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übernommen aus: Freidenker [1956-2007], Freidenker-Vereinigung der Schweiz, Band: 39 (1956), Heft 2
11. Februar 2025

Polybios: «Black Boy»


Ein Hinweis auf Richard Wright von Polybios
Bild: Wikipedia.de

Aus den Tagen unserer Kindheit kennen wir das schöne Buch «Onkel Toms Hütte» von Harriet Beecher-Stowe, heute ein Kinderbuch, vor hundert Jahren aber ein bedeutendes politisches Manifest, dem geradezu eine weltgeschichtliche Tragweite zugesprochen werden muß.

(Red.) Dieser Text ist von 1956 und verwendet daher die damals als neutral betrachtete Diktion. Wir übernehmen den Text in seiner Originalversion, obwohl wir uns bewusst sind, dass etwa das Wort "Neger" historisch in kolonialen und rassistischen Kontexten verwendet wurde, oft in Zusammenhängen, in denen Schwarze Menschen diskriminiert, entmenschlicht oder als minderwertig dargestellt wurden. Friedrich Liebling alias Polybios waren solche Regungen fremd, was sich ja auch in dem vorliegenden Text deutlich zeigt. (siehe auch: "Die Zukunft der Menschheit")
Die Aussage des Artikels, dass die Verleugnung der Humanität immer universell ist, ist angesichts der gegenwärtigen Weltsituation brennend aktuell. Gleiches gilt für den Aufruf, angesichts des unausrottbaren Ideals einer auf Gerechtigkeit aufgebauten Welt, zu versuchen, das Rad der Geschichte ein Stück weiterzudrehen und die Sache der Freiheit - diese unendliche Aufgabe - zu fördern.(am)

Die beredte Schilderung der Leiden des amerikanischen Negers trug dazu bei, Abraham Lincoln zur Präsidentschaft der USA zu verhelfen; Lincoln aber war Fürsprecher der Abschaffung der Sklaverei, die damals noch — man schrieb das Jahr 1860 —in hoher Blüte stand und von den Südstaaten der Union als durchaus mit Menschenrecht und Menschenwürde vereinbar verteidigt wurde. Die Mißstände mußten erst gewaltig anwachsen, bis die Nordstaaten aus ihrer Lauheit aufgerüttelt wurden und sich sogar, als kein anderer Ausweg mehr zu sehen war, zum Sezessionskrieg entschlossen, aus dem bekanntlich die nordstaatliche Zentralgewalt der Union siegreich und gefestigt hervorging.

Die Weltgeschichte wird aber nicht nur durch das Ethos, sondern auch durch den Egoismus gemacht: Das Sklavereiproblem hatte wohl den Anstoß zu den kriegerischen Auseinandersetzungen gegeben, war aber nicht, bei Siegern wie bei Besiegten, die Hauptsache. Die Washingtoner Regierung wollte ihren Zentralismus sichern und die eigenwilligen südlichen Länder unter ihre Botmäßigkeit bringen.

Nach dem Abschluß der Kämpfe vergaß der «weiße Mann» seinen schwarzen Bruder, der mit ihm ausgezogen war, für Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu kämpfen. Die Sklaverei wurde zwar abgeschafft; man konnte die Schwarzen nicht mehr kaufen und verkaufen, aber grundsätzlich blieb «Onkel Tom» rechtlos und der Willkür des weißen Autokraten schutzlos ausgesetzt.

Bis zum heutigen Tag haben die Vereinigten Staaten die Gleichberechtigung der Neger nicht verwirklicht. Der Süden der Union ist immer noch die Brutstätte des Rassenhasses und der rassischen Vorurteile. Noch gibt es die fanatischen Exzesse der Lynchjustiz, noch gibt es die unmenschlichen Terrorakte des Ku-Klux-Klans. «Black boy» ist immer noch Paria, ausgestoßen und unterdrückt, ein Mensch zweiter Klasse, scheinbar geboren, um Diener und Knecht zu sein.

