Die zu häufige Nutzung digitaler Medien vermindert die geistige Leistungsfähigkeit unserer Kinder

26. Februar 2013

Psychiater und Gehirnforscher Manfred Spitzer warnt Eltern und Erzieher

von Dipl.-Psych. Dr. Rudolf Hänsel, Lindau/Bodensee

Der Neurowissenschaftler und ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, Professor Manfred Spitzer, löste mit seinem neuen Bestseller «Digitale Demenz.

Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen» und seinen pointierten Thesen ein heftiges Presseecho aus. Spitzer hat in seinem Buch bisherige Erkenntnisse seriöser Medienwissenschaftler, dass die zu häufige Nutzung des Internets dumm machen kann, durch viele neurologische Befunde untermauert und durch neue Erkenntnisse ergänzt. Die jugendlichen und erwachsenen Internetnutzer selbst hat er nie verunglimpft. Auf die gehässigen Angriffe der Presse erwiderte er in einem Interview: «Ich pathologisiere nicht, sondern stelle fest: Wo es Wirkungen gibt, sind auch Risiken und Nebenwirkungen.»1 Spitzer warnt aber nicht nur, er zeigt auch auf, was Eltern, Lehrpersonen und Politiker zum Schutz unserer Jugend tun können.

Dass frühkindlicher und häufiger Fernsehkonsum, das stundenlange Spielen von Computer- und Killerspielen, das pausenlose Telefonieren und Simsen mit dem Handy, die unbekümmerte Verbreitung persönlicher Gefühle, Gedanken und Fotos in sozialen Netzwerken zu negativen Auswirkungen auf Gefühle, Gedanken, Verhalten und die sozialen Kontakte von Kindern und Jugendlichen führen können, ist ja keine neue Erkenntnis. Seriöse Medienwissenschaftler und verantwortungsvolle Pädagogen, Jugendrichter oder leidgeprüfte Eltern internetsüchtiger Jugendlicher weisen schon seit etwa zwei Jahrzehnten auf die unerwünschten Folgen exzessiver Mediennutzung hin. Der Neurobiologe Manfred Spitzer hat die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dieser Thematik in seinem neuen Buch gut verständlich zusammengefasst, durch neuere gehirnphysiologische Forschungsergebnisse ergänzt und mit seiner Warnung, dass die zu häufige Nutzung digitaler Medien uns und unsere Kinder um den Verstand bringt, öffentlich Alarm geschlagen.

Von den digitalen Medien zur digitalen Demenz

Spitzer zitiert zu Beginn seines Buches den amerikanischen Publizisten und Internet­experten Nicholas Carr, der seine negativen Erfahrungen mit dem Internet so beschreibt: 

«Das Netz scheint mir meine Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation zu zerstören. Mein Geist erwartet nun, Informationen in genau der Weise aufzunehmen, wie sie durch das Netz geliefert werden: In Form eines rasch bewegten Stroms kleiner Teilchen [...] Meine Freunde sagen dasselbe: Je mehr sie das Netz benutzen, desto mehr müssen sie kämpfen, um sich auf das Schreiben längerer Abschnitte zu konzentrieren.»

(S. 14)

Ärzte aus Südkorea, einem hochmodernen Industriestaat mit der wahrscheinlich höchsten Mediatisierung überhaupt, konstatierten bei ihren jungen Erwachsenen vor fünf Jahren nicht nur ähnliche Phänomene, wie sie der erwachsene Intellektuelle aus den USA schildert, sondern darüber hinaus auch Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen, emotionale Verflachung und Abstumpfung und Probleme beim Lesen von Texten. Da die Betroffenen angaben, Computer und Internet sehr intensiv zu nutzen, stellten die Ärzte einen kausalen Zusammenhang her und nannten das Krankheitsbild «digitale Demenz».

Nach Spitzer verändern die digitalen Medien   – Computer, Smartphones, Spielkonsolen und das Fernsehen   – nicht nur unser Leben, sondern sie bringen uns und unsere Kinder regelrecht «um den Verstand», befördern einen Prozess des «geistigen Abstiegs» (Demenz). In vielen Kapiteln beschreibt er diesen neurologischen Prozess und zeigt auf, wie sich die Struktur des dynamischen «Informationsverarbeitungssystems» Gehirn den wechselnden Anforderungen anpasst, wie die Auslagerung des Denkens auf Maschinen dem Gehirn schadet und wie dieses dynamische Organ bei ausbleibendem Training bzw. Input verfällt. 

