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Gedanken zur sozialen Frage

Von Daniel Greuter - Auszug aus dem Buch "Soziale Psychologie" - Topia Verlag 1979
27. August 2024

Unsere Welt ist gekennzeichnet von Kriegen, Ausbeutung, Elend, Hunger und Folter. Liegen die Ursachen dafür in der Bösartigkeit des Menschen? Oder sind es andere Gründe, welche ein Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit verunmöglichen?

Die Autoren des vorliegenden Sammelbandes versuchen, eine Antwort auf diese Fragen zu geben, indem sie die Natur des Menschen beschreiben. Der Mensch wird als Ergebnis der natürlichen Evolution verstanden und deshalb mit naturwissenschaftlichen Methoden, ohne jegliche irrationale und mystische Überlegungen untersucht. Entscheidend für den Menschen sind seine soziale Natur und seine Lernfähigkeit. Da diese Faktoren durch eine unsachgemässe Erziehung, eine ungerechte Gesellschaftsordnung und eine vom mystischen Denken beeinflusste Kultur eingeschränkt und verunstaltet werden, ist unsere Welt in einem Zustand, der nicht als human bezeichnet werden kann.

Die soziale Frage handelt von der Ungleichheit der Menschen in einer Gesellschaft, und zwar von den Unterschieden in bezug auf die materiellen Verhältnisse, das Ansehen und den Einfluss im betreffenden Gesellschaftssystem. Dieses Problem ist ein Teil des Gegenstandsbereichs der Soziologie und der Ökonomie. Die Frage drängt sich auf, warum die soziale Frage Thema einer psychologischen Arbeit ist. Dass die Beschäftigung mit der sozialen Frage für die Psychologie nicht nutzlos, sondern notwendig ist, zeigt die tägliche Erfahrung in der psychologischen Arbeit. Denn dabei wird sichtbar, dass der Mensch durch seinen sozialen Hintergrund mitgeprägt wird. Ich werde mich denn auch besonders mit der Frage beschäftigen: Inwiefern wirken sich die sozialen Verhältnisse im Leben eines Menschen aus? Zuerst werde ich erläutern, was unter der sozialen Frage zu verstehen ist; dabei müssen geschichtliche Aspekte mitberücksichtigt werden. Dann möchte ich aufzeigen, wie sich die sozialen Verhältnisse im Leben eines Menschen in verschiedenen Bereichen auswirken. Die Formulierung des Titels zeigt an, dass ich keinen Anspruch auf eine umfassende und endgültige Darstellung des Problems erhebe. Dafür ist es zu vielschichtig und umfangreich. Mit meinen Ausführungen möchte ich anregen, dieses Problem weiter zu bearbeiten.

Der Begriff »soziale Frage« stammt aus der Geschichte; er wurde im 19. Jahrhundert geprägt. In dieser Zeit erfolgte die Industrialisierung, welche in kurzer Zeit die Länder Europas und Nordamerikas von vorwiegend landwirtschaftlich orientierten in modernen Industriestaaten umwandelte. Dieser Prozess brachte grosse Veränderungen mit sich, sowohl technischer, wirtschaftlicher als auch gesellschaftlicher Art. Das Gesellschaftsgefüge, welches im Mittelalter während Jahrhunderten stabil blieb, wurde in kurzer Zeit aufgelöst und neu gestaltet. Durch die Entstehung der Industrie bildete sich eine neue Gesellschaftsschicht: die Arbeiterschaft oder das Proletariat, wie sie auch genannt wird. Von diesen Umwälzungen profitierten die besitzenden Bürger am meisten; sie verdrängten den Adel von seiner Vormachtstellung und bildeten die Schicht des Bürgertums, der Bourgeoisie. Mit dem Begriff »soziale Frage« werden vor allem die Unterschiede zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft bezeichnet. Hier ist anzumerken, dass es eine soziale Frage im Sinne einer Ungleichheit unter verschiedenen gesellschaftlichen Schichten natürlich früher schon gab; das Altertum und das Mittelalter waren alles andere als Zeiten sozialer Gleichheit. Doch den wichtigsten Teil der sozialen Frage bildet die Lage der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert. Ich möchte dazu einige Angaben machen. Jürgen Kuczynski, ein Historiker, der sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigt hat, schreibt über die Arbeitszeit: »Soweit ich feststellen konnte, war der Arbeitstag zu Beginn des 19. Jahrhunderts selten länger als 12 Stunden ... Nachtarbeit war selten. Ebenso Sonntagsarbeit. All das änderte sich schnell. Schon in den zwanziger Jahren war die Nachtarbeit nichts Ungewöhnliches mehr. Auch Sonntagsarbeit wurde allmählich in immer breiteren Kreisen eingeführt .... Der Arbeitstag wurde verlängert, zunächst auf 13 Stunden, dann auf 14 Stunden, ohne dass ein Unterschied hierin zwischen Männer und Frauen gemacht wurde ... Am Ende der hier untersuchten Periode, also in den vierziger Jahren, hatte die Länge des Arbeitstages vielfach ihre Grenze verloren; er dauerte und dauerte, schier endlos, bis zu 15 und 16 und 17 und noch mehr Stunden. Die sechziger Jahre brachten dann eine radikale Wandlung. Die Zahl der gearbeiteten Stunden pro Tag ging ziemlich allgemein und merklich zurück ... Die Periode von 1870 bis 1890 begann mit einer allgemeinen Entwicklung zum 12-Stunden Tag.«

