Friedrich Lieblings »Zürcher Schule« als vielschichtiges Modell individualpsychologischer Bildungsarbeit
Zwei Institutionen prägten die Entwicklung der Individualpsychologie in der Schweiz, einerseits die Schweizerische Gesellschaft für Individualpsychologie nach Alfred Adler (SGIPA), andererseits Friedrich Lieblings »Zürcher Schule«, auch Psychologische Lehr- und Beratungsstelle genannt. Zwischen 1952 und 1982 entwickelte sich unter Friedrich Lieblings Leitung ein in dieser Größenordnung einmaliges, komplexes Gefüge beraterischer und therapeutischer Individual- und Gruppenarbeit. Lernprozesse, die üblicherweise unter dem Begriff Bildung subsumiert werden, wurden mit intensiven persönlichen Entwicklungsprozessen kombiniert.
Sie wurden angestoßen durch Einzel- und Gruppenpsychotherapien mit einigen wenigen oder einer großen Zahl von Mitgliedern, durch Kongresse und vielfältige Strukturen der gegenseitigen Hilfe. In der Arbeit der Zürcher Schule trifft man deshalb auf ein weites und komplexes Bildungsverständnis, das sehr persönliche Entwicklungsprozesse im einzel- und gruppenpsychotherapeutischen Sinn mit Lernprozessen verbindet, die als Erwerb von Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz beschrieben werden können. Hohe Zielsetzungen wie Gewaltlosigkeit im zwischenmenschlichen Umgang, Solidarität, Autonomie oder Selbstbestimmungsfähigkeit sind für Liebling nicht erreichbar ohne eine persönlichkeitsspezifische, psychotherapeutische Auseinandersetzung mit der eigenen Person; ein Anliegen, das schon Alfred Adler mit seiner Individualpsychologie anstrebte.
Zur Geschichte der Individualpsychologie in der Schweiz
Zwei Institutionen prägten die Entwicklung der Individualpsychologie in der Schweiz, einerseits die Schweizerische Gesellschaft für Individualpsychologie nach Alfred Adler (SGIPA), andererseits Friedrich Lieblings »Zürcher Schule«, auch Psychologische Lehr- und Beratungsstelle genannt. Die Schweizerische Gesellschaft für Individualpsychologie nach Alfred Adler (SGIPA) wurde am 11.11.1948 ins Leben gerufen. Zu den Gründern gehörten damals die Individualpsychologin Mira Munkh-Eggenberger sowie die Mediziner Dr. Victor Louis und Dr. Christoph Wolfensberger. Organisatorisch wurde die Form eines Vereins gewählt.
Es sollte dann noch 26 Jahre dauern, bis 1974 in den Räumen des Instituts für angewandte Psychologie (IAP) in Zürich der erste Ausbildungskurs für Individualpsychologische Beraterinnen und Berater beginnen konnte (Hafner, 2009). 1977 folgte der zweite Kurs, nun in eigenen Räumen an der Selnaustrasse in Zürich. Im gleichen Jahr wurde das Alfred Adler Institut als Ausbildungsstätte für regelmäßige Lehrgänge für individualpsychologische Beratung und Psychotherapie gegründet. Hauptinitianten waren Erik Blumenthal und Victor Louis. Letzterer wurde der erste Leiter.
Die Blütejahre der individualpsychologischen Beratungs- und Psychotherapie- weiterbildungen in der Schweiz begannen nach 1974 und reichten bis ungefähr 2000. Rüedi und Siegwart (2012, S. 82) schreiben dazu: »Insgesamt waren die Jahrzehnte nach 1968 günstig für die Entwicklung und Ausbreitung der Individualpsychologie. Adlers Denken war geprägt von der Überzeugung der Gleichwertigkeit aller Menschen. In der ›Menschenkenntnis‹ spricht er vom ›Gesetz der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt‹ (Adler 1927/2007, 179).
Zeit seines Lebens war Alfred Adler ein überzeugter Sozialist, der mit seinem Konzept vom ›Gemeinschaftschaftsgefühl‹ auf die soziale Natur des Menschen aufmerksam machen wollte, die zu erkennen wichtig sei: ›Mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen‹, so verstand der Begründer der Individualpsychologie ›Gemeinschaftsgefühl‹ und damit seelische Gesundheit. Diese Werte von Gleichheit und Solidarität waren nach 1968 hoch im Kurs, was der Entwicklung und Ausbreitung der Individualpsychologie zugute kam. Gerade Menschen in sozialen und pädagogisch-psychologischen Berufen fühlten sich durch die fortschrittliche und humanistische Grundorientierung der Adlerschen Theorie angesprochen.«
Nachdem die Weiterbildungen für individualpsychologische Beratung und Psychotherapie 1974 und 1977 begonnen hatten, kamen schrittweise Ausbildungsgänge für Spielgruppenleiterinnen und Gerontologie hinzu, sodass um 2000 am damaligen Alfred Adler-Institut Zürich drei Fachbereiche parallel existierten, nämlich Weiterbildungen für individualpsychologische Beratung und Psychotherapie, für Spielgruppenleiterinnen und -leiter sowie für Gerontologie. Der Vereinsvorstand der SGIPA stand damit zugleich dem Verein und der Ausbildungsstätte vor, was zu einer zu großen zeitlichen Belastung führte. Zudem entwickelten sich die drei Sparten sehr unterschiedlich, was auf die Dauer zu einer Überschuldung der SGIPA geführt hätte. Ende September 2009 mussten darum die drei Bereiche verselbstständigt und die eigenen Räumlichkeiten des Instituts aufgegeben werden. Eigenständige Bildungsträger führen seither die Angebote für Individualpsychologie weiter (siehe www.alfredadler.ch). Eine Weiterbildung für individualpsychologische Psychotherapie gibt es leider in der Schweiz zurzeit nicht.
