Beruf: Diagnosenerfinder

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21. September 2015
Die Industrie verdient gut, wenn viele Menschen krank sind. Nicht selten hört sie deshalb den Vorwurf, sie würde Krankheiten erfinden, die sich gut mit ihren Wirkstoffen vermarkten lassen. Ihr allein den schwarzen Peter für „Lifestyle-Leiden“ zuzuschieben, ist jedoch zu kurz gedacht.

Der Arzt, der nichts tut, weil es die beste Option ist, kommt häufig nicht gut an: Denn Patienten wollen meistens, dass etwas getan wird. Unter Internisten und Chirurgen schon lange ein großes Thema, ist das „Weniger“ nun auch in der Allgemeinmedizin angekommen: Bei einem Wechsel zu einem anderen Hausarzt wundern sich gerade ältere Patienten mitunter, dass der erst einmal viele der vermeintlich unentbehrlichen Medikamente absetzt .

Disease Mongering   – Umsatz durch Krankheit

Leben wir in einem Zeitalter der Übermedikalisierung mit vielen unnötigen Operationen? Mit multiplen Medikamentenverordnungen, bei denen das Risiko gefährlicher Neben- und Wechselwirkungen höher als deren Nutzen ist? Sind es die „bösen Pharmafirmen“, die Befindlichkeitsstörungen zu behandlungsbedürftigen Krankheiten machen, um mit geeigneten Wirkstoffen die Lebensqualität zu „optimieren“?

Experten kennen den Begriff „Disease Mongering“, die großzügige Ausweitung der Grenzen zwischen Gesunden und Kranken, sodass sich Marktchancen für jene ergeben, die Therapien verkaufen und am Patienten anwenden. Heftig wird dementsprechend über die schnelle Zunahme an Diagnosen für ADHS gestritten, aber auch die Zahl oft unnötiger operativer Eingriffe etwa in der Orthopädie. Für die „Wechseljahre des Mannes“ gibt es ebenso wie für das Burnout-Syndrom keine standardisierte Diagnostik, eine medikamentöse Therapie erhöht jedoch oft das Risiko für verschiedene Erkrankungen oder psychische Störungen.

Pillen statt Lebensstilveränderung

Einen guten Überblick über die Entwicklungen von Modekrankheit und die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit lieferte vor einigen Monaten eine Diskussion im Deutschen Ethikrat. Er hatte ein halbes Dutzend Experten zu diesem Thema eingeladen und ließ sich sowohl über Probleme mit „beliebten“ Krankheiten in der Vergangenheit als auch über deren aktuelle Bedeutung berichten.

Der Medizinhistoriker Michael Stolberg stellte dabei dar, dass es immer schon „Modekrankheiten“ gegeben habe. Im 16. Jahrhundert erklärte man sich das Gefühl eines Kloßes im Hals mit einer „aufsteigenden Gebärmutter“. Die Aufzeichnungen lassen darauf schließen, dass dies damals die häufigste Beschwerde bei Frauen überhaupt gewesen sei. Nachdem die Theorie von der Periode als „Reinigungsmittel“ für den Körper vom Tisch war, häuften sich auch die dadurch verursachten Beschwerden. Der Übergang von Hysterie und Hypochondrie zum wirklichen Leiden war schon früher fließend und sehr stark von der kulturellen Umgebung beeinflusst.

Das Thema „Disease Mongering“ stellte Gisela Schott von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft dar. Nur allzu oft würden   – auch in Werbeanzeigen   – unberechtigte Sorgen von Menschen vor einer drohenden Krankheit geschürt und normale Entwicklungsprozesse des Lebens zu bedrohlichen Leiden gemacht   – zugleich mit dem hauseigenen Therapievorschlag. Ein Beispiel? In Berlin lief wochenlang eine „Awareness“-Plakataktion für chronische Migräne. Rund 50.000 Menschen wüssten nichts von ihrem Leiden. Der Test auf der beworbenen (Firmen-)Webseite riet völlig unabhängig vom Ergebnis zum Arztbesuch. Dass solche „Krankheits-Erfindungen“ ein bewährtes Marketing-Werkzeug der Pharmaindustrie sind, bestätigte auch Jörg Blech, Medizinjournalist beim Spiegel. Die entsprechenden Grenzwerte, etwa bei einem „Testosteronmangel“, würden nicht selten von Experten festgelegt, die enge Verbindungen zur Industrie pflegten. Andererseits, so Schott, beruhige eine Pille auch die Patienten mit „Lifestyle-Beschwerden“: Sie machten dann die Krankheit dafür verantwortlich und nicht ihr Verhalten. Viel angenehmer als die Änderung ihres Lebensstils sei die tägliche Medikamenteneinnahme.