Die Arbeiter wurden zu einer harten Arbeitsdisziplin gezwungen. Wir lesen dazu in einem Reglement (1838) für die Fabrikarbeiter der Firma Krupp: »Jeder Arbeiter muss treu und unbedingt folgsam sein, sich in- und ausserhalb der Fabrik anständig betragen   – Wer aus Nachlässigkeit oder bösem Willen sich vergeht, wird bestraft. Branntweintrinken in der Fabrik wird nicht geduldet. Wer ein Stück Arbeit, ein Werkzeug und dergleichen verdirbt oder umkommen lässt, muss dasselbe vergüten. Wer fünf Minuten zu spät nach dem Läuten zur Arbeit kommt, verliert 1/4 Tag ...« Die Löhne der Arbeiter reichten keineswegs aus, eine Familie zu ernähren; Frauen- und Kinderarbeit waren deshalb die Regel. Aber auch dann bewegten sich die Einkünfte der Arbeiterfamilien immer am Rande des Existenzminimums, besonders in Zeiten wirtschaftlicher Rezession, als die Verluste der Industriellen auf die Arbeiterschaft abgewälzt wurden.

Wohl am eindrücklichsten wird die Lage der Arbeiterschaft veranschaulicht durch die Kinderarbeit: Eine Stelle aus Friedrich Engels berühmter Schrift »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« von 1845 soll dieses Problem illustrieren: »In den Kohlen- und Eisenbergwerken arbeiten Kinder von 4, 5, 7 Jahren; die meisten sind indes über 8 Jahre alt. Sie werden gebraucht, um das losgebrochene Material von der Bruchstelle nach dem Pferdeweg oder dem Hauptschacht zu transportieren und um die Zugtüren, welche die verschiedenen Abteilungen des Bergwerks trennen, bei der Passage von Arbeitern und Material zu öffnen und wieder zu schliessen. Zur Beaufsichtigung dieser Türen werden meist die kleinsten Kinder gebraucht, die auf diese Weise 12 Stunden täglich im Dunkeln einsam in einem engen meist feuchten Gange sitzen müssen ...«

Für das Proletariat gibt es keine Sicherung für das Alter, keinen Schutz bei Krankheit und Invalidität. Unbeschreiblich ist auch das Wohnungselend zur Zeit der Industrialisierung. Engels gibt die Äusserungen eines Predigers wieder, der über den Zustand seiner Pfarrei sagt: »Sie enthält 1400 Häuser, die von 2795 Familien oder ungefähr 12 000 Personen bewohnt werden ... Bei solch einer Zusammendrängung ist es nichts Ungewöhnliches, dass ein Mann, seine Frau, vier bis fünf Kinder und zuweilen noch Grossvater und Grossmutter in einem einzigen Zimmer von zehn bis zwölf Fuss im Quadrat gefunden werden, worin sie arbeiten, essen und schlafen.« Gerade bei den Wohnverhältnissen zeigen sich die sozialen Unterschiede. Während bei der Arbeiterschaft die erwähnten Zustände herrschen, errichten die Fabrikherren die Villen und Paläste, welche für die Zeit der Gründerjahre typisch sind. Die Ungleichheit zeigt sich auch in der Lebenserwartung: Die durchschnittliche Lebenszeit war bei den oberen Schichten in Liverpool, einer bedeutenden Stadt der Frühindustrialisierung, etwa 35 Jahre, bei den Geschäftsleuten und besseren Handwerkern 22 Jahre, den Arbeitern und Taglöhnern nur 15 Jahre. Diese Beschreibung der trostlosen Lage der ausgebeuteten Arbeiterschaft könnte beliebig weitergeführt werden. Es gibt unzählige literarische und wissenschaftliche Werke, die sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigen.