Zeitlich etwa parallel, aber inhaltlich anders verlief die Geschichte der Zürcher Schule von Friedrich Liebling. Liebling (1893 –1982) und seine Familie waren als Flüchtlinge von Wien in die Schweiz gekommen, wo sie Schutz vor Verfolgung fanden. Goddemeier (2018, S. 356) schreibt dazu: »1938 flieht Liebling mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten in die Schweiz. Die wirtschaftliche Lage ist prekär, denn als Emigrant darf er hier zunächst nicht arbeiten. Liebling nutzt die Zeit und ist regelmäßiger Gast in der Schaffhauser Stadtbibliothek, studiert die Klassiker der Psychologie, Philosophie, Soziologie und Politik. In Artikeln für sozialistische Zeitungen stellt er Verbindungen zwischen Politik und Psychologie her
In Schaffhausen lernt Liebling den 35 Jahre jüngeren Josef Rattner kennen.« Liebling engagierte sich sehr für den jungen Rattner, der rückblickend festhält: »Schon mein Eintritt in die Kantonsschule ist auf diesen Mann zurückzuführen, der meinen Eltern für mich das Studium anstelle des Handwerks empfahl« (zit. nach Boller, 2007, S. 69). »Friedrich Liebling habe einen grossen Stolz gehabt, erinnert sich der Schaffhauser Sozialdemokrat Paul Harnisch, der die Familie damals kennenlernte, wie weit er die beiden Rattners gebracht hatte« (König, 1990, S. 21).1
Nach einigen Jahren in Schaffhausen ließ sich Liebling 1951 in Zürich nieder. In dieser frühen Zürcher Zeit arbeiteten Friedrich Liebling und Josef Rattner eng zusammen. Rattner schreibt über diese Zeit: »1952 war ich ein frisch gebackener Doktor der Philosophie und Psychologie. Mit Liebling zusammen eröffnete ich in Zürich etwas später die ›Psychologische Lehr- und Beratungsstelle‹, in der wir fast fünfzehn Jahre zusammenarbeiteten. Wir standen auf dem Boden der Individualpsychologie Adlers, die wir umsichtig weiter entwickelten. Vor allem begründeten wir damals die sogenannte Grossgruppentherapie, die ein Novum in der Psychotherapie darstellte« (Rattner, 2002, S. 177).
Anschließend studierte Rattner in Zürich Medizin und schloss 1962 mit einer preisgekrönten Dissertation über Das Wesen der schizophrenen Reaktion ab. Einem breiten Publikum wurde Rattner als Autor populärwissenschaftlicher Bücher sowie als Verfasser einer Adler-Biografie im Rahmen der rororo Reihe bekannt (Rattner, 1972). 1967 zog er nach Westberlin und baute dort den Arbeitskreis für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie auf. 1968 begann er mit ersten gruppentherapeutischen Sitzungen.
Über Lieblings Ausbildung differieren die Angaben. Beim Historiker Mario König bleibt diese Frage offen: »Paul Harnisch hatte einen guten Eindruck von Friedrich Liebling. Er sei ein interessanter Mensch gewesen, im Gespräch von intensiver Präsenz: ein Erlebnis, ihm zuzuhören. Was sein Leben vor der Flucht in die Schweiz betrifft, sah auch er sich mit der ausserordentlichen Verschwiegenheit seines Gesprächspartners konfrontiert. Hier und da liess er wohl eine Bemerkung fallen, um dann jeweils rasch das Thema zu wechseln. So habe er auch gelegentlich angedeutet, schon in Wien psychologische Studien getrieben und einen Kreis von Menschen um sich gesammelt zu haben; doch alles Genauere blieb in dieser Hinsicht völlig offen« (König, 1990, S. 22).
Josef Rattner schreibt über seinen Mentor: »Friedrich Liebling war ein ausgezeichneter Schüler von Alfred Adler. Man will ihm diese Schülerschaft absprechen, aber ich habe von ihm so viele Details aus dem Leben des Begründers der Individualpsychologie erfahren (die mir nachher von den in New York lebenden Kindern Adlers bestätigt wurden), dass ich versichern kann: Ich habe kaum je einen so profunden Kenner der Individual- und Tiefenpsychologie gekannt wie Friedrich Liebling« (zit. nach Fellay, 2010, S. 33). Liebling selber bezog sich in all den 30 Jahren seines Zürcher Wirkens oft auf Alfred Adler und würdigte das Wirken des Begründers der Individualpsychologie auch in zahlreichen Publikationen.
Friedrich Lieblings Beziehung zur Individualpsychologie
Josef Rattner gibt weitere Hinweise auf die intensive Auseinandersetzung Lieblings mit der Individualpsychologie. In »Individualpsychologie – eine Einführung in die tiefenpsychologische Lehre von Alfred Adler« (Rattner, 1961, S. 9) betont er: »Es ist dem Verfasser ein Bedürfnis, hiermit nicht nur dem Schöpfer der Individualpsychologie seinen Dank und Tribut zu entrichten, sondern auch seinem Lehrer in der individualpsychologischen Theorie und Praxis Friedrich Liebling, dem er dieses Buch als Schüler und Freund zueignet. Die Gedanken, die er hierin vertritt, sind in unzähligen Aussprachen mit diesem seinem Lehrer gereift, so dass es unmöglich wäre festzustellen, wo die Grenzen des geistigen ›Eigentums‹ liegen. So mag denn dieses Buch als eine Art ›Gemeinschaftsarbeit‹ von jenem Gemeinschaftsgefühl Zeugnis ablegen, welches die Individualpsychologen in aller Welt als die sittliche Aufgabe und Herausforderung der Menschheit betrachten.« Dass Friedrich Liebling ein Kenner der Individualpsychologie Alfred Adlers war, belegen auch seine eigenen Aufsätze in Fachzeitschriften. Zum 20. Todestag Adlers am 28. Mai 1957 schrieb Liebling zum Beispiel in der Zeitschrift »Der Psychologe« eine Würdigung und beginnt diese so: »Die Lehre Alfred Adlers ist zu einem Grundpfeiler der Tiefenpsychologie geworden und ist heute aus der psychologischen Forschung nicht mehr wegzudenken« (Liebling, 1957, S. 231). In der Folge gibt Liebling einen Überblick über das Werk Adlers, indem er zentrale Grundgedanken aus dessen Schriften zusammenfasst. Der Aufsatz belegt Lieblings Wertschätzung für den Begründer der Individualpsychologie.