„Modeleiden“ Testosteronmangel?

Urologe Lothar Weissbach von der Stiftung Männergesundheit sah die Gefahr einer Überdiagnose und Übertherapie, würden sich die Ärzte nur mehr nach Grenzwerten des Laborbefunds richten und so aus Gesunden Behandlungsbedürftige machen. Rund 15 bis 20 Prozent der Männer im fortgeschrittenen Alter weisen niedrige Testosteronwerte auf, sind deswegen noch lange nicht krank. Nicht selten erzeugen Komorbiditäten Symptome, die auch auf einen niedrigen Hormonspiegel schließen lassen, deswegen aber nicht spezifisch für ihn sind. Auf der Website „Testosteron.de“ bietet ein Hersteller von Hormonpräparaten einen entsprechenden Test an, der schon bei leichten Unpässlichkeiten zum Arztbesuch rät. Zwischen 2003 und 2011 stieg die Verordnung von Testosteron-Gelen um das Dreifache auf rund 400.000 Tagesdosen pro Jahr an. Den Grenzwert legte im Jahr 2000 eine Arbeitsgruppe fest. Die Folge: Jeder fünfte   – auch gesunde   – ältere Mann weist einen „Testosteronmangel“ auf. Entsprechend Angaben des amerikanischen Instituts für Altersforschung könnte die so definierte Unterversorgung sogar bis zu „50 Prozent der älteren Männer zu Kandidaten“ für eine Testosteronersatztherapie machen.

Jeder fünfte Junge mit ADHS

Ähnliche Zahlen finden sich im Bereich psychischer Erkrankungen, die nicht immer leicht zu diagnostizieren sind. ADHS ist ein Beispiel dafür. Wurden 1995 noch 58 Kilogramm Methylphenidat an die Apotheken ausgeliefert, so waren es fünfzehn Jahre später 1.800 Kilogramm. Die Diagnoserate für „hyperkinetische Störungen“ stieg von 2006 bis 2011 um knapp 50 Prozent auf 4,1 Prozent. Rund die Hälfte der Betroffenen wurde pharmakologisch behandelt. Aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie ist dieser Wert durchaus plausibel. Der Anteil von 20 % aller Jungen, die im Jahre 2000 geboren wurden und die laut GEK-Report im Alter von 6 bis 11 ein solche Prognose bekamen, erscheint jedoch selbst den Experten der Fachgesellschaft rätselhaft. Möglicherweise, so spekuliert man dort, kümmerten sich etliche Ärzte nicht um die Leitlinien des Verbands.

„Die heute heranwachsende Generation wird in allem Ernst mit der Botschaft konfrontiert, noch nie sei eine Generation so sehr von seelischen Erkrankungen bedroht gewesen“, sagt der Mediziner und Soziologe Norbert Schmacke vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen. Eine systematische Übersicht aus dem Jahr 2008 mit 44 Einzelstudien zeigt dabei eher das Gegenteil: Weder allgemeine psychische Störungen noch spezifische Leiden haben seit Mitte des 20. Jahrhunderts zugenommen.

Krankheitstreiber: Empfindliche Diagnostik und Über-Prävention?

In einem Artikel [Paywall] für das British Medical Journal hat Ray Moynihan einige der Treiber für die (Über-)Medikalisierung ausgemacht, die Gesunde zu Kranken macht: Unter dem Titel „Preventing overdiagnosis: how to stop harming the healthy“ führt er aus, dass immer sensiblere Diagnostik feinste Abweichungen von der Norm erkennen könne. „Zumindest einige Patienten und ihre Ärzte“, so Moynihan, „möchten lieber das Risiko des Nichtstuns vermeiden, auch dann wenn das bedeutet, eine signifikante Kohorte von Leuten zu behandeln, die dadurch keinen Nutzen hat oder denen das sogar schadet.“ Prävention statt Warten auf den Ausbruch der Krankheit. Dieses Motto, falsch verstanden, kann genauso eine Überaktivität von Ärzten oder Patienten auslösen, die sich auf diese Weise gegen kommende Bedrohungen versichern wollen. Nicht immer senkt etwa eine frühe Diagnose die Mortalitätsrate signifikant, das zeigen etwa die Diskussionen zum Mammo­graphie-Screening. Ein Zuviel an Screening auf bestimmte Krankheiten findet in der Gesellschaft aber bisher wenig Gehör. Kein Wunder, dass sich nicht nur die Pharmaindustrie goldene Zeiten von zukünftigen Routine-Genomanalysen erhofft. Die Grenzen zwischen „krank“ und „gesund“ zu ziehen, dürften diese Tests nicht gerade leichter machen. Großzügig gesetzte Grenzwerte erhöhen den Umsatz.