Die Mentalität des Weißen, der aus dem Rassenvorurteil seinen Stolz und seine Überheblichkeit zieht, ist oft geschildert worden. Sartre in «Die ehrbare Dirne» zeichnet den Typus des weißen Senators und seines Sohnes, beide Ehrfurcht und Unterwürfigkeit beanspruchend für die bloße Tatsache, daß sie weiß sind und der regierenden Schicht angehören. Inwieweit dieser Herrschaftsanspruch mit Rücksichtlosigkeit, Sadismus, nationaler und rassischer Phraseologie verknüpft ist, kann man den Dialogen dieses Stückes entnehmen; wer sich das Recht der Gewalttätigkeit anmaßt, ist immer gewalttätig, nicht nur gegenüber dem Neger, ein Grund dafür, daß der Rassenhaß eine allmenschliche Frage ist: die Verleugnung der Humanität ist immer universell, und der Sklavenhalter des Negers wird auch den Angehörigen seiner eigenen Rasse ein guter Henker werden.

Das ist ein psychologischer Mechanismus, dem niemand entrinnen kann. Was aber geht in der Seele des unterdrückten und entrechteten Negers vor? Wie erträgt er es, gleichsam ständig gebückt zu leben? Unter welchen Bedingungen schlägt seine Furcht in Empörung um, wann bemächtigt sich seiner, heimlich oder offen, der Geist der Revolte? Denn der Herr ist nur so lange Herr, als der Knecht sich als Knecht fühlt; die Tyrannei des Herrn kann den Knecht in eine Lage bringen, in der er lieber das Leben preisgibt, als in der Knechtschaft weiter zu existieren. Häufiger aber findet er sich mit seinem Los ab, ergibt sich seinem Schicksal, wirft den «Helden in seiner Seele» weg, um fürchtend und hoffend das Los der Unwürdigkeit zu tragen; denn der Mensch, der die Freiheit verloren hat, hat alles verloren.

Onkel Tom und seine Kinder leben heute noch im Süden der Vereinigten Staaten in jener Zwiespältigkeit, in der man nur entweder unglücklicher Knecht oder verzweifelter Empörer sein kann. Das Unglück der Neger ist manchenorts derart, daß es zum Himmel schreit: und doch ist dieser Schrei nicht laut genug, um von der Welt gehört zu werden.

Gewiß, man hört davon, daß «black boy» im Süden benachteiligt, geschlagen und geschändet wird; aber die Phantasie des Menschen reicht nicht aus, die Entfernung von einigen hundert Kilometern zu überspringen, wie denn auch der Mensch, nach einer Bemerkung La Rochefoucauld's, sehr gut imstande ist, das Leid anderer Menschen vortrefflich zu ertragen. Nichts wäre verfänglicher, als in Lamentationen über die Trägheit des Menschenherzens auszubrechen. Wenn das mangelhafte Gerechtigkeitsgefühl der Menschen ihrer Phantasielosigkeit entspringt, so muß man dieser Phantasie — sie reicht nur aus, um uns die Erfüllung unserer eigensten, ichhaften Wünsche vorzugaukeln — nachhelfen.

Man kann z. B. die Leiden des Negers so schildern, daß in der Seele des Weißen die Scham und in der Seele des Negers der Stolz geweckt wird; nicht im Sinne erbaulicher Schriften, sondern als Literatur, die wahrhaftig genug ist, in einer absurden Welt keine rosenroten Idyllen zu malen. Die Bücher Richard Wrights, des amerikanischen Negerschriftstellers, sind solche Bücher der Wahrhaftigkeit; in ihnen pulsiert als lebendiger Hauch das Pathos des Mitgefühls, der großen Liebe zum Menschen, zur Kreatur, die des Mordes und der Aufopferung fähig ist.

Richard Wright beschreibt das Schicksal des Negers aus eigener Anschauung, er hat es selbst gelebt. Auf einer elenden Mississippiplantage geboren, hat er in Kindheit und Jugend den Leidensweg von «black boy» angetreten und ist ihn bis zum bittersten Ende gegangen. Man muß nur das autobiographische Buch «Ich Negerjunge» (Steinberg Verlag Zürich) lesen: ein solches Buch erspart die Lektüre zahlreicher soziologischer und psychologischer Abhandlungen, denn in ihm spiegeln sich alle Möglichkeiten eines Negerdaseins, einer von Vorurteilen ummauerten Existenz. Ein Charakter, der in der Esse eines solchen Lebenslaufes geschmiedet worden ist, muß — sofern er nicht daran zerbrochen ist — an Härte und Adel unübertrefflich sein.

Staunend erkennt man wiederum die Elastizität der menschlichen Natur, wenn man sieht, daß Hunger, Infamie der Umwelt und Seelenpein im Menschen nicht die Liebe zur Freiheit auslöschen können, sondern unter Umständen sogar dem Lebenswillen jene Glut und Geradlinigkeit verleihen, die es braucht, um in schwankenden und veränderlichen Daseinsbedingungen ein großes Ziel fest und unverrückbar ins Auge zu fassen.