Gleichzeitig vermeidet es Liebling aber, sein eigenes Projekt als ausschließlich individualpsychologisch fundiert zu bezeichnen. In einem gemeinsam mit Rattner verfassten Vorwort zu ihrer Schrift »Menschenkenntnis. Die Anwendung der Tiefenpsychologie auf die Probleme des Alltagslebens« (1966) weitet er die eigenen Quellen aus und bezieht die Neopsychoanalyse sowie die gesamte Tiefenpsychologie als eigenen geistigen Hintergrund mit ein. Es lag ihm sichtlich daran, nicht einer einzelnen Richtung zugeordnet zu werden. Es gelte »alle Einsichten und Erfahrungen der modernen Seelenkunde« für das Weiterkommen der Menschen zu nutzen.
In den eigenen Worten von Liebling und Rattner: »Dem Kenner der Tiefenpsychologie wird beim Studium dieses Bandes kaum verborgen bleiben, wie sehr die in ihm geäußerten Gedankengänge dem Werke und der Anschauung von Alfred Adler verpflichtet sind, dessen Individualpsychologie nach der Überzeugung der Autoren den fruchtbarsten Ansatz zur Weiterentwicklung der psychologischen Forschung enthält. Es wurden aber auch die Lehren der Neopsychoanalyse, in denen viele Engen und Einseitigkeiten der Pionierarbeiten von Sigmund Freud überwunden sind, ausgiebig mitverwertet. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, jenseits von jedem ›Schulstandpunkt‹ alle Einsichten und Erfahrungen der modernen Seelenkunde, die auf das praktische Leben Bezug haben, in einer auch für den Laien fasslichen Form mitzuteilen« (Liebling u. Rattner, 1966, S. 59).
In einem nächsten Schritt sollen Lieblings Verankerung in der Individualpsychologie sowie seine zugleich über diese hinausführende wissenschaftliche Grundorientierung noch genauer vorgestellt werden.
Friedrich Lieblings wissenschaftliche Position
Im vorausgehenden Zitat von Liebling und Rattner aus dem Jahr 1966 werden bereits drei Aspekte von Lieblings Wissenschaftsverständnis erkennbar: erstens die Abstützung auf Adlers Individualpsychologie, zweitens die Erweiterung durch zentrale Einsichten der modernen Psychologie, drittens das ständige Bemühen, wissenschaftliche Erkenntnisse jedem interessierten Menschen, auch den sogenannten Laien, zugänglich zu machen. Viertens war es Liebling wichtig, möglichst optimale Bedingungen für die individuelle Entwicklung des Bildungsbedürfnisses zu schaffen und dies in seinem Wirkungskreis modellhaft zu verwirklichen. Diese vier Aspekte werden im Folgenden ausführlicher dargestellt:
1. Abstützung auf Adlers Individualpsychologie
Der deutsche Individualpsychologe Robert F. Antoch schrieb 1994 (S. 162): »Alfred Adler hat also, wie ich meine, die Anwendung von Zwang, Macht und Gewalt als größte Gefahr für die seelische Gesundheit und für das förderliche Zusammenleben von Menschen früh gesehen und herausgearbeitet.«
Diese Kritik der Gewalt im zwischenmenschlichen Zusammenleben zieht sich als roter Faden durch das Werk Adlers. Schon 1904 (S. 4) schrieb er:
»Seit die Prügel aus der Justiz verschwunden sind, muss es als Barbarei angesehen werden, Kinder zu schlagen. Wer da glaubt, nicht ohne Schläge in der Erziehung auskommen zu können, gesteht seine Unfähigkeit ein und sollte lieber die Hand von den Kindern lassen. […] Abschließung an einem einsamen Ort halten wir für ebenso barbarisch als Schläge, und wir können uns des Verdachts nicht erwehren, dass diese Strafe dem Charakter ebenso verhängnisvoll werden kann als die erste Gefängnishaft dem jugendlichen Verbrecher.« Diese klaren Worte könnten ebenso von Friedrich Liebling stammen. Unablässig hat dieser auf die unheilvollen Auswirkungen von Zwang, Macht und Gewalt hingewiesen. In einem Aufsatz mit dem Titel »Psychologie der Gewalt« umreißt Liebling die kulturgeschichtliche Dimension des Gewaltproblems und wirft grundlegende Fragen eines psychologischen Menschenbildes auf (Liebling, 1954a). Besonders beleuchtet wird die durch die Sozialisation perpetuierte Gewaltbereitschaft im psychischen Erleben des Einzelnen: »In einer Gesellschaftsordnung, die Herrschende und Beherrschte kennt (es gibt bis heute keine andere!) entstehen zweierlei Mentalitäten, zweierlei Ideologien, die bei aller zeit- oder ortsbedingten Verschiedenheit im Wesentlichen gleich ausfallen: überall, wo es Oberschicht und Unterschicht gibt, entwickeln sich Mentalitäten von Herren und Knechten. […] Wie immer sich die Herrschaft ausgestaltet: der Herr begründet seine Stellung durch eine Ideologie des Hochmutes und des Stolzes, die auf dem Postulat der Ungleichheit der Menschen fußt. […] Aus der Ideologie der Herrschenden entspringt der Rassenwahn, der Nationalismus, so wie alle anderen Arten der Intoleranz, die die Menschen voneinander isolieren und eine latente Feindseligkeit begründen« (Liebling, 