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Nomadenkinder

mfuhlrott
08. April 2015
Wenn Eltern sich trennen, werden Kinder häufig zu Reisenden. Das tut ihnen nicht gut, hat Kolumnist Michael Thiel bemerkt.

„Und was machst Du in Stuttgart?“ „Ich besuche Papi. Das mache ich so alle zwei Wochen!“. Marius, acht Jahre alt und trotzdem irgendwie sehr erwachsen, sitzt mir gegenüber im Zug von Hamburg nach Stuttgart. Vier Stunden Zugfahrt liegen vor uns. Zeit genug, um sich kennen zu lernen. „Fährst du ganz allein?“ „Oh Mann, ich bin doch erst acht…!“. Marius legt in seine Stimme einen Hauch von: bist du doof   – und du willst erwachsen sein? „Ich werde von Janine begleitet. Das ist die da mit der blauen Weste. Die arbeitet für ‚Kids on Tour’ und sammelt alle Kinder in Hamburg ein, die mit nach Stuttgart fahren und übergibt uns da an unsere Eltern“.

Janine erzählt mir später, dass sie zusammen mit anderen Zugbegleitern Kinder auf bestimmten Bahnstrecken begleitet. Das kann man vorher bei „Kids on Tour“ buchen (siehe: http://www.bahn.de/p/view/service/familie/kids_on_tour.shtml). Einige wollen einfach nur mal die Großeltern besuchen, ein paar fahren etwa zurück ins Internat, andere sind „Stammgäste“, die nach der Scheidung der Eltern zwischen Vater oder Mutter pendeln. Von denen haben sich kleine Cliquen gebildet, die regelmäßig zusammen fahren. „Die helfen sich schon gegenseitig, wenn es wieder Stress mit den geschiedenen Eltern gibt. Oder wenn der Abschiedsschmerz auf dem Bahnhof zu groß wird. Und ich bin ja auch noch da und hör mir die Sorgen an. Wie eine große Schwester.“ Janine wirkt ein wenig bekümmert: „Ich mache das schon seit zwei Jahren und habe das Gefühl, die Zahl der reisenden Scheidungskinder nimmt zu.“ Grund genug für mich, mich mit diesem Thema näher zu beschäftigen.

Kinder sind keine Trennungsbremse

Wie viele Scheidungskinder haben wir eigentlich in Deutschland? Laut Statistischen Bundesamt wurden 2013 insgesamt 169.833 Ehen geschieden. Darunter waren 84.844 Ehen mit minderjährigen Kindern. Insgesamt waren 136.064 minderjährige Kinder (siehe: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Ehescheidungen/Tabellen/EhescheidungenKinder.html;jsessionid=D0AFDB054397E46EB27F0E187ABBBCC8.cae3) 2013 von der Scheidung ihrer Eltern betroffen.

Hinter diesen nüchternen Zahlen verbergen sich große und kleine Dramen, denn in der Regel wollen Kinder keine Trennung ihrer Eltern, egal was in der Familie vorgefallen ist. Jede Scheidung der Eltern erschüttert das psychologische Ur-Bedürfnis eines Kindes nach Sicherheit. Selbst wenn Mutti und Vati beteuern, sie würden immer für den Kleinen da sein, egal was passiert: Wer weiß das schon? Wenn sie sich nicht mehr lieben, wer gibt dem Kind die Garantie, dass sie es plötzlich auch nicht mehr lieb haben und es allein lassen?

Ein befreundeter Lehrer hat mir neulich erzählt, dass ganz viele „frisch geschiedene“ Kinder Angst haben, nach der Schule nach Haus zu gehen. Weil sie Angst haben, dass dort plötzlich niemand mehr auf sie wartet. Ein Trauma im Leben dieser Kinder ist entstanden, weil Erwachsene ihre Beziehung nicht mehr aufrecht halten konnten.

Und womöglich wegen der Kinder zusammen bleiben? Diese Trennungsbremse zieht kaum noch. In einer Zeit, wo Scheidung und Trennung schon fast normaler sind als eine langjährige Partnerschaft durchzuhalten, wir in einer Art „Beziehungs-Wegwerf-Gesellschaft“ leben, auf der ewigen Suche nach dem Mr. oder der Mrs. Right, ist eine Trennung bei den ersten Problemen schnell ausgesprochen.

Weiterziehen statt Kämpfen

Ich habe während meiner vielen Paarberatungen in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen, dass in Partnerschaften um nichts mehr richtig gekämpft wird. Probleme werden nicht angepackt, getreu dem Motto: Wenn ich nicht darüber rede, gehen sie schon irgendwann vorbei. Leider nein … Und immer wieder der Gedanke: Es muss doch irgendwo etwas Besseres geben.