Die Industrialisierung bewirkte ein ungeheures Wirtschaftswachstum. Das Sozialprodukt, das heisst der Reichtum, stieg wie noch nie in der Geschichte. Dadurch verbesserte sich auch die Lage der Arbeiterschaft, die soziale Ungleichheit verschwand jedoch keineswegs. Das gilt auch für die heutige Zeit Zwar ist die Arbeiterschaft in den Industrienationen weit von den geschilderten Zuständen entfernt, doch die sozialen Unterschiede sind auch heute gross. Ich möchte hierzu einige Angaben machen. Am deutlichsten werden die sozialen Unterschiede in der Einkommens- und Vermögensschichtung sichtbar. Der Schweizerischen Wehrsteuerstatistik der Jahre 1971/72 entnehme ich folgende Zahlen: In der Schweiz versteuern 399 Steuerpflichtige ein Einkommen von einer Million und mehr Franken, das sind monatliche Einnahmen von mehr als 80'000 Franken. Nahezu 70'000 Personen versteuern dagegen ein Einkommen von weniger als 10'000 Franken, das entspricht einem Monatseinkommen von etwas mehr als 800 Franken. Die Vermögensschichtung zeigt ein noch krasseres Bild. Im Jahre 1969 standen im Kanton Zürich 160'000 Personen ohne Reinvermögen (das sind 35 Prozent) 5000 (das sind 1 Prozent) gegenüber, die ein Reinvermögen von mehr als 1 Million ihr eigen nannten. Diese grundsätzlichen sozialen Unterschiede haben Auswirkungen auf viele Bereiche des menschlichen Lebens. Arbeiterfamilien wohnen viel enger zusammen (1,03 Personen pro Raum) als Selbständigerwerbende (0,59). Nicht nur materielle Unterschiede sind von Bedeutung; die soziale Ungleichheit zeigt sich auch in allen anderen Bereichen, welche die Lebensqualität für den Menschen ausmachen.

Ich habe mich bei der Darstellung der sozialen Unterschiede in unserer Zeit auf einige Angaben aus der nächsten Umgebung beschränkt. Diesen wären viel andere anzufügen; auch andere Länder müssten in eine gründliche Analyse miteingezogen werden. Es gibt Länder, in denen die Verhältnisse keineswegs besser sind als zur Zeit der Frühindustrialisierung in Europa.

Die meisten von uns sind in dieser Gesellschaft gross geworden. Bewusst oder unbewusst haben wir die sozialen Ungleichheiten wahrgenommen. Eine grundlegende Erkenntnis der psychologischen Forschung ist, dass der Mensch ohne irgendwelche seelische und geistige Anlage zur Welt kommt. Das Menschenkind wird zum Menschen durch seine Beziehung zur Umwelt. Es ist erwiesen, dass auch die sozialen Verhältnisse der Kindheit sich auf den psychischen und geistigen Werdegang des Menschen auswirken, sind doch die sozialen Verhältnisse ein wesentlicher Bestandteil der Umwelt des Kindes. Einfach festzustellen, dass ein solcher Zusammenhang besteht, ist jedoch ungenügend. Wir müssen in der psychologischen Forschung genauer ergründen, auf welche Weise diese Beeinflussung erfolgt. Anzufügen ist, dass es bei dieser Untersuchung nicht um ein rein theoretisches Problem geht. Die Frage ist für die psychotherapeutische Arbeit von grosser Wichtigkeit. Nur wenn wir den Zusammenhang zwischen den sozialen Verhältnissen in der Kindheit und dem Werdegang des Menschen kennen, können wir ihn richtig verstehen. Das gilt auch für das individuelle Leben. Wenn ich sehen lerne, wie sich die sozialen Zustände, in denen ich aufgewachsen bin, auf mein Leben ausgewirkt haben, kann ich mich besser verstehen. Dann kann es mir auch gelingen, über die Irritationen, die dadurch entstanden sind, hinauszugelangen.

In unserer Gesellschaft haben nicht alle Kinder die gleichen Bildungschancen. Zwar ist der Anteil der Studienanfänger, die aus Arbeiterfamilien kommen, seid dem Zweiten Weltkrieg erheblich gestiegen   – in Deutschland betrug er 1970 9,7 Prozent,   – doch sind die Arbeiterkinder immer noch sehr stark untervertreten, denn der Anteil der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung betrug 1970 46,6 Prozent. Für die Schweiz gelten folgende Zahlen: 1965 stammen 9 Prozent der Studienanfänger aus der Unterschicht (32 Prozent beträgt der Anteil der Unterschicht an der Gesamtbevölkerung), 16 Prozent entstammen der Oberschicht (Anteil von 2 Prozent an der Gesamtbevölkerung). Ähnliche Ergebnisse zeigt eine Studie über die soziale Herkunft der Mittelschüler des Kantons Zürich aus dem Jahre 1972. Bemerkenswert ist hier, dass die Anteile der Oberschicht und der oberen Mittelschicht in den Gymnasien mit zunehmender Schuldauer steigt. Während in den Eintrittsklassen etwas über 60 Prozent aus den beiden oberen Schichten stammen, finden sich in den Abschlussklassen bei den Knaben 74,5 Prozent, bei den Mädchen 78,5 Prozent. Das bedeutet, dass Kinder der unteren Schichten, denen der Eintritt in das Gymnasium auf Grund ihrer Leistungen gelungen ist, mehr Mühe haben, sich in ihm zu halten, als die Kinder der oberen Schichten.

Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, ihre Richtigkeit wird auch nicht mehr angezweifelt, sind sie doch in vielen aufwendigen Untersuchungen aufs neue bestätigt worden. Die Frage stellt sich jedoch, wie diese Zahlen zu interpretieren sind. Darüber bestehen verschiedene Theorien. Die eine Interpretation geht dahin, dass diese Zahlen gar nicht als Beweis für ungleiche Bildungschancen betrachtet werden. Die Chancen würden für alle die gleichen sein, aber die Voraussetzungen seien ungleich, und zwar in dem Sinn, dass Kinder aus der Unterschicht eben von ihrer Anlage her weniger intelligent seien. Diese Theorie hat in letzter Zeit wieder einen unerwarteten Aufschwung genommen. Namen wie Jensen, Eysenck sind sehr bekannt geworden, vor allem dadurch dass sie in Zeitschriften, Zeitungen und im Fernsehen zu Wort kamen. Ich möchte nicht weiter auf diese Theorie eingehen, denn das Problem von Anlage und Umwelt würde zu weit vom Thema Wegführen. Ich gehe von unseren Forschungsergebnissen aus, die besagen, dass geistig-seelische Fähigkeiten nicht in den Genen angelegt sind, sondern dass sie sich in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, in erster Linie mit den Beziehungspersonen, entwickeln. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass es nicht zufällig ist, dass diese Theorien seit Beginn der siebziger Jahre an Einfluss gewonnen haben. Die wirtschaftliche Entwicklung hat dazu geführt, dass die Mittel für das Bildungswesen, besonders für die zusätzliche Förderung von Unterschichtkindern, knapp geworden sind. Unter diesen Umständen ist es für gewisse Kreise erfreulich, wenn die erwähnten Theorien wieder neu vertreten werden. Wenn die Unterschichtkinder sowieso dümmer sind, argumentieren sie, nützt es ja doch nichts, sie zu fordern. Dann kann in diesem Bereich der Bildung ruhig gespart werden. Dass so viele junge Menschen an die Uni studieren gehen, ist ja sowieso nicht wünschenswert, da ein enormer Überfluss an Akademikern zu erwarten ist, der nur zu sozialen Spannungen und Unruhen führen würde. Zur Zeit des konjunkturellen Aufschwungs brauchte man viele bestausgebildete Leute; der Start des russischen Sputnik zeigte zudem einen deutlichen Bildungsvorsprung des Ostens. Aus diesen Gründen wurden die brach liegenden Bildungsreserven mobilisiert, dazu gehörte auch die Förderung der Unterschichtkinder. Heute sind die Zustände wesentlich anders.

Eine andere Theorie hat vor allem in Fachkreisen viel Aufsehen erregt; von vielen wird sie als die Erklärung für die Unterschiede im Schulerfolg der Kinder aus der Unterschicht einerseits und derjenigen aus den übrigen Schichten andererseits betrachtet. Der englische Sprachforscher und Soziologe Basil Bernstein hat bei empirischen Untersuchungen herausgefunden, dass ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Sprache besteht. Die Sprache, die in der Unterschicht gesprochen und von den Kindern gelernt wird, enthält sehr viele stereotype Sätze. Die Sprache in den übrigen Schichten ist dagegen viel differenzierter; zudem spielt sie in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine wichtigere Rolle. Bernstein vertritt nun die Theorie, dass der unterschiedliche Schulerfolg auf diese Sprachunterschiede zurückzuführen sei. Erstens hänge die Denkfähigkeit eng mit der Sprachfähigkeit zusammen, d.h. ein Kind mit einer undifferenzierten Sprache sei auch nicht in der Lage, komplizierte Sachverhalte in seinem Denken zu erfassen. Zweitens sei in unserer Gesellschaft die Sprache der Mittel- und Oberschicht der Massstab für den Schulerfolg, deshalb kämen die Unterschichtkinder schlechter weg. Es ist sicher nicht zu bestreiten, dass diese Unterschiede im Sprachverhalten bestehen. Die Frage stellt sich jedoch, ob diese Sprachunterschiede die Ursache für die Unterschiede im Schulerfolg sind, ob eine wenig differenzierte Sprache wirklich eine Barriere auf dem Weg zum Schulerfolg darstellt. Ohne auf die Theorie Bernsteins genauer einzugehen, möchte ich doch sagen, dass hier der Sprache ein zu grosses Gewicht beigemessen wird Die Annahme, dass die Denkfähigkeit, die geistige Leistungsfähigkeit überhaupt, in der Kindheit entwickelt wird, ist richtig. Aber diese Entwicklung wird nicht einfach durch die Sprachentwicklung bestimmt. Geistige Regsamkeit kann sich dann bei einem Kind entwickeln, wenn es die wohlwollende Zuwendung seiner Beziehungspersonen erfährt. Das geistige Training selber ist auch wichtig, doch entscheidend sind die gefühlsmässigen Voraussetzungen, welche das Kind sich dazu erwerben konnte. Die Sprache ist nur der Ausdruck des gefühlsmässigen und geistigen Befindens des Menschen, somit ist eine wenig entwickelte Sprache das Symptom für eine ungenügende seelische Differenzierung und geistige Regsamkeit.