1954a, zit. nach Grasenack, 2005, S. 137 f.). Ebenso wichtig ist die Analyse der psychischen Grundkonstellation des Knechts, des gehorsamen Untertanen – der Autoritätsgläubigkeit und des seelischen Masochismus, die durch religiöse und staatliche Herrschaftsstrukturen über Jahrhunderte zur Stabilisierung ihrer Macht kultiviert wurden. Diese Analyse in ihrer ganzen Tiefe wiederzugeben, ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich (siehe Truttmann, 2011, S. 97 –98). Bereits hier lassen sich erste Hinweise zum individualpsychologisch orientierten Bildungsverständnis von Friedrich Liebling ableiten: Gewaltlosigkeit im zwischenmenschlichen Umgang, die Fähigkeit, sein Leben im Einklang mit seinen Mitmenschen zu leben, ohne sich aber deswegen zu unterwerfen, sind wesentliche Elemente. Mit den Worten von Gerda Fellay (2010, S 158): »Für Friedrich Liebling bestand die kulturelle Evolution vor allem aus dem Bestreben der Menschheit, die Stimme des Bewusstseins hörbar zu machen, damit der Geist der Verantwortlichkeit die Gewalt überwinden könne. Die ethischen Errungenschaften der Menschheit bestünden im ständigen Anwachsen des Gemeinschaftsgefühls und im Wissen um die Solidarität aller, die ›Menschenantlitz‹ trügen.«2
Gerade dieser letzte Satz erinnert wieder an Alfred Adler, der in »Menschenkenntnis« schrieb: »So kommen wir gedanklich wie durch unsere Einfühlung einem Grundsatz der menschlichen Gesellschaft nahe, der an keiner Stelle verletzt werden kann, ohne dass sich anderswo sofort Gegenkräfte rühren, nämlich dem Gesetz der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt« (Adler, 1927/2007, S. 179).
2. Erweiterung des theoretischen Fundaments
Liebling konnte »selbst kein Adlerianer sein und auch sonst kein -aner oder Diener eines Ideals, noch wollte er an die Individualpsychologie gebunden sein, dies hätte ihm zufolge die absolute Freiheit der wissenschaftlichen Forschung ohne Vorurteile verunmöglicht« (Grasenack, 2005, S. 50). So bezog Liebling neben der Neopsychoanalyse – deren Berücksichtigung lag auf Grund ihrer Parallelen zur Individualpsychologie nahe – auch Erkenntnisse aus anderen Schulrichtungen mit ein (Liebling, 1954b) und leitete seine Schülerinnen und Schüler gleichermaßen dazu an. Die 1964 zum ersten Mal erscheinende, von Liebling und Rattner gemeinsam herausgegebene Monatszeitschrift »Psychologische Menschenkenntnis« (die Zeitschrift bestand bis 1988; Boller, 2007, S. 126 ff.) bringt und bespricht Texte von verschiedenen Autorinnen und Autoren: Alfred Adler, Kurt Seelmann, Alice Friedmann, Helmut Bonn, Gordon Allport, Paul Reiwald, August E. Hohler, Sigmund Freud, Alfred Kinsey, Bertrand Russell, H. K. Schjelderup, Paul Rom, A. S. Neill, H. S. Sullivan kommen neben Liebling, Rattner und anderen Stimmen zu Wort. Dass die Zürcher Schule von Beginn an nicht ausschließlich individualpsychologisch orientiert war, wird auch im Geleitwort der ersten Nummer der »Psychologischen Menschenkenntnis« deutlich: »Unsere neue Zeitschrift wendet sich an Leser aus allen Volksschichten und Bildungskreisen und wird sich bemühen, tiefenpsychologische Einsichten in allgemeinverständlicher Sprache darzustellen. Es gibt heute kein Lebensgebiet, auf dem nicht die Tiefenpsychologie durch ihre grundlegenden Erkenntnisse unser Wissen vom Menschen vertieft und gefördert hätte« (Liebling u. Rattner, 1964, S. 1). Damit sind wir bereits beim dritten Aspekt von Lieblings Wissenschaftsverständnis.
3. Psychologie für alle Menschen lehr- und lernbar machen
Wissen vom Menschen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, Wissen über den Menschen und sein Fühlen und Denken, Menschenkenntnis, Selbsterkenntnis – all dies umfasst Lieblings Bildungsprojekt. Es geht ihm um Wissen und Kenntnisse, die für jeden Menschen wichtig wären. Im Hinblick auf die tragischen Folgen fehlender Selbsterkenntnis und geringer Menschenkenntnis schrieb schon Adler (1927/2007, S. 27):
»Damit berühren wir einen wunden Punkt. Wenn man nämlich die Menschen unvoreingenommen auf ihre Menschenkenntnis hin prüft, so findet man, dass sie meistens versagen. Wir besitzen alle nicht viel Menschenkenntnis.« Liebling schloss sich Adlers Diagnose an: Der Mensch habe im Bereich der Naturwissenschaften unglaubliche Fortschritte gemacht, fliege gar auf den Mond, sich selbst aber habe er nicht erkannt bzw. stehe in dieser Erforschung erst ganz am Anfang (Fellay, 2010, S. 170 f.). Diesem Missstand versuchte Liebling mit der Gründung der Zürcher Schule entgegenzuwirken. Auch die Zeitschrift »Psychologische Menschenkenntnis« war ein Versuch, Leserinnen und Leser aus allen Volksschichten und Bildungskreisen, Fachleute ebenso wie Laien anzusprechen.