Eine teure Hochzeit in Weiß als schönster Tag im Leben ist momentan im Trend   – aber was kommt danach? Oftmals stellt sich die Ernüchterung durch die Alltäglichkeit ziemlich schnell ein. Eine Beziehung hält nicht, weil man die Sterne für den Anderen herunterholt, sondern im Alltag den Müll rausbringt. Das gemeinsame, optimistische Schaffen des täglichen Miteinanders ist die wirkliche Kunst, eine Beziehung zu führen!

Bis zu 20 Prozent der Kinder leiden langfristig unter der Trennung Doch nicht jede Trennung muss automatisch katastrophale Folgen für Kinder haben. Laut einer Längsschnittstudie von E. Mavis Hetherington, die über 20 Jahre den Lebensweg von Scheidungskindern begleitete, leiden 10 bis 20 Prozent der untersuchten Scheidungskinder noch bis zu 20 Jahre später an den Folgen der elterlichen Trennung.

Der Aufbau von Vertrauen

Das häufigste Problem der Scheidungskinder: später eine vertrauensvolle Bindung zu einem Menschen aufzubauen. Die Angst vor einer erneuten Trennung und dem damit verbundenen seelischen Schmerz hält viele davon ab, sich bedingungslos und voller Liebe in eine neue Beziehung zu stürzen. Im Gegenteil: Ich erlebe in meiner Praxis sehr häufig Paare, in der ein Partner beispielsweise extrem eifersüchtig und kontrollierend ist. So sehr, dass diese Partnerschaft daran zu zerbrechen droht.

Der häufigste Grund: Trennungserfahrungen in früher Kindheit.

Dort hat das Kind erfahren, dass es nicht liebenswert genug war, dass Vater oder Mutter bei ihm blieben, sondern es verlassen haben. Die Folge: Verlustängste, mangelndes Selbstwertgefühl und Kontrollzwang. Und so ist der Wunsch nach einer stabilen Partnerschaft, in der alles unbedingt anders laufen soll als in der eigenen Kindheit, bei diesen scheidungsgeschädigten Erwachsenen ohne psychologische Hilfe oft zum Scheitern verurteilt.

Beziehungen werden am Modell der Eltern vorgelebt und gelernt. Wer konstruktives Zusammenleben, Streiten und Wieder-Versöhnen, Liebe ohne Eifersucht etc. nicht erleben konnte, wird sie später nur schwer selbst leben können. Wenn ich dann das Gefühl habe, ich bin es nicht wert, dass man mich liebt, kann ich natürlich auch nicht glauben, dass mein Partner mich wirklich lieben kann. Bindungsangst kann auch durch den Wunsch entstehen, sich nicht mehr durch eine erneute Trennung verletzen lassen zu wollen. So kann sich niemand vollkommen auf einen anderen Menschen einlassen.

Trennen? Zusammenbleiben?

Wann sollte man sich trennen? Auch mit den besten Vorsätzen und dem Wissen um die negativen Folgen einer Trennung für die Kids gehen Partnerschaften in die Brüche. Doch wann lohnt es sich, an der Beziehung zu arbeiten und wann sind die Probleme zu existenziell? Natürlich sollte man sich trennen, wenn es zu wiederholter körperliche und/oder psychischer Gewalt in der Partnerschaft gekommen ist. Permanente, heftige Streitigkeiten, nicht behandelte Alkohol- oder Drogenerkrankungen, ständige Nebenbeziehungen oder substanzielle Lügen wie verheimlichte Schulden belasten Kinder mehr als so manche Eltern wahr haben wollen. Hier sehe ich oftmals nur eine Trennung als Lösung   – und auch für die Kinder am erträglichsten.

Wann sollte man zusammen bleiben? Wenn die Partnerschaftsprobleme mit Kommunikationsschwächen, mit Auseinanderleben, sexuellen Problemen, Eifersucht, Ängsten oder ähnlichem zu tun haben, muss nicht zwangsläufig eine Trennung stattfinden. Diese Belastungen können oftmals durch professionelle psychologische Hilfe behoben werden   – die aber viel zu selten oder viel zu spät aufgesucht wird. Warum ist das so? Wenn das Auto stottert, die Waschmaschine defekt ist, ist es völlig klar: Das muss schnellstens repariert werden. Wenn aber die Beziehung nicht mehr rund läuft, finden nur sehr wenige Paare den Weg zu einer Paarberatung. Dabei muss die nicht teuer sein, wenn man zum Beispiel die kirchlichen Angebote zur Beratung wahrnimmt.

Kinder können der Motivationsschub sein, um an der Beziehung zu arbeiten, noch nicht aufzugeben, sich Hilfe zu holen. Sich aber „nur“ der Kinder wegen nicht zu trennen, bedeutet auch: Den Kindern wird en passant die Verantwortung dafür aufgehalst, warum die Mutter beim schlagenden Vater bleibt, warum der Vater sich nicht von der alkoholkranken Mutter getrennt hat usw. Ein Kind sollte um seiner selbst willen geliebt und nicht als Ehekitt mißbraucht werden.