Wenn wir auf die Erfahrung in der Arbeit mit Kindern, die in der Schule Schwierigkeiten haben, zurückgreifen, so können wir feststellen, dass der Misserfolg in erster Linie durch eine grosse Entmutigung bedingt ist. Die undifferenzierte Sprache ist ein Ausdruck dieser Entmutigung. Während der Studentenbewegung wurde das Schlagwort »doof, weil arm« geprägt. Ein Zusammenhang besteht sicher, doch ist diese Formel zu ungenau. Wir müssen den psychologischen Mechanismus erkennen, der von der sozialen Schicht zum Misserfolg in der Schule fuhrt. Wir wissen, dass es immer die Eltern und ihr Erziehungsverhalten sind, welche die Entwicklung des Kindes bestimmen. Diese Erziehung und ihre Grundsätze stehen jedoch nicht im luftleeren Raum, die Eltern erfinden sie nicht selber. Kulturelle Vorstellungen beeinflussen die Erziehung der Eltern. In engem Zusammenhang mit diesen kulturellen Vorstellungen stehen auch die sozialen Verhältnisse. Unsere Gesellschaft ist so eingerichtet, dass es Arme und Reiche, Gebildete und Ungebildete, Angesehene und Verachtete usw. gibt. In den Kreisen der Bessergestellten gehört es selbstverständlich zum normalen Entwicklungsgang ihrer Kinder, dass sie Schulen besuchen. Den weniger gut Gestellten steht es nicht zu, sich Bildung höherer Art anzueignen. Das ist die Ideologie unserer Gesellschaft, die ihren Ursprung in den religiösen Vorstellungen hat. Gott hat die Welt mit ihren Ungleichheiten eingerichtet, der Mensch soll nicht versuchen, daran etwas zu ändern. In diesen Vorstellungen sind die Eltern gross geworden, in ihnen leben sie, und ihren Kindern vermitteln sie die gleichen Meinungen. Zwei Beispiele aus der Praxis sollen diesen Sachverhalt veranschaulichen.

Eine Akademikerfamilie hat vier Kinder. Aus verschiedenen Gründen verläuft die Erziehung so, dass die Kinder grosse Probleme haben, auch in der Schule. Obschon die Situation das nicht zu erlauben scheint, bleibt das Bestreben der Eltern, dass ihre Kinder höhere Schulen besuchen. Sie setzen alles daran dass dies möglich wird. Aus einer Arbeiterfamilie kommen auch vier Kinder. Zum Teil sind die Leistungen in der Schule sehr gut. Trotzdem bleiben die Eltern skeptisch beim Vorschlag, dass die Kinder gefördert werden sollten, damit es ihren Kindern gelingt, einen soliden Beruf zu erlernen. Dass sich diese Einstellung auf die Kinder auswirkt1 ist naheliegend. Wenn bei einem Kind, welches nicht so recht an die Möglichkeit glaubt, eine höhere Schule zu besuchen, die Eltern sich ebenfalls kritisch äussern, so wird es ihm schwerer fallen zu lernen.

Neben der Einstellung der Eltern dem Schulproblem gegenüber   – sie kann so weit gehen, dass die Eltern ihren Kindern verbieten, höhere Schulen zu besuchen, weil es ihnen nicht zustehe   – ist auch die geistige Vernachlässigung des Kindes von Bedeutung. Auch wenn der Wunsch oder gar die Selbstverständlichkeit vorhanden ist, höhere Schulen zu besuchen, fällt es dem Kind, das keine Anregungen dazu im Elternhaus mitbekommen hat, schwer, sich mit geistigen Problemen auseinanderzusetzen. Wenn wir die gesellschaftliche Situation heute betrachten, können wir sicher zu recht sagen, dass bei Unterschichtkindern diese Anregungen in weit geringerem Masse vorhanden sind. In diesem Punkt hat Bernstein sicher recht, auch wenn hinzuzufügen ist, dass die Sprache nur ein Teil der gesamten geistigen Regsamkeit ist, zu der die Anregungen fehlen. Auch wenn besser gebildete Eltern in der Frage der Erziehung sich völlig unsachlich verhalten, können sie den Kindern eher Anregungen zur geistigen Auseinandersetzung bieten.

Gerade in diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Analyse des Zusammenhangs zwischen sozialer Schicht und Entwicklung des Menschen sehr genau und sorgfältig durchgeführt werden muss. Die bisherigen Ausführungen zeigen Tendenzen auf, sie stellen jedoch nicht in Abrede, dass Kinder trotz sozialer Benachteiligung gute Schulerfolge erzielen können. Die Entwicklung jedes einzelnen Menschen muss individuell betrachtet werden. Es kann sein, dass die Vernachlässigung des Kindes auf schulischem Gebiet diesem gerade ermöglicht, sich hier ungestört zu entwickeln. Andererseits können die Anforderungen der Eltern, deren Kinder unbedingt eine höhere Schule besuchen müssen, Ängste bewirken, welche die Kinder wirklich zu Schulversagern machen.

