objektiv gültiger Erkenntnis über den Menschen. Es ist nichts Irrationales, sondern erweiterte, vertiefte Vernunft   – gesteigerte Fähigkeit, auf Grund einer grossen Erfahrung und einer geübten Konzentration hundert Tatbestände, die in einem Fall mitspielen mögen, in Erwägung zu ziehen und zusammenfassend überblicken zu können. Das ist alles andere als eine blosse Projektion des eigenen Ich auf meine Mitmenschen, die man so zu »verstehen« glaubt.

Damit unterscheidet sich die Erkenntnismethode dieser Tiefenpsychologie auch keineswegs grundsätzlich von jener der anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen. Die Unterschiede im Vorgehen betreffen in keiner Weise das wissenschaftliche Prinzip, sondern sind lediglich von zweitrangiger, mehr technischer Bedeutung. Die Intuition spielt in der Physik, Chemie, Biologie usw. eine ebenso wichtige Rolle zum Finden von Hypothesen, zur steten Erarbeitung eines zusammenfassenden Überblicks, wie in anderen Disziplinen der Naturwissenschaft, etwa der Psychologie, Geschichte usw. »Eine vereinheitlichende Idee ist ein produktiver Einfall, eine Intuition«48. Die Synthese ist immer eine Sache des Gefühls und nicht der Logik. Die Logik ist stets analytisch. Wichtig ist letztlich vor allem die empirische Verankerung der Intuition: »Selbst wenn eine intuitive Einsicht wahr ist, genügt das für die Wissenschaft noch nicht. Denn diese verlangt nicht einfach, dass ihre Aussagen wahr sind, sondern dass man auch weiss, dass sie wahr sind. Sie verlangt einen Nachweis für ihre Wahrheit, eine Begründung. Darin liegt gerade das Spezifische der Wissenschaftlichkeit«49.

Wir müssen auf eigenen Füssen stehen

Viele Denker und Forscher, Philosophen und Naturwissenschafter haben sich schon zu diesem Problem Gedanken gemacht und oft viele wertvolle Erkenntnisse und Anregungen vorgetragen. Unsere Arbeit steht nicht im luftleeren Raum, sondern auf dem Boden einer geschichtlichen Entwicklung, deren Sachverhalte, soweit sie erforscht sind, genauso zum empirischen Material gehören wie die unmittelbare Beobachtung des Menschen. Wir profitieren heute von den Anstössen jener Forscher, die manche Zusammenhänge des zwischenmenschlichen Lebens bereits erahnten und aufzuzeigen versuchten. Die wissenschaftliche Überlieferung ist aber auch behaftet mit vielen Irrtümern und seltsamen Spekulationen. Darum können wir uns auf keinerlei Autorität berufen, wollen wir wissenschaftlich arbeiten, brauchbare Erkenntnis gewinnen.

Die humanistische Gesinnung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, hat eine alte Tradition. Da knüpfen wir an mit unserer psychologischen Arbeit. In der Vergangenheit finden wir diesen oder jenen brauchbaren Ansatz, Anregungen vielleicht. Aber die Arbeit von heute müssen wir selber leisten. Es gibt hier keine Vorbilder. Auch wenn die »Zürcher Schule« die Erkenntnisse aller psychologischen Richtungen berücksichtigt   – wir müssen letztlich auf eigenen Füssen stehen, wenn wir eine ernste Forschungsarbeit leisten wollen.

