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«Menschsein und Mitmenschsein sinnvoll verwirklichen»

von Dr. phil. Annemarie Buchholz-Kaiser
07. November 2015
«Die Haltung der Gleichwertigkeit, die für das Gelingen jeder Therapiegruppe Conditio sine qua non ist, wird am deutlichsten in Gruppenprozessen mit Jugendlichen auf die Probe gestellt. Wir machen die Erfahrung, dass Jugendliche (Gymnasiasten wie Lehrlinge) ausserordentlich interessiert und für individualpsychologische Gedankengänge aufnahmefähig sein können. Gerade in diesem Alter überfällt viele ein Gefühl der Sinnlosigkeit und eine Entmutigung nimmt überhand: Sie sehen sich in eine Welt hineinwachsen, in der sie von Krieg bedroht sind, in der es schwer ist, menschliche Werte und Ideale zu verwirklichen und in der kaum eine Gruppierung eine echte und dauerhafte Lösung für die anstehenden Probleme weiss.

Hier geben ihnen die Adlerschen Gedankengänge ein Rüstzeug in die Hand, Menschsein und Mitmenschsein sinnvoll zu verwirklichen. In diesem Sinne ist bei Jugendlichen eine grosse Bereitschaft da, sich mit Indivi­dualpsychologie auseinanderzusetzen. Schwerer ist es für sie unter Umständen, die persönlichen Anteile aufkommen zu lassen und zu bearbeiten, da die Angst vor massiver Unterlegenheit in ihrer Altersgruppe noch stärker ist als bei Erwachsenen.

Gerade deshalb aber kann sich die Gruppenanalyse in ihrer Altersgruppe sehr ermutigend auswirken. Das Erlebnis, dass andere an ähnlichen Problemen und Schwächen leiden, mildert die Empfindlichkeit und stärkt die Hoffnung, einen Ausweg gemeinsam zu entwickeln. Der Psychologe muss bei Jugendlichen emotional sehr aktiv und ermutigend sein, in Deutungen und Stellungnahmen jedoch äusserst vorsichtig, im Gruppenprozess zurückhaltend mitlebend.

Es darf bei ihm keine Spur von Überheblichkeit bestehen. Es darf auch nicht ein Zurkenntnisnehmen ihrer Probleme vom Standort desjenigen sein, der das alles glücklicherweise schon hinter sich hat, und es soll auch kein Belehrenwollen zum Ausdruck kommen, und zwar nicht nur als angewandte Technik, sondern als Haltung, die zutiefst gelebt werden muss.

Psychologen, die nur im Habitus des ‹Erwachsenen› dem ‹Jugendlichen› begegnen können, beziehungsweise die in der Haltung von Erziehern etwas von ihnen wollen, eignen sich nicht für Gruppenprozesse mit Jugendlichen; auch Psychologen, die sich aus Unsicherheit den Jugendlichen anbiedern, indem sie sich scheinbar auf ihre Stufe stellen, werden Schiffbruch erleiden.»

2014  © Zeit-Fragen. Alle Rechte reserviert.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling


Quelle: Buchholz-Kaiser, Annemarie. Individualpsychologische Bildungsarbeit. Aspekte der analytischen Bearbeitung von Persönlichkeitsproblemen in Gruppen. Vortrag, gehalten am 16. Kongress der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie vom 7. –10. Juli 1985 in Montreal
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1813