In bezug auf den Schulerfolg können wir zusammenfassend sagen: Die sozialen Verhältnisse, die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht beeinflussen in hohem Masse die Entwicklung des Kindes in der Schule. Zu betonen ist jedoch, dass diese Beeinflussung durch die Erziehung der Eltern erfolgt. Es besteht keine fatalistische Determination von sozialer Schicht und Schulerfolg; es besteht kein zwangsläufiger Zusammenhang der Zugehörigkeit zur Unterschicht und dem Schulversagen. Arbeiter, welche die herkömmlichen Meinungen über ihre eigene Intelligenz und die ihrer Kinder nicht teilen, werden ihre Kinder nicht mit dieser Entmutigung und Vernachlässigung belasten. Sie werden ihre Kinder eben anders erziehen.

Die bisherigen Ausführungen betrafen ausschliesslich die schulischen Leistungen, den schulischen Erfolg. Das ist jedoch nur ein Teil der Erfahrungen, welche das Kind in der Schule macht. Die Schule ist ein Ort, wo im Kind die Gefühle den Mitmenschen gegenüber und das soziale Verhalten gefestigt und ausgeprägt werden. Das Kind ist in dieser Hinsicht zwar schon weitgehend geprägt, wenn es zur Schule kommt, doch auch hier sind die sozialen Verhältnisse für die Erfahrungen des Kindes nicht unwesentlich. Das Erlebnis des Kindes wird mitbestimmt durch seine Schichtzugehörigkeit. Diesbezügliche Schilderungen von Gruppenteilnehmern sind mir in eindrücklicher Erinnerung. Verschiedene haben die Gefühle dargelegt, welche sie hatten, wenn sie in der Schule den Beruf ihres Vaters angeben mussten. Andere haben geäussert, wie sie sich unter den Schulkollegen fühlten, wenn sie in eine höhere Schule kamen, in der vor allem Kinder aus besserem Haus waren. Jemand hat geäussert, dass er miterlebt hat, dass sein Vater überall geduzt wurde, weil er Arbeiter und zudem Ausländer war. Diese Erfahrungen bleiben für das Kind sicher nicht ohne Auswirkungen. Doch diese Erfahrungen allein würden für eine Irritation in der Entwicklung des Kindes nicht genügen. Auch in bezug auf das soziale Verhalten und Gefühl ist die Stellungnahme der Eltern entscheidend. Ähnliche Beobachtungen wie bei den schulischen Leistungen sind hier zu machen: Die Eltern vermitteln den Kindern, wie sie sich selber in der Gesellschaft fühlen. Sie ermahnen sie, sich bei der Familie »Doktor« ja anständig zu verhalten, damit diese kein schlechtes Bild von ihrer Familie erhalte. Oder die Kinder erfahren, dass ihre Eltern sich gar nicht getrauen, mit Höhergestellten in Kontakt zu treten, und dass sie das auch ihren Kindern verbieten. usw.

Diese Erlebnisse und Verhaltensweisen wirken sich auf das Lebensgefühl des Menschen aus. Der Arme erfährt   – direkt oder durch die Eltern   – dass er nicht so viel gilt wie andere, dass er fehl am Platz ist, dass er verachtet wird. Gefühle, welche ihn in seinem Leben hindern, entstehen auf diese Weise: Minderwertigkeitsgefühle, Neid, Hass, Bravheit. Welche Charakterhaltungen und Gefühle beim einzelnen Menschen dominieren, ist individuell. Er kann zum Oppositionellen werden, der sich gegen die »Besseren« wehrt, oder zum Braven, der sich den Autoritäten völlig unterwirft. Hinweisen möchte ich noch auf Motive, auf Zielsetzungen, welche durch die soziale Unterlegenheit entstehen: Beim Kind schon kann der Wunsch entstehen, einmal auch zu den »Besseren« zu gehören. Sein ganzes Leben, alle seine Handlungen sind dann geprägt von diesem Wunsch, nach oben zu kommen. Es ist ihm nicht mehr möglich, sich mit seinesgleichen zu solidarisieren, und wenn es sein Ziel nicht erreicht, bricht es völlig zusammen. Es ist hier jedoch zu betonen, dass auch der Bessergestellte durch die soziale Ungleichheit irritiert wird. Er fühlt sich als etwas Besseres, der sich über die andern stellt. Auch ihm ist es nicht möglich, sich mit den Menschen zu solidarisieren. Dazu kommt seine Angst, eines Tages seine Position zu verlieren und auch zu denen zu gehören, die schlechter gestellt sind.

Wenn wir die Auswirkungen der sozialen Verhältnisse auf das Lebensgefühl des Menschen betrachten, müssen wir betonen, dass es sich hier um Tendenzen, allgemeine Aussagen handelt. Ich möchte nochmals darauf hinweisen, dass sich die sozialen Verhältnisse nicht erst in der Schule auf das Lebensgefühl des Kindes auswirken. Diese Beeinflussung fällt auf einen schon vorbereiteten Boden; entscheidend für das Lebensgefühl des Kindes ist der Einfluss der Erziehung. Jeder wird bei sich selber feststellen können, wie ihm die Eltern die sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft vermittelt haben. Die Spielarten sind sehr vielfältig.

Die sozialen Verhältnisse wirken sich natürlich nicht nur in der Schule auf den Menschen aus, sondern auch in allen andern Bereichen, beispielsweise in der Arbeit und in der Partnerschaft. Für den Menschen ist es nicht unwesentlich, unter welchen Bedingungen er seine Arbeit verrichtet und wie ihm an der Arbeitsstelle begegnet wird. Auch die Art der Arbeit ist natürlich von Bedeutung. Aber auch hier ist zu sagen, dass nicht einfach die Arbeitsverhältnisse das Lebensgefühl des Menschen bestimmen. Entscheidend ist die Erziehung und die Information über die gesellschaftlichen Verhältnisse, welche der Mensch erfährt. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes sei ein Rückblick in die Geschichte erlaubt: Es gab Zeiten, in denen grosse Teile der Arbeiterschaft weniger gedrückt und resigniert den Ungleichheiten unseres Gesellschaftssystems gegenüber standen. Es gab Versuche, diese Verhältnisse grundlegend zu ändern, sie hatten einen Rückhalt in grossen Kreisen der Arbeiterschaft. Ein soziales Bewusstsein, ein Selbstbewusst sein war bei den Arbeitern zum Teil vorhanden, weil sie über die Ursachen der sozialen Ungleichheit aufgeklärt waren. Es ist nicht gelungen, dieses Bewusstsein aufrechtzuerhalten und weiterzuführen. Die Gründe dafür wären zu untersuchen.

Das Problem der sozialen Ungleichheit und der Gefühle, die damit in Zusammenhang stehen, zeigt sich auch in der Frage der Partnerschaft. Die Unterschiede in der sozialen Stellung der Eltern können dazu beitragen, dass es den Partnern nicht möglich wird, eine Beziehung auf gleicher Ebene zu führen. Besonders Unterschiede in der Bildung, die natürlich mit der sozialen Stellung in engem Zusammenhang stehen, können zu grossen Konflikten führen, die sich bis in die Sexualität auswirken: Der Gebildete hat die Meinung, höhere Werte als die triebbedingte Sexualität zu kennen; gegenüber den ärmeren Schichten besteht das Vorurteil, dass bei ihnen das Triebleben stärker ausgeprägt ist. So wird auf dem Hintergrund der sozialen Ungleichheit das Liebesleben zu einem Prestigekampf um Werte pervertiert, die sozial bedingt sind   – einem Prestigekampf, der es den beiden Partnern verunmöglicht, zu einem harmonischen Zusammenleben zu gelangen.

Es war ihm Rahmen dieser Arbeit nur möglich, die Auswirkung der sozialen Ungleichheit in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens anzudeuten. Ich möchte anschliessend die wichtigsten Gedanken nochmals wiederholen und in einen grösseren Zusammenhang stellen.

Die sozialen Verhältnisse haben auf das Lebensgefühl und den Charakter des Menschen einen wichtigen Einfluss. Das sozial bedingte Minderwertigkeitsgefühl entsteht in der Kindheit, indem es die Eltern ihren Kindern vermitteln. In allen Bereichen des menschlichen Lebens (Schule, Arbeit, Partnerschaft, Gemeinschaft usw.) wird das soziale Minderwertigkeitsgefühl deutlich, sei es als soziale Resignation, als Streben nach oben oder in irgendeiner andern Form. Auch der sozial Bessergestellte wird durch die sozialen Verhältnisse in seinem Lebensgefühl beeinträchtigt. Überlegenheitsgefühle, Mangel an Solidarität behindern ihn in der Entfaltung seiner sozialen Möglichkeiten. Bei all diesen Feststellungen ist zu berücksichtigen, dass die Individualität des Menschen zu sehr vielen Spielarten der sozialen Beeinflussung führt.

Die sozialen Verhältnisse, wie wir sie heute in unserer Gesellschaft vorfinden, machen den Menschen krank, weil sie nicht der menschlichen Natur entsprechen. Der Mensch ist ein soziales Lebewesen, das Kind ist angewiesen auf seine Eltern, auf ihre Zuwendung und Hilfe. Wenn diese Pflege nicht auf gleicher Ebene erfolgt, entsteht im Gefühlsleben des Kindes ein krankhaftes Gefühl der Abhängigkeit, des Ausgeliefertseins. Dem Kind prägt sich seine Schwäche im Gefühl derart ein, dass ein Minderwertigkeitsgefühl auch im Erwachsenenalter bestehen bleibt. Das Kind macht die Erfahrung des Oben und Unten; dem Schwächegefühl, das durch diese Erlebnisse entsteht, versucht es zu entkommen, indem es nach oben strebt oder resigniert. Die Ungleichheit zwischen Eltern und Kind, das heisst die ungleiche Bewertung, die ungleiche Beachtung, die ungleichen Wirkungsmöglichkeiten, machen den Menschen krank. Besteht nun in einer Gesellschaft diese Ungleichheit, so wird sie in der Regel auch Bestandteil der Erziehung, da ja die Eltern ein Teil dieser hierarchisch strukturierten Gesellschaft sind. Auf diese Weise wirkt sich die gesellschaftliche Ungleichheit krankmachend auf den einzelnen Menschen aus.