Auf die Frage, welche Auswirkungen diese digitale Welt langfristig haben wird, hielten knapp die Hälfte von über 1000 Internetexperten einer amerikanischen Online-Befragung Ende Oktober 2011 die folgende pessimistische Aussage über die Zukunft des Internets und dessen Folgen für die geistigen Fähigkeiten der nächsten Generation für zutreffend:

«Im Jahre 2020 werden die Gehirne von Multitasking betreibenden Teenagern und jungen Erwachsenen [die verschiedene Tätigkeiten gleichzeitig erledigen, R.H.] anders ‹verdrahtet› sein als die Gehirne der Menschen über 35 Jahren, und dies wird insgesamt böse und traurige Auswirkungen haben. Sie können sich nichts mehr merken, verbringen die meiste Energie damit, kurze soziale Nachrichten auszutauschen, mit Unterhaltung und mit Ablenkung von einer wirklich tiefen Beschäftigung mit Menschen und Erkenntnissen. Die Fähigkeit zum grundlegenden Nachdenken haben sie nicht, die zur wirklichen Gemeinschaft von Angesicht zu Angesicht auch nicht. Sie hängen vielmehr in einer sehr ungesunden Weise vom Internet und mobilen Endgeräten ab, um überhaupt zu funktionieren. In der Summe führen die Veränderungen des Verhaltens und Denkens bei den jungen Leuten ganz allgemein zu negativen Auswirkungen.»

(S. 207)

Schöne neue Computerwelt!

Mediennutzungszeiten vom Baby- bis zum Jugendalter

Der Jahresbericht der Suchtbeauftragten der Bundesregierung vom 22. Mai 2012 führt auf, dass in Deutschland etwa eine viertel Million der 14- bis 24jährigen internetabhängig ist und 1,4 Millionen als problematische Internetnutzer gelten. Das ist eine Verdreifachung der Spielsucht innerhalb von nur fünf Jahren. Betroffen seien vor allem arbeitslose junge Männer. (S. 7) Unsere Jugendlichen, so Spitzer, verbringen täglich doppelt so viel Zeit mit Medien wie mit dem gesamten Unterricht. Aber nicht nur Jugendliche sind den digitalen Medien verfallen. Spitzer verweist auf das Ergebnis einer Umfrage bei 729 Müttern aus dem Jahr 2007. Danach durften schon damals

«13 Prozent der unter Einjährigen, 20 Prozent der Einjährigen, 60 Prozent der Zweijährigen und 89 Prozent der Dreijährigen fernsehen».

(S. 139)

Auch das Resultat einer eigenen Recherche Spitzers ist kaum zu glauben: In Deutschland sitzen 

«um 22 Uhr noch 800 000 Kinder im Kindergartenalter vor dem Fernseher, um 23 Uhr sind es noch 200 000, und selbst um Mitternacht schauen noch 50 000 Kinder unter sechs Jahren fern».

(S. 139)

Die Kinder würden eben das nachahmen, was ihnen ihre Eltern vormachen, resümiert Spitzer.

Eine Mattscheibe ist weder ein guter Babysitter noch ein guter Lehrer

Lesen Sie hier bitte den vollständigen Bericht aus Zeit-Fragen, es lohnt sich   – und lesen Sie auch das Buch!

Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1170  

Autorentext

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, geboren 1958, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie und habilitierte sich anschließend für das Fach Psychiatrie. Zweimal war er Gastprofessor an der Harvard University. Er leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter die Bestseller "Lernen" und "Vorsicht Bildschirm!". Auf Bayern Alpha moderiert er wöchentlich die Sendereihe "Geist & Gehirn". Manfred Spitzer ist einer der bedeutendsten deutschen Gehirnforscher. Kaum jemand kann wissenschaftliche Erkenntnisse derart unterhaltsam und anschaulich präsentieren.

Klappentext 

Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab. Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt. Das birgt immense Gefahren, so der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer. Die von ihm diskutierten Forschungsergebnisse sind alarmierend: Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab, und nachwachsende Zellen überleben nicht, weil sie nicht gebraucht werden. Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Die Folgen sind Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung und plädiert vor allem bei Kindern für Konsumbeschränkung, um der digitalen Demenz entgegenzuwirken.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling