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Freiheit als Prinzip der zwischenmenschlichen Beziehungen

Von Heinz Hug - Auszug aus dem Buch "Soziale Psychologie" - Topia Verlag 1979
27. August 2024

Unsere Welt ist gekennzeichnet von Kriegen, Ausbeutung, Elend, Hunger und Folter. Liegen die Ursachen dafür in der Bösartigkeit des Menschen? Oder sind es andere Gründe, welche ein Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit verunmöglichen?

Die Autoren des vorliegenden Sammelbandes versuchen, eine Antwort auf diese Fragen zu geben, indem sie die Natur des Menschen beschreiben. Der Mensch wird als Ergebnis der natürlichen Evolution verstanden und deshalb mit naturwissenschaftlichen Methoden, ohne jegliche irrationale und mystische Überlegungen untersucht. Entscheidend für den Menschen sind seine soziale Natur und seine Lernfähigkeit. Da diese Faktoren durch eine unsachgemässe Erziehung, eine ungerechte Gesellschaftsordnung und eine vom mystischen Denken beeinflusste Kultur eingeschränkt und verunstaltet werden, ist unsere Welt in einem Zustand, der nicht als human bezeichnet werden kann.

Was bedeutet Freiheit im menschlichen Zusammenleben?

Die Arbeit der »Zürcher Schule« zeigt, dass allein die konsequente Anwendung des freiheitlichen Prinzips im menschlichen Zusammenleben die Irritationen und Krankheiten des heutigen Menschen ausheilen lässt. Für eine gesunde Entwicklung des Menschen muss die Freiheit das Prinzip der zwischenmenschlichen Beziehung sein. Dieses Postulat soll im folgenden begründet werden.

Was bedeutet Freiheit im menschlichen Zusammenleben? Die Frage ist so alt wie die Geschichte; sie lässt sich vorerst nur negativ beantworten; Freiheit bedeutet das Fehlen jeglichen   – sogenannt notwendigen oder willkürlichen   – Zwangs. Ein Mensch darf in seinem Verhalten und Handeln nicht durch einen anderen Menschen oder eine Institution bestimmt werden. Jegliche Über- und Unterordnung widerspricht dem freiheitlichen Prinzip. Freiheit bedeutet   – positiv ausgedrückt   – Selbstbestimmung des Menschen, das heisst, sein ganzes Tun und Trachten ist das Ergebnis seiner eigenen Wünsche. In der Freiheit gestaltet der Mensch sein Leben, seine Beziehungen zu den Mitmenschen, seine gesellschaftliche Organisation selbst. Im Gegensatz zum autoritären Prinzip, in dem das Verhalten des Menschen durch Befehle, Sanktionen, Strafen erzwungen wird, ist im freiheitlichen Zusammenleben die Kommunikation das Mittel der Verständigung. Um eine Einigung zu erzielen, führen die Mitmenschen das Gespräch auf freiheitlicher Basis.

Freiheit ist ein Bedürfnis der menschlichen Natur

Die Forderung nach Freiheit als Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung erfolgt nicht willkürlich. Sie findet ihre Begründung in der menschlichen Natur. In der psychotherapeutischen Praxis zeigt sich, wie schrecklich sich das autoritäre, gewalttätige Prinzip auf den werdenden Menschen auswirkt. Als Alternative dazu bietet sich nur das freiheitliche Prinzip an. Darüber hinaus lässt sich das freiheitliche Prinzip direkt aus unserem Wissen über die menschliche Natur ableiten. Der Mensch kommt zur Welt ohne seelisch-geistige Anlagen, ohne Instinkte, ohne differenzierte Gefühle. Zu einem Menschen mit all seinen Möglichkeiten wird er erst in einem langen Erziehungs- und Lernprozess. Diese Entwicklung vom Neugeborenen zur menschlichen Persönlichkeit kann nicht beliebig bestimmt werden, ohne dass schwere Störungen im Gefühlsleben auftreten. Nur eine sachgemässe und freiheitliche Haltung der Erziehungspersonen ermöglicht ein gesundes Heranwachsen des jungen Menschen. Nur eine Entwicklung in Freiheit bietet Gewähr für eine Persönlichkeitsbildung ohne Irritationen.

Das neugeborene Kind ist völlig hilflos, es ist ganz von seinen Erziehungspersonen abhängig. Hier entscheidet es sich, welche Form der zwischenmenschlichen Beziehung ein Mensch für sein ganzes Leben aufnimmt. Wird das Kind in diesen Beziehungen freigelassen, tritt es auch später den Menschen ohne Angst entgegen. Üben die Eltern Druck und Zwang aus, kann das Kind in seiner Hilflosigkeit und Abhängigkeit keine gesunde Beziehung einüben. Misstrauen, Angst, Unter- und Überordnung sind das Resultat.

Der Mensch ist ein lernendes Wesen

Alles, was der Mensch zum Leben braucht, muss er erlernen. Das Kind, welches noch nicht irritiert wurde, erforscht die Welt, ahmt die Erwachsenen nach, übt das Abgeschaute, experimentiert mit dem Gelernten. Diese Prozesse sind für die Entwicklung, für die Menschwerdung notwendig. Werden sie von den Erziehungspersonen eingeschränkt und verboten, kann ein Kind nicht lernen. Seine Initiative und Aktivität werden gehemmt. Das Kind braucht die Freiheit, um sich im Leben zurechtzufinden.

Wie die psychologische Forschung zeigt, ist der Mensch ein Gefühlswesen. Auch die Gefühle müssen sich zuerst entwickeln und differenzieren. Sie bestimmen das Verhalten und Denken eines Menschen. Es gibt keinen freien Willen, nach dem die Gefühle bestimmt werden könnten. In der Erziehung lassen sich nicht jene Gefühle im Kind erzwingen, welche den unaufgeklärten Eltern lieb wären. Auch hier gilt: gesunde Gefühle können sich nur in einer freiheitlichen Atmosphäre entwickeln.

Der Mensch ist sozial

Jeder Mensch ist ein einmaliges Individuum; er ist von seiner Natur her Egoist. Er lebt sein eigenes Leben; ihn von aussen bestimmen zu wollen, käme einer Vergewaltigung gleich. Nur in Freiheit kann der Mensch seine Individualität verwirklichen. Individualität und Egoismus des Menschen stehen nicht im Gegensatz zu seiner sozialen Natur   – die beiden Komponenten bedingen sich gegenseitig. Auch die soziale Natur des Menschen kann sich nur in Freiheit verwirklichen. Sie ist eine Funktion des Gemeinschaftsgefühls, und Gefühle lassen sich nicht erzwingen und reglementieren. Der Mensch muss sein soziales Verhalten selber bestimmen können, nur so wird eine wirkliche Kooperation möglich. Eine Zusammenarbeit, die auf Freiwilligkeit und Einsicht beruht, funktioniert; sie entspricht der menschlichen Natur. Die soziale Natur des Menschen verlangt nach Kommunikation, nach dem Gespräch, das heisst nach dem Mittel der Freiheit, nicht nach dem Zwang und Sanktionen. Wird der Mensch bezwungen wird auch sein soziales Verhalten gestört. Bezwingen die Eltern ihr Kind, so reagiert es mit Trotz, mit Zurückziehen, mit Depression   – alles Formen des Zwangs. Nur das freiheitliche Gespräch kann eine gesunde Entwicklung des sozialen Verhaltens fördern.

Die menschliche Natur: das Werden des Menschen, seine Hilflosigkeit und Abhängigkeit, die Tatsache, dass er ein lernendes und gefühlsbestimmtes Wesen ist, seine Individualität, sein Egoismus und seine Soziabilität machen die Freiheit als Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung zu einer Notwendigkeit.

Die Furcht vor der Freiheit

Obwohl das freiheitliche Prinzip als Organisationsform des menschlichen Zusammenlebens der Natur des Menschen entspricht, konnte es sich bisher nicht durchsetzen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Natur ist in der Menschheitsgeschichte eine sehr junge Disziplin. Die Erkenntnisse der Psychologie sind auch heute noch wenig bekannt. Zudem sind auch die Resultate der psychologischen Forschung sehr oft von vorwissenschaftlichen Vorstellungen nicht frei. Zum Beispiel die Annahme eines Aggressionstriebs oder der Vererbungsgedanke bestimmen noch weitgehend das Menschenbild und lassen das freiheitliche Prinzip nicht gelten. Ihren Ursprung haben solche Vorstellungen im religiösen Denken. In der Religion   – zumal in der christlichen   – gilt der Mensch als böse, als asozial. Es kann nicht ihm überlassen werden, sein Leben zu gestalten; er muss zu einem Leben gezwungen werden, das den religiösen Normen entspricht. Freiheit würde zum Chaos führen, heisst es. Eine höhere Macht bestimmt das Geschehen auf Erden. Gott hat die Welt mit ihrer Unfreiheit eingerichtet; da etwas verändern zu wollen, wäre Sünde. Doch ist das Problem, dass bis heute das autoritäre Prinzip in den menschlichen Beziehungen herrscht, dass Zwang für das menschliche Zusammenleben notwendig sei, nicht allein ein weltanschauliches. Hinter der religiösen Auffassung vom Menschen stehen Interessen. Das freiheitliche Prinzip birgt in sich die Veränderung der zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Der freie Mensch lässt sich nicht reglementieren, ausbeuten, in den Krieg schicken. Er organisiert sich selbst, er braucht keine Mächtigeren, keine Unterdrücker, keine Führer. Die Verwirklichung des freiheitlichen Prinzips im zwischenmenschlichen wie auch im gesellschaftlichen Bereich bedingt, dass das wissenschaftlich erarbeitete Menschenbild Allgemeingut wird und dass die heute bestehenden Interessenverhältnisse verändert werden.

Die Freiheit des Menschen braucht keine Grenzen

Ist irgendwo die Rede von der Freiheit, kommt das Gespräch immer wieder auf deren Grenzen: die eigene Freiheit höre doch dort auf, wo die Freiheit des andern beginne. Doch dieser Einwand geht aus von eben jenem vorwissenschaftlichen, religiösen Menschenbild, in welchem Freiheit und Solidarität unter den Menschen sich gegenseitig ausschliessen. Er geht aus von der Meinung, dass die Interessen der einzelnen Menschen und der Gemeinschaft entgegengesetzt seien. Doch die tiefenpsychologische Forschung hat gezeigt, dass die Interessen des Individuums mit denen der Gemeinschaft übereinstimmen. Das Glück des Individuums ist nur in einer glücklichen Gemeinschaft möglich. Erst im sozialen Bezug zu seinen Mitmenschen findet das Individuum seine Befriedigung. Das freiheitliche Prinzip im menschlichen Zusammenleben findet seine Grundlage in der Gegenseitigkeit, in der Gleichheit und in der Achtung der Persönlichkeit   – alles wesentliche Komponenten der menschlichen Natur. Diese Prinzipien sind nicht nur die Grundlage der Freiheit als Prinzip der menschlichen Beziehung, sie können sich nur in einem Zusammenleben entfalten, das von der Freiheit geprägt ist. In dieser engen Verflechtung zeigt sich die Freiheit als ein Bestandteil der menschlichen Natur selbst.

Freiheit und Partnerschaft

Welche Folgerungen sind nun aus diesen theoretischen Überlegungen für die konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen zu ziehen? Als Beispiel mag die Partnerschaft zwischen Mann und Frau dienen. Das freiheitliche Prinzip spielt schon in der Partnerwahl. Früher wurden die zwei Ehepartner von den Eltern füreinander bestimmt. Diese Praxis lebt heute noch fort im Glauben, eine höhere Macht tue zwei füreinander bestimmte Menschen zusammen. Die Partnersuche wird zum geduldigen Warten, bis der Zufall uns mit dem »richtigen« zusammenführt. Der freie Mensch gestaltet die Partnerwahl aktiver. Frei von solchen Erwägungen geht er auf die Suche nach einem ihm entsprechenden Partner. Fühlt er sich durch jemanden angesprochen, beginnt er zu werben und abzuklären, wie der andere ihn empfindet. Spielt die Anziehung nur einseitig, so gehört es zu seiner Menschenwürde, dass er die Gefühle des andern respektiert und nicht versucht, ihn zu irgendetwas zu zwingen. Freiheit ist die Grundlage seiner Beziehungen zum Mitmenschen. Beruht die Anziehung jedoch auf Gegenseitigkeit, so gehen zwei freie Menschen das Experiment ein, ihre Liebesbeziehung zu gestalten. Einer Legalisierung und Institutionalisierung ihrer Beziehung bedürfen sie nicht. Sie bleiben zwei Persönlichkeiten, die sich gegenseitig achten und freilassen. Keiner versucht, dem andern etwas aufzuzwingen. Eine Verständigung erzielen sie im freiheitlichen Gespräch. Anzunehmen, jeder würde in einer solchen Beziehung seinen eigenen Weg gehen, keine Verantwortung für den andern auf sich nehmen wollen, den andern bei jeder Gelegenheit betrügen, hiesse das freiheitliche Prinzip gründlich missverstehen.