Besonders stark werden dem Kind die Gefühle der Ungleichheit durch eine religiöse Erziehung vermittelt. Im religiösen Denken spielt das Prinzip der Ungleichheit eine zentrale Rolle: die Menschen stehen als völlig unbedeutende Wesen einem überirdischen Wesen gegenüber, das allmächtig und all wissend ist. Auch die Menschen untereinander sind ungleich; es gibt Gute und Böse, Auserwählte und Verworfene, Gläubige und Ungläubige usw. Die Religiösen selber grenzen sich gegeneinander ab, sie bilden verschiedene Religionen, Konfessionen, Sekten usw. Die Unterschiede in der Glaubensauffassung sind zwar oft nicht gross, doch jede Gruppierung meint, im Besitz der allein wahren Lehre zu sein, und bekämpft alle Abweichungen. Die Geschichte ist voll von grausamen Feldzügen gegen Andersgläubige.

Dieses Prinzip der Ungleichheit der Menschen wird im religiösen Denken auch auf die sozialen Verhältnisse übertragen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die Prädestinationslehre des Calvinismus, einer bedeutenden Strömung des Protestantismus. Wirtschaftlicher und sozialer Erfolg gilt hier als Beweis für die Auserwähltheit eines Menschen. Wer arm ist, hat keine Chance, das Seelenheil zu erlangen. Dieses Denken gehört zu jeder religiösen Auffassung: Gott bestimmt durch Stand und Geburt den Lebensweg des Menschen. Der Mensch kann sein vorgezeichnetes Schicksal nur fatalistisch annehmen; je demütiger er das tut, desto mehr entspricht er dem Ideal des religiösen Menschen.

Diese Auffassungen entsprechen den im ersten Teil geschilderten Gesellschaftsverhältnissen. Das Prinzip der Ungleichheit im religiösen Denken rechtfertigt die Ungleichheit in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Wenn die Ungleichheit unter den Menschen zur göttlichen Ordnung gehört, dann ist auch nichts gegen die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft einzuwenden.

Wir haben gesehen, dass das Gefühl der Ungleichheit dem Kind in erster Linie in der Erziehung vermittelt wird. Eltern, die sich des Problems bewusst sind, müssen dieses Gefühl den Kindern nicht zwangsläufig vermitteln. Wenn der Arbeiter weiss, dass die sozialen Verhältnisse ungerecht, dass sie eine Folge des Gesellschaftssystems sind und nicht eine Folge seiner Dummheit, seinem Mangel an Willen und Einsatz, seiner Anlage usw.   – dann wird er seinem Kind kein soziales Minderwertigkeitsgefühl vermitteln. Es wird sich nicht schämen, den Beruf seines Vaters anzugeben. Es weiss, dass die Gesellschaft ungerecht eingerichtet ist, aber dass diese Tatsache nicht der Schuld oder dem Unvermögen seiner Eltern zuzuschreiben ist. Es weiss, dass die sozial höher Gestellten nicht bessere, tüchtigere, intelligentere Menschen sind, sondern dass sie eben im richtigen Elternhaus geboren wurden. Es wird sich diesen Kindern gegenüber nicht minderwertig fühlen. Heute finden wir jedoch kaum Eltern, welche dieses Bewusstsein und diese Gefühlshaltung haben. Die Arbeit in der Psychotherapie zeigt auch, dass es nicht so leicht ist, diese Gefühle zu korrigieren. Es braucht viel Geduld, diese Frage genau zu erarbeiten, auch im individuellen Bereich. Es ist in der Psychotherapie möglich, über diese sozial bedingten Wunden in unserem Gefühlsleben hinauszuwachsen, so dass wir uns unser Leben einrichten können, ohne von Minderwertigkeitsgefühlen, Ängsten, dem Streben nach oben geplagt zu Werden. Es scheint mir jedoch wichtig zu sein, nochmals darauf hinzuweisen, dass es die Ungleichheit in jeder Gesellschaft ist, welche den Menschen krank macht. Erst jenen Menschen werden soziale Minderwertigkeitsgefühle, Mangel an Solidarität usw. fremd sein, die in einer Gesellschaft aufwachsen, welche die Ungleichheit nicht kennt. Der Gedanke an eine Gesellschaft ohne Ungleichheit unter den Menschen ist nicht neu. Immer wieder haben in der Geschichte sozial denkende Philosophen auf die Frage und Möglichkeit eines menschlichen Zusammenlebens ohne Oben und Unten hingewiesen. Sie haben den Menschen als soziales Wesen gesehen, welches sich in Freiheit und Gleichheit zusammenfindet, um in gegenseitiger Hilfe und ohne jegliche Unterdrückung und Unterwerfung das Zusammenleben zu gestalten. Dieses Menschenbild wird von der naturwissenschaftlich orientierten Tiefenpsychologie bestätigt.

Quelle: https://seniora.org/erziehung/psychologie/soziale-psychologie/gedanken-zur-sozialen-frage