Quellenverzeichnis

  1. Erich Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Bonn 1948. S.12

  2. Ebenda, S.13

  3. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. I, Stuttgart/Göttingen 1959 (1. Aufl 1883). S. 5f

  4. Vgl. CF.v. Weizsäcker: Die Einheit der Natur. 2.Aufl.München 1971. S.22

  5. HJ. Störig: Kleine Weltgeschichte der Wissenschaft Stuttgart 1954. S.50 f

  6. Zit. in S.F. Mason: Geschichte der Naturwissenschaft.Stuttgart 1961. S.28 f

  7. So bei Hegel, für den Institutionen der Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht, Kunst, Religion, Philosophie usw. Verkörperungen eines »absoluten Geistes« waren, der ewigen Vernunft, die sich in der Geschichte fortschreitend entfaltete. Dilthey möchte den »objektiven Geist« irdischer, nicht aus der Vernunft, sondern aus der umfassenden geschichtlichen Wirklichkeit verstehen   – er bleibt letztlich aber trotzdem in der Hegelschen Spekulation gefangen. Vgl. Dilthey, a.a.O., Gs, Bd. VII, S. 150

  8. Vgl. Hans Driesch: Der Vitalismus. 1905 Die Überwindung des Materialismus. 1935

  9. Vegl. Henri Bergson: Essai sur les données immédiates, de la conscience (1889). Ouvres complètes. Genève 1945

  10. Roger Bacon: Opus maius. 1267

  11. Leonardo da Vinci: Buch von der Malerei. 1500. Vgl.Tagebücher und Aufzeichnungen 3. Aufl.1953

  12. Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. München 1971. S. 164

  13. Edenda, S.165

  14. John Stuart Mill: System der deduktiven und induktiven Logik (1843 ff). Dt.v.I. Schile. 1849. 6. Buch

  15. Hermann v. Helmholtz: Populäre wissenschaftliche Vorträge. Erstes Heft. Braunschweig 1965. S.7

  16. T. Yura: Geisteswissenschaft und Willensgesetz. Berlin 1931. S 13

  17. Vgl. Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1898).5. Aufl.1921. S. 14F 72, 114

  18. Dilthey, a.a. O., GS I, S.6

  19. Rothacker, a.a. O., S. 41

  20. Vgl. Dilthey, a.a. O., GS 1, 2. Buch

  21. Ebenda, S. 3

  22. Ebenda, S. 4

  23. Ebenda, S. XVII

  24.  

  25. Ebenda, S. 64

  26. Ebenda, S. 17

  27. Ebenda, S. 119 f

  28. Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. In: GS V., S. 142 f

  29. Dilthey, GS V, S. 253 f

  30. Ebenda, S. 170

  31. Ebenda, S. 144

  32. Dilthey, CS VII, S. 121

  33. Dilthey, GS VI, S. 317

  34. Dilthey, GS VII, S. 27

  35. Dilthey, GS V, S. 251

  36. Vgl. ebenda, S. 363

  37. Vgl. Die Geschichte der Philosophie. Hg. Max Dessoir. Berlin 1925. S.605 Vgl. O.F. Bollnow: Die Lebensphilosophie. Berlin 1958. S. 101 ff.

  38. Dilthey, GS VIII, S. 140

  39. Iggers, a.a. O., S. 94

  40. Dilthey, GS VII, S. 232

  41. Dilthey, GS VIII, S. 224

  42. José Ortega y Gasset:Geschichte als System. Dt. v. F. Schalk, Stuttgart 1943. S.33, 49 Das Wesen geschichtlicher Krisen. Dt. v. F. Schalk. Stuttgart 1943. S. 118

  43. Dilthey, GS V, S. 372 f

  44. Ebenda, S. 135

  45. Dilthey, GS I, S.64

  46. Iggers, a.a. O., S. 183/Vgl. Dilthey, GS VII, S.

  47. Vgl. Hans Seelbach: Verstehende Psychologie und Individualpsychologie. In: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie. 10. Jg. 1932 Seite 262 ff, 368 ff, 452 ff

  48. Viktor Kraft Geschichtsforschung als strenge Wissenschaft 1955. in: Logik der Sozialwissenschaften. Hg. E. Topitsch. Köln/Berlin 1966. S. 71

  49. Ebenda, S. 76

  50. Quelle: https://seniora.org/administrator/index.php?option=com_content&view=article&layout=edit&id=2871