Wieviel Unrecht ist Richard Wright in seinen Kindheitstagen angetan worden? Von lieblosen Verwandten aufgezogen, geschlagen und ausgehungert, ohne Schulbildung und Unterweisung, bald hier, bald dort: eine Odysse im kleinen, nicht minder ergreifend als Irrfahrt und Leiden des «Dulders Odysseus».

Nach psychologischer Gesetzmäßigkeit hätte Richard Wright bei solchen Erlebnissen und Erfahrungen eigentlich ein Verbrecher werden müssen; daß er es nicht wurde, mag dem Reichtum seiner Gefühle zugeschrieben werden, der es nicht gestattete, seinen Groll gegen die Welt in Taten des Wahnsinns und der Blindheit umzusetzen: die Vernunft gebietet dem Empörten, nicht nur in eigener Sache zu reden und zu handeln, sondern ein Herold der allgemeinen Freiheit zu werden.

In «Onkel Toms Kinder» (Steinberg Verlag Zürich) hat Richard Wright seine Gedankenwelt in vollendeter Weise zum Ausdruck gebracht. Dieses Buch vereinigt fünf Erzählungen, fünf Lebensbilder, besser noch: fünf Appelle an das Gewissen der Welt. Mit einer Gestaltungskraft, die in der zeitgenössischen Literatur kaum übertroffen wird, wird hier die Seele black boys gezeichnet; sie wird vermessen, möchte man sagen, von einem kunstreichen Geometer, der Höhen und Tiefen dieser Seelenlandschaft auf das genaueste kennt. Und welche Themata!

Sie wären des größten Dramatikers würdig; hier nur einige Andeutungen: Vier schwarze Buben dringen in das Grundstück eines Weißen ein, um in seinem «swimming-pool» zu baden; der Sohn des Grundbesitzers sieht sie und erschießt kurzerhand zwei davon. Die beiden andern setzen sich zur Wehr, und der Negerknabe tötete den Weißen. Dann die Flucht, die Hetzjagd mit Bluthunden, die auf Schwarze geschult sind, das Teeren und Federn, die Benzinkanister, ausgegossen auf ein wehrloses Kind, das dem Feuertod überantwortet wird; ein Unmaß von Grausamkeit entfaltet sich bei solcher Lynchjustiz; wenn irgendwo, hier würde man an den «inneren Lumpenhund» im Menschen glauben, von dem Schopenhauer — allerdings in einer ungerechtfertigten Verallgemeinerung — spricht. Und so auch in den Schilderungen «Drunten am Uferstrand»; «Schwarze Ballade»; «Feuer und Wolke» und «Lichter Morgenstern».

Ein großes Gefühl und eine souveräne Menschlichkeit ermöglichen es Richard Wright, Bücher zu schreiben, in denen sich gerechte Empörung, niemals aber Haß findet. Der Menschenkenner und Menschenfreund weiß es, daß der Weiße selber ein Opfer ist, Opfer einer Ideologie, die alle Menschen vom Gesichtswinkel von Herrschaft und Knechtschaft sieht. Und darum erhebt sich sein Blick über das eigene Mißgeschick und sieht das Mißgeschick der Menschheit, die an der epidemischen Gewalttätigkeit leidet, dem Prinzip der Autorität, das seit dem Anfang der Zeiten über dem Schicksal des Einzelnen wie der Gemeinschaft lastet.

Angesichts des unausrottbaren Ideals einer auf Gerechtigkeit aufgebauten Welt muß der Mensch die Mißstände seiner Zeit auf sich nehmen und versuchen, das Rad der Geschichte ein Stück weiterzudrehen und die Sache der Freiheit — diese unendliche Aufgabe — zu fördern. Sieht man die Verantwortung der Literatur groß genug, so wird man nicht umhin können, ihr auch eine sittliche und soziale Funktion zuzusprechen; die Bücher Richard Wrights sind eine Schule des menschlichen Gewissens, und das ist in ethischer Hinsicht das Größte, was man von den Werken eines Erzählers sagen kann.

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Wir sind alle stark genug, um zu ertragen, was andern zustößt.

La Rochefoucauld.


Quelle: ETH-Bibliothek Zürich