Wie sage ich es meinem Kinde?

Dieser Moment, in dem ich meinem Kind sage, dass wir uns trennen werden, bleibt ihm ein Leben lag im Gedächtnis. Deswegen ist es sehr wichtig, diesen Moment sehr sorgfältig zu durchdenken. Grundsätzlich sollten beide Elternteile ihrem Kind die Entscheidung zur Trennung mitteilen, damit klar wird: Wir beide haben es beschlossen, aber wir beide lieben Dich nach wie vor. Dabei muss deutlich werden: Es ist unser Erwachsenen-Problem! Kinder haben niemals die Schuld an der Trennung! Es wird sich möglichst wenig für das Kind ändern! Die Eltern wohnen zwar getrennt, aber das Kind sieht selbstverständlich beide weiterhin. Das Ganze kindgerecht und ehrlich rübergebracht, kann den ersten Schock der Trennung beim Kind etwas mildern. Vergessen Sie weichgespülte Lügerei: Kinder haben feine Antennen für Unwahrheiten und haben Ihre Streitereien oder Beziehungskälte sowieso längst mitbekommen.

Kinder, die nach der Scheidung ihrer Eltern laut Hetherington-Studie weniger psychische Auffälligkeiten zeigten, hatten Eltern, die sich an folgende Regeln hielten:

  1. Niemals schlecht über den abwesenden Partner reden
  2. Kind nicht als „Spion“ instrumentalisieren
  3. 100-prozentig zuverlässig Versprechungen einhalten
  4. Zwistigkeiten zum Wohle des Kindes unter Erwachsenen austragen, nicht über das Kind
  5. Neuer Partner ist nicht Vater- oder Mutter-Ersatz

Wer wohnt wann wo? Und bei wem?

Lässt sich die Beziehung partout nicht retten, steht meist ein Umzug an   – für viele Kinder ein weitere Verlust. Es folgt meist eines dieser drei Past-Splitting-Modelle:

  1. Das Residenzmodell: Das Kind wohnt überwiegend bei einem Elternteil und besucht 14-tägig den anderen   – wie unser zugfahrender Marius. Das Problem: Häufig reißt der Kontakt mit dem fernen Elternteil mit der Zeit ab   – für Kinder die schlimmste Konsequenz von Trennung und Scheidung. Häufig ist das Residenzelternteil auch überlastet. Die Folge: Streit und Ärger durch Stress.
  2. Das Wechselmodell: Das boomt gerade. Hier teilen sich Eltern die Kinderbetreuung zu gleichen Teilen auf. Die Kinder pendeln entweder wöchentlich oder alle drei Tage zwischen Mutter und Vater. Vorteil für Kids: die emotionalen Bindungen zu beiden Elternteilen bleiben.
  3. Das Nestmodell: Die Kinder bleiben in der alten Wohnung, die Eltern pendeln. Prima Idee! Der Vorteil: Kinder werden nicht aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen. Beide Elternteile arbeiten, beide leisten einen gleich großen Teil der Erziehungsarbeit, beide behalten eine enge Bindung zu ihren Kindern. Der Nachteil: sehr teuer durch das Mieten von drei Wohnungen. Und manchmal durch die Jobs oder fortgesetzte Abscheu zwischen den beiden Elternteilen in der Realität nicht machbar.

Zurück zu Marius und der Zugfahrt… Marius pendelt wie ein Profi zwischen Hamburg und Stuttgart, zwischen Mami und Papi. Wie ich ihm so gegenübersitze, habe ich dieses irrationale Gefühl, irgendwie ist Marius nirgendwo richtig zu Hause, er ist irgendwie immer bei seinen Eltern zu Besuch. Ob er deshalb schon so überraschend erwachsen wirkt?

Michael Thiel

Diplom-Psychologe Michael Thiel   – 1960 in Hamburg geboren   – studierte u.a. Kommunikations-, Gesprächs- und Verhaltenstherapie in Hamburg sowie systemische Kurzeittherapie in den 90er Jahren bei Paul Watzlawick in Palo Alto, USA. Seitdem arbeitet er als Therapeut mit Erwachsenen, Paaren und Familien. Im TV sieht man ihn als Moderator und Experte. Sein 1991 mit Annika Lohstroh gegründetes Medienbüro Lohstroh+Thielversorgt Printmedien, TV und Radiosender u.a. mit psychologischen Beiträgen und Hintergrundwissen. Mit „Die Kraft der Klarheit“ erschien deren letztes Buch im Gräfe und Unzer Verlag. Seit 2011 ist Thiel außerdem Dozent für Psychologie an der Europäischen Medien- und Business Akademie EMBA sowie Mental Coach des TV Formats „The Voice of Germany“.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling


Quelle: Die Neu-Erfindung der Familie
http://atkearney361grad.de/orientierung/nomadenkinder/
http://www.medienbuero-lt.de/Medienburo_Lohstroh_+_Thiel/Home.html