Jeder Mensch, ungeachtet seiner finanziellen oder bildungsmäßigen Voraussetzungen, sollte an der Zürcher Schule lernen können. So sollte es keine finanziellen Hindernisse geben, schon gar keine Vorauszahlungen, sondern stets das Angebot individueller Vereinbarungen. Jede und jeder konnte die Kosten für besuchte Kurse und persönliche Einzel- oder Gruppengespräche notieren lassen und später – wenn möglich – begleichen. Liebling ging davon aus, dass Menschen, die von der Psychologie profitiert haben, gerne freiwillig3 ihren finanziellen Beitrag leisten, wenn sie im Berufsleben stehen.
Dieses Modell funktionierte: Der 1971 gegründete Verein zur Förderung psychologischer Ehe- und Erziehungsberatung wuchs und konnte bald Liegenschaften kaufen oder mieten, in denen Einzelgespräche und Gruppenberatungen sowie psychologische Lernhilfe und verschiedenste Kurse zu unterschiedlichsten Themen stattfinden konnten. 1974 wurde der Verein in eine Stiftung mit erweiterter Zielsetzung umgewandelt: »Der Zweck der Stiftung besteht im Aufbau und Betrieb der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle als Lehr-, Forschungs- und Beratungszentrum für – Ehe- und Erziehungsberatung – Berufs- und Studienberatung – Erteilung von Nachhilfeunterricht auf psychologischer Grundlage – Psychotherapie – Gruppentherapie in Klein- und Grossgruppen. Die Stiftung kann ihre Mittel auch einsetzen für Forschung, wissenschaftliche Veröffentlichungen, Aus- und Weiterbildung mit Gewährung von Stipendien und Studiendarlehen, Druck und Verlag von Broschüren, Zeitschriften und Büchern, Finanzierung von Schulungs- und Kursräumlichkeiten sowie die Durchführung von Tagungen, Seminarien und Kongressen zur Förderung der psychologischen Erkenntnisse.«4
Sozialpsychologisch entwickelte sich ein Modell der gegenseitigen Hilfe, indem immer mehr Menschen gerne weitergaben, was sie selbst im Rahmen der Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle an Förderung und Bildung erfahren hatten.5 Insbesondere die psychologische Lernhilfe für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die bisher keinen oder nicht den gewünschten Bildungsabschluss machen konnten, wurde ein wichtiger Zweig der Arbeit. Friedrich Liebling betonte oft die positiven Wirkungen, die der Mensch erfährt, wenn er weitergibt, was er selbst erfahren durfte:6 Wer anderen Menschen helfe, helfe zugleich sich selbst. Wichtige Voraussetzung für die Vermittelbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse war die verständliche Sprache, die Fachleute wie Laien gleichermaßen erreichen sollte.
Schon Adlers Anliegen in Wien war es gewesen, so viele Menschen wie möglich anzusprechen. Darum hielt er selbst Vorträge, zum Beispiel ab 1918 im Volksheim Wien über Menschenkenntnis: »Binnen weniger Jahre erreichte Alfred Adler in diesen Kursen pro Semester bis zu 500 Leute, die jede Woche seinen Worten lauschten« (Schiferer, 1995, S. 128). An Volksbildungseinrichtungen, bei privaten Vereinen oder im Schulbereich bauten die Individualpsychologinnen und -psychologen in Wien öffentlich zugängliche Erziehungsberatungsstellen auf, die starken Zulauf fanden (Gstach, 2003, S. 6). Im gleichen Sinne bemühte sich Liebling von Zürich aus, interessierte Menschen, Fachleute ebenso wie Laien, im ganzen deutschen Sprachraum anzusprechen und so vielen einen Zugang zur Psychologie zu ermöglichen.7 Eine klare und schlichte Sprache war ihm ein Anliegen: Auch durchaus komplexe psychologische Probleme seien für jede und jeden grundsätzlich verstehbar – an der Zürcher Schule bemühte man sich darum, sie allgemeinverständlich zu formulieren.8
4. Dem Grundbedürfnis nach Bildung möglichst optimale Bedingungen schaffen
Damit sind wir bei einem weiteren Kernanliegen von Lieblings Bildungsprojekt: Anthropologisch bringt der Mensch ein tiefverwurzeltes Bedürfnis nach Bildung mit, dessen Förderung aber gewisser Bedingungen bedarf. Optimales Lernen erfordert einen gewaltlosen und einfühlsamen Umgang, der sich auf allen Ebenen der Kommunikation zeigen muss. Dazu gehören auch ein vorsichtiger Umgang mit der Sprache und ein Bewusstsein für die Gefahren jeglicher Fachsprache, die leicht verletzen kann, besonders wenn sie pathologisierende Begriffe verwendet oder Schwarz-Weiß-Terminologien, die Menschen als gesund oder krank einteilen. Schon Adler unterschied nie trennscharf zwischen Gesunden und Kranken, sondern hielt 1912 fest: »Es finden sich bei den Nervösen keine vollkommen neuen Charakterzüge, kein einziger Zug, der nicht auch beim Normalen nachzuweisen wäre« (Adler, 1912/2008, S. 45). Liebling ging wie Adler davon aus, dass die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit fließend sind. Seine ganze Schule so zu gestalten, dass sie zugleich als ein Modell einer humaneren, auf Gleichwertigkeit aller Teilnehmenden beruhenden Gesellschaft eine Art Alternativkultur bilden und als Utopie einer gesunderen Gesellschaft im Kleinen angelegt sein sollte, war Lieblings leitende Intention. Die Erfahrung einer derart egalitären Gemeinschaft wurde für den Einzelnen zu einem essenziellen Teil des therapeutischen Erlebnisses.
Zum Bildungsbegriff von Friedlich Liebling
In der Namensgebung Psychologische Lehr- und Beratungsstelle ist das Anliegen Lieblings gut abgebildet. Der Ort des Lehrens und Lernens, den er schuf, sollte eine psychologische Ausbildung anbieten für Angehörige aller Berufe, welche der Psychologie bedürfen, aber auch jeden Ratsuchenden in grundlegende Aspekte von Psychologie und Psychotherapie einführen. Liebling hätte sich niemals damit begnügt, eine konventionelle Therapie- und Beratungsstelle ins Leben zu rufen, wo Klientinnen und Klienten bei ihren individuellen Lebensproblemen geholfen wird, ohne ihnen zugleich zu einem umfassenderen Verständnis bzw. psychologischer Bildung zu verhelfen. Ein Therapie- und Beratungsverständnis, das ohne Einbezug der gesellschaftlichen Realitäten dem Individuum nicht auch die soziale Dimension seines Leidens vor Augen führt, genügte ihm nicht. Das wäre einer Anpassung an die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse gleichgekommen, obwohl diese für die Pathologie des Individuums doch mitverantwortlich sind. Lieblings gesellschaftskritische Sicht stieß gerade in den Jahren nach 1968 auf reges Interesse.
Was er zu Beginn der Fünfzigerjahre als Einzelpraxis begonnen hatte, expandierte nun rasch: »Dazu gehörten in einer ersten Phase Einzelgespräche und Gruppen, bereits aber auch eine Form von Ausbildung, ferner Filmmatineen und Referate von Josef Rattner sowie diverse Artikel von beiden in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften« (Boller, 2007, S. 108). Ein weiterer Schritt in der Entwicklung zur Großgruppe waren ab 1963/64 gemeinsame Ferientage mit Gesprächsgruppen in den Bergen (Boller, 2007, S. 123) sowie jährliche Arbeitstagungen, ab 1972 dann zweiwöchige Kongresse jeweils in den Sommer- und Winterferien.
Die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wuchs beständig, Boller (S. 148) nennt für die Zeit um 1974/75 die Zahl 700 und für 1979/80 1200. Größenmäßig waren die Sommer- und Winterkongresse9 Höhepunkte, zu denen auch zahlreiche Teilnehmende aus Deutschland und Österreich anreisten. Ganzjährig fanden in Zürich zahllose Einzel- und Gruppensitzungen statt. Dazu kamen Gespräche für einzelne Berufsgruppen wie Lehrpersonen, Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen, Ergotherapeutinnen, Juristen und Theologinnen, aber auch für Eltern, Studierende fast aller Fachbereiche, Jugendliche und Kinder. Außerdem wöchentliche themenbezogene Abendveranstaltungen zu allgemeinpsychologischen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Fragen. Auch eine zweisprachig geführte Gruppe für spanische Migranten und viele andere ad hoc gebildete Kreise zu den verschiedensten Themen entstanden.
Fellay (2010, S. 51) prägte für dieses reichhaltige Angebot den Begriff Volksuniversität. Aufklärung, Beratung, Psychotherapie und Bildung ermöglichten so in der Zürcher Schule einen komplexen Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, den Liebling immer wieder neu von verschiedenen Aspekten her zu beschreiben suchte. Oft ging er dabei von der persönlichen Fragestellung eines Einzelnen aus und stellte dann einen Zusammenhang zwischen dem individuellen Problem und der allgemeinen gesellschaftlichen Ebene her.10 Manchmal stellte Liebling auch ein einzelnes Thema ins Zentrum, so z. B. auf einer Arbeitstagung im Herbst 1968. Seine damaligen Ausführungen gipfelten in einer Begriffsbestimmung von Bildung und sollen deshalb abschließend referiert werden.
Lieblings Bestimmung von Bildung (1968)
Ausgangspunkt ist eine Kulturdiagnose in deutlicher Sprache. Liebling machte sich dazu immer wieder Gedanken, stellvertretend zitieren wir aus einem mündlichen Votum anlässlich der Arbeitstagung im Herbst 1968. Ähnlich wie Adler im »Sinn des Lebens« von 193311 kommt Liebling zur Einschätzung, dass es um die psychische Gesundheit des Menschen nicht gut bestellt ist: »[Dass] alle Menschen ohne Ausnahme durch die traditionelle Erziehung nicht gesund sind. Dass sie psychisch irritiert sind. Dass sie sehr arm sind. […] Wir schlagen die Kinder und führen Krieg. Alle Menschen sind krank. Sigmund Freud hat schon gesagt, dass die ganze Welt ein Spital, ein Krankenhaus ist. Und das sehen wir ganz genau in der Psychotherapie, es gibt keinen Menschen, der nicht psychisch irritiert ist. Er kann seine Probleme nicht lösen« (Liebling 1968, S. 1).
Gebildet wäre für Liebling der Mensch, der seine Lebensprobleme lösen kann: »[D]as psychologische Problem, das ist die Bildung. Dem Menschen zu vermitteln, wie er seine Probleme lösen soll, lösen kann. Wie er leben soll. Sein Lebensgefühl, seine Meinungen über sich selbst, seine Partnerin, seine Haltung gegenüber den Kindern, seine Meinungen über den Nachbarn, seine Meinung über den Staat, seine Gemeinde, das ist das wichtigste Problem – und das nennen wir Bildung. […] Das wollen wir – das soll man vermitteln dem Menschen, das Wissen um sich selbst, das Wissen um seine Belange« (Liebling 1968, S. 2 f.). Hier deckt sich Lieblings Verständnis von Bildung mit demjenigen der WHO. Auch die Weltgesundheitsorganisation versteht unter Bildung Lebenskompetenzen, also psychosoziale Fertigkeiten, die Menschen befähigen, mit den Anforderungen und Schwierigkeiten des täglichen Lebens aus eigener Kraft erfolgreich umzugehen und die ihnen einen angemessenen Umgang mit ihren Mitmenschen ermöglichen. Für Liebling ist die Fähigkeit zur Gewaltlosigkeit im zwischenmenschlichen Umgang besonders wichtig. Er versteht sie als Kompetenz, sein Leben im Einklang mit seinen Mitmenschen zu leben, ohne sich jedoch zu unterwerfen. Die Befähigung zu reflektiertem, gewaltfreiem Umgang mit seinen Mitmenschen, zu Welt- und Menschenkenntnis sowie Sach-, Sozial- und Selbstkompetenzen sind heute weit verbreitete Bildungsziele, die aber aus der Sicht des Psychotherapeuten Friedrich Liebling ohne intensive Auseinandersetzung mit sich selbst – ohne Psychotherapie, ohne Lehranalyse, ohne Selbsterfahrung – nicht wirklich zu erreichen sind.
Das Anliegen Friedrich Lieblings war es, so vielen Menschen wie möglich Bildungserlebnisse zu vermitteln, indem sie psychologische und psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen konnten, unabhängig davon, ob sie in der Lage waren, dafür zu bezahlen oder nicht. Als individualpsychologisch geschulter Psychologe ging auch er davon aus, dass eine Persönlichkeit nur reift, wenn spezifische Defizite, Lebensstil-Irrtümer oder blinde Flecken in einem therapeutischen Bewusstwerdungsprozess behoben werden können, indem in einer psychotherapeutischen Beziehung neue emotionale Erfahrungen ermöglicht werden, sodass eingefahrene Muster im hergebrachten Lebensstil dauerhaft »überschrieben« werden können.
Bildung allein kann so hohe Zielsetzungen wie Gewaltfreiheit, Solidaritätsfähigkeit oder Autonomie und Fähigkeit zur Selbstbestimmung (Klafki, 1994, S. 52) ohne individuelle, persönlichkeitsspezifische, psychotherapeutische Auseinandersetzung mit der eigenen Person nicht erreichen. Darum entwickelte Friedrich Liebling vielfältige Strukturen, kombinierte Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Klein- und Großgruppen, initiierte Lese- und Diskussionsgruppen, Referate, Kongresse und vielfältige Strukturen der gegenseitigen Hilfe, um beides zu ermöglichen: sowohl intensive persönliche Entwicklungsprozesse, wie sie in Beratung und Psychotherapie angestrebt werden, als auch Lernprozesse, wie sie üblicherweise unter dem Begriff Bildung verstanden werden.
In diesem Sinn kann von einem weiten und komplexen Bildungsverständnis bei Friedrich Liebling gesprochen werden. Es verbindet sehr persönliche Entwicklungsprozesse im einzel- und gruppenpsychotherapeutischen Sinne mit Lernprozessen zum Erwerb von Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz.
Adler dachte schon in diese Richtung, als er verlangte, die Schule solle nicht »nur Bücherwissen vermitteln, sondern ein Ort sein, an dem Lebensklugheit und Lebenskunst gelehrt werden« (Adler, 1913 –1937/2009, S. 209). Natürlich hielt Friedrich Liebling »Bücherwissen« und Sachkompetenzen für wichtig, allerdings seien diese einfacher zu erwerben als Sozial- und Selbstkompetenzen.
Weil der Begründer der Zürcher Schule die gelingende Entwicklung einer humanen Persönlichkeit, welche anderen Menschen gewaltlos und gleichwertig begegnen kann, als schwierigste Aufgabe identifizierte, setzte er hier seinen persönlichen Akzent und schuf so mit seiner Zürcher Schule für einige Tausend Menschen eine eigentliche Schule der Lebenskunst.12
Anmerkungen
- Mit den »beiden Rattners« sind Josef und sein älterer Bruder Leo gemeint.
- Eine vertiefte Darstellung von Lieblings Verständnis der kulturellen Evolution findet sich in seinem Aufsatz »Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, der unter dem Pseudonym Polybios 1954 erschien, siehe www.e-periodica.ch → Polybios → Krieg Vater aller Dinge. Mit diesem Link können weitere Aufsätze von Friedrich Liebling (bzw. Polybios) aufgerufen werden. Seine Aufsätze »Der Mensch ist gut« und »Psychologie des Fanatismus« sind von Ricklin (2015, S. 5 –36) neu herausgegeben und kommentiert worden.
- Freiwilligkeit war für Liebling ein zentrales Grundprinzip.
- Öffentliche Urkunde über die Errichtung der »Stiftung Psychologische Lehr- und Beratungsstelle« vom 11.6.1974 (zit. nach Schuler, 2019, S. 50 f.).
- Das Buch »Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt« von Peter Kropotkin wurde an Lieblings Schule häufig gelesen, auch wenn es keine offizielle Literaturliste gab.
- Die moderne Psychologie geht heute davon aus, dass »helfen hilft«, und zwar allen, wie Ul- rike Scheuermann (2021, S. 146 –150) ausführt.
- Auswärtige Gruppen entstanden z. B. in Berlin, Hamburg, Köln, Hannover, Böblingen, Karlsruhe, Frankfurt a. M., Erlangen, Freiburg i. Br. und Wien (Psychologische Lehr- und Beratungsstelle Friedrich Liebling, 1983, S. 127 –138).