Es liegt in der Natur des Menschen, dass Mann und Frau eine Lebensgemeinschaft bilden

Gemeinsame Interessen, gemeinsame Erlebnisse, gemeinsame Gespräche vertiefen die gegenseitige Beziehung, die gegenseitige Zuneigung. Jeder nimmt Anteil an den Gefühlen und Tätigkeiten des andern. Liebe bedeutet, sich einzufühlen in den andern, mitzuerleben mit ihm, die eigenen Erlebnisse und die des andern intensiver zu gestalten. Das Bedürfnis, sich einem anderen Partner zuzuwenden, tritt nicht auf. Die beiden finden in der eigenen Beziehung die volle Befriedigung, was keineswegs heisst, sie nähmen an der grösseren Gemeinschaft keinen Anteil. Ihre Treue beruht nicht auf einem moralischen Gesetz, sondern ist ihnen ein Bedürfnis, dem sie freiwillig nachleben. Tritt der Wunsch auf, sich anderen Menschen in gleicher Weise zu nähern, ist das ein Symptom für eine Störung in der Beziehung, die der psychotherapeutischen Abklärung bedarf. Auch für den freien Menschen ist es schmerzlich, wenn sein Partner sich aus irgendwelchen Gründen von ihm abwendet, doch seine Reaktion besteht nicht in Sanktionen oder Zwangsmassnahmen. Er wird versuchen, seinen Partner zurückzugewinnen, die gestörte Beziehung abzuklären; doch wird er seinen Partner mit keinem Mittel zwingen wollen, weil er weiss, dass Liebe sich niemals erzwingen lässt. Wenn es nicht anders geht, wird er ihn ziehen lassen und ihm gegenüber freundschaftliche Gefühle bewahren. Wie sie in Freiheit sich gefunden haben, wie sie in Freiheit zusammen ihr Leben gestalteten, werden sie sich in Freiheit trennen.

Muss die Freiheit des Menschen Utopie bleiben?

Das freiheitliche Prinzip gilt für alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Auf die Notwendigkeit der Freiheit in der Erziehung wurde schon hingewiesen. In der Psychotherapie kann nur ein völlig freiheitliches Verhältnis vom Therapeuten zum Analysanden eine Heilung bringen. Das gleiche gilt für die therapeutische Gruppe; hier wird das enge Zusammenspiel von Freiheit und Gleichheit, Gegenseitigkeit und Achtung vor dem Mitmenschen besonders deutlich. Auch auf der gesellschaftlichen Ebene erlaubt nur eine Organisation, die auf dem freiheitlichen Prinzip beruht, ein glückliches Zusammenleben.

Sind diese Gedankengänge nicht rein spekulativ? Ist die Verwirklichung der Freiheit als Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung nicht eine Utopie? Uns, die wir in einer autoritären Erziehung gross geworden sind, die wir die Freiheit weder im zwischenmenschlichen noch im gesellschaftlichen Bereich erlebt haben, mögen sie so erscheinen. Wir haben nicht die Gefühle, uns ein freiheitliches Leben überhaupt vorzustellen. Aber in der Geschichte hat es immer wieder Menschen gegeben, die Ernst machten mit der Utopie freiheitlicher zwischenmenschlicher Beziehungen: Partnerschaft zwischen Mann und Frau, die getragen waren von freiheitlichen Gefühlen gegenseitiger Achtung; Familien, in denen jedes Mitglied freigelassen war; kleine und grössere Gruppen, deren Teilnehmer in einem freiheitlichen Verhältnis zueinander standen; ganze Gesellschaften, die ihre Organisation auf der Freiheit begründeten. Diese Experimente haben grossartige Resultate gezeigt. Leider fehlte es ihnen oft an der nötigen Einsicht in die psychologischen Implikationen und Schwierigkeiten. Eine genaue Erforschung des freiheitlichen Prinzips in der zwischenmenschlichen Beziehung, des Zusammenhangs von Freiheit und menschlicher Natur ist eine grosse Aufgabe für eine gesellschaftskritische, humanistische Psychologie.

Quelle: https://seniora.org/erziehung/psychologie/soziale-psychologie/freiheit-als-prinzip-der-zwischenmenschlichen-beziehungen