- Auf Lieblings reflektierten Umgang mit der Sprache gehen Grasenack (2005, S. 60 f.) und Ricklin (2015, S. 45 ff.) ein. Schüler von Liebling bemühen sich auch in anderen Fachberei- chen wie z. B. der Physik um eine verständliche Sprache: Ein Beispiel ist das Buch »Künst- liche Künstler. Kann Künstliche Intelligenz der Materie Geist einhauchen?« Der Autor führt nicht nur mit allgemeinverständlichen Worten in so schwierige Gebiete wie Quantenmechanik ein, sondern stellt beim Vergleich Mensch und Maschine auch die anthropologischen Grundlagen der Zürcher Schule dar (Truttmann, 2021).
- Zahlreiche Sommer-und Winterkongresse der Zürcher Schule sind dokumentiert, z. B. der 19. Kongress vom 23.12.1980 bis 4.1.1981 mit dem Thema »Angst und Charakter«, Verlag Psy- chologische Menschenkenntnis. Zürich 1981.
- Beispiele dazu finden sich etwa bei Grasenack (2005, S. 62 –219) oder in »Lebensprobleme im Lichte der modernen Psychologie«. Verlag Psychologische Menschenkenntnis, Zürich 1980.
- Adler spricht dort von einem »Mangel sozialer Durchbildung«, der auf uns laste, von einem »gedrosselte[n] Gemeinschaftsgefühl« (Adler 1933/2008, S. 165).
- Dieser Beitrag beschränkt sich auf Friedrich Liebling und sein Verständnis von Bildung. Andere Aspekte seines Werks konnten nur angedeutet werden – so wäre nur schon für die Darstellung seiner psychotherapeutischen Gesprächsführung eine umfangreiche Ausarbei- tung erforderlich. Nach seinem Tod am 28. Februar 1982 kam es zu einer Neuausrichtung, verbunden mit dramatischen Konflikten, Ausschlüssen und schließlich der Gründung eines neuen Vereins im August 1986. Oft wird Lieblings Werk mit diesem »Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis« (VPM) verwechselt. Dieser brachte es in wenigen Jahren zu unrühmlicher Bekanntheit und wurde 2002 offiziell aufgelöst (Boller, 2011, S. 247; Goddemeier, 2018, S. 357; Schuler, 2019, S. 354 ff., Schuler, 2022, S. 379; Wölfle, 2015, S. 186 ff.).
Literatur
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- Adler, A. (1912/2008). Über den nervösen Charakter.
- Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 2, Göttingen: Vandenhoeck-Ruprecht. Hg. von K. H. Witte, A. Bruder-Bezzel, R. Kühn.
- Adler, A. (1913 –1937/2009). Schriften zur Erziehung und Erziehungsberatung.
- Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 4, Göttingen: Vandenhoeck-Ruprecht. Hg. von W. Datler/Johannes Gstach/ Michael Wininger.
- Adler, A. (1927/2007). Menschenkenntnis. Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 5, Göttingen: Vandenhoeck-Ruprecht. Hg. von J. Rüedi.
- Adler, A. (1933/2008). Der Sinn des Lebens. Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 6. Göttingen: Vandenhoeck-Ruprecht. Hg. von R. Brunner, R. Wiegand.
- Antoch, R. F. (1994). Beziehung und seelische Gesundheit. Frankfurt a. M.: Fischer.
- Boller, P. (2007). Mit Psychologie die Welt verändern. Die »Zürcher Schule« Friedrich Lieblings und die Gesellschaft (1952 –1982). Zürich: Chronos.
- Boller, P. (2011). Tabuisierte Avantgarde? Eine historische Untersuchung zu Friedrich Lieblings Zürcher Schule 1952 –1982. Z. f. Individualpsychol., 36, S. 246 –259.
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- Goddemeier, C. (2018). Friedrich Liebling (1893 –1982): Therapie als Weg der Befreiung. Deutsches Ärzteblatt, 8, 356 f.
- Grasenack, M. (2005). Die libertäre Psychotherapie von Friedrich Liebling. Lich/Hessen: Edition AV.
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- Liebling, F. (1954b). Der Mensch im Lichte der modernen Psychologie. In: Befreiung, Zeitschrift für kritisches Denken, 1954/8, S. 225 –241.
- Liebling, F. (1957). Die Bedeutung Alfred Adlers für die moderne Psychologie. Zu seinem 20. Todestag am 28. Mai 1957. Der Psychologe, 9, 231 –236.
- Liebling, F. (1968). Was ist Bildung? Votum an der Jahrestagung vom Herbst 1968, S. 1 –3. Abschrift vom Tonband. Zürich.
- Liebling, F., Rattner, J. (1964). Geleitwort zur ersten Nummer der hauseigenen Monatszeitschrift »Psychologische Menschenkenntnis«, S. 1.
- Liebling, F., Rattner, J. (1966). Vorwort. In Liebling, F., Rattner, J., Menschenkenntnis. Die Anwendung der Tiefenpsychologie auf die Probleme des Alltagslebens. Schriftenreihe der Zeitschrift Psychologische Menschenkenntnis. Bd. 1. Untersiggenthal, S. 5.
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- Rattner, J. (1972). Alfred Adler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt.
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- Scheuermann, U. (2021). Freunde machen gesund. München: Knaur.
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Korrespondenzadressen:
- Dr. Donat Adams, Owenweg 26, CH-8038 Zürich, E-Mail: donat.adams@fhnw.ch
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- Quelle: Schweizerische Gesellschaft für Individualpsychologie nach Alfred Adler (SGIPA)
- Quelle 2/Original: Z. f. Individualpsychol. 48, 287 –301, ISSN (Printausgabe): 0342-393X, ISSN (online): 2196-8330 © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht
- Übersetzung: Mit freundlicher Genehmigung der Autoren
Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling
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- Alfred Adler – Das Gemeinschaftsgefühl: Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung
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