Lösungsansätze

Generelle Lösungen für das Problem scheint es nicht zu geben, jedoch einige viel versprechende Ansätze: In der Lombardei [Paywall] stiegen die Fälle von ADHS nicht weiter an, als dort eine Registrierungsstelle und 18 Referenzzentren errichtet wurden. Mit Fortbildung und Überwachung von Diagnose und Behandlung sank der Anteil der pharmakologischen Therapie zwischen 2001 und 2012 von 24 auf 16 Prozent. Hierzulande versuchen immer mehr ärztliche Fachgesellschaften ihre Verbindungen zur Industrie einzuschränken oder zumindest transparent zu machen. Unabhängige Studien könnten auch den unnötigen Ressourcenverbrauch eindämmen: Lothar Weißbach schlug dem Ethikrat vor, über einen Gesundheitsfonds nach italienischem Muster nachzudenken, der weitaus mehr Studien ohne gezieltes Pharma-Sponsoring möglich machen würde.

Der Grat zwischen unterlassener Hilfeleistung und Überaktivität im medizinischen Bereich ist zuweilen ziemlich schmal. Das wissen auch die Internisten, die in Mannheim beschlossen, bis zum Ende des Jahres ein komplettes Paket der Top 5 für ein Zuviel an Diagnostik und Therapie genauso wie für ein Zuwenig aus den verschiedenen internistischen Untergruppierungen zu erstellen. Ein anklagender Blick auf die böse Pharmaindustrie wird an der Situation wenig ändern. Zwei Statements vom Kongress in Mannheim verdeutlichen, dass die Ärzte willens sind, eine Reform auch selber voranzutreiben. „Es ist wichtig, dass die Ärzte jetzt die Initiative ergreifen“, so die Wiesbadener Internistin Elisabeth Märker-Hermann, „bevor uns die Politik mit Gesetzen und Vorschriften zuvorkommt.“ Auf den Punkt brachte es schließlich Michael Hallek aus Köln: „Man muss als Arzt sehr viel wissen, um wenig zu tun.“

Kommentar:

Dr. med. Wolf Büntig empfiehlt den Artikel

Erfinder des ADHS: «ADHS ist eine fabrizierte Erkrankung»

von Moritz Nestor in Zeitfragen

Darin berichtet der Autor Moritz Nestor über die Stellungnahme der schweizerischen Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin vom 22. November 2011 mit dem Titel: Über die «Verbesserung» des Menschen mit pharmakologischen Wirkstoffen, die sich sehr kritisch mit der Verwendung des ADHS-Medikaments Ritalin befasst. Das sei ein Eingriff in die Freiheit und die Persönlichkeitsrechte des Kindes, denn das Kind lerne unter Chemie nicht, wie es sein Verhalten selbst ändern könne. Damit würden ihm wichtige Lernerfahrungen für eigenverantwortliches und mitmenschliches Handeln vorenthalten. …
Nach ausführlicher Diskussion gekaufter Forschung durch Ärzte mit einträglichen Verbindungen zur Pharmaindustrie kommt der Autor zu dem Schluss, “Psychologen, Pädagogen und Ärzte sind nicht dazu da, Kinder an die «chemische Leine» zu legen, weil die ganze Gesellschaft mit den Produkten ihrer verfehlten Theorien vom Menschen und der Kindererziehung nicht fertig wird und statt dessen unsere Kinder dem freien Pharmamarkt überantwortet. Erinnern wir uns wieder an die Grundsubstanz personaler Psychologie und Pädagogik: Das Kind soll unter kundiger Führung eigenverantwortliches und mitmenschliches Handeln erwerben   – und dazu braucht es die Familie und die Schule: In diesen Feldern soll es seelisch reifen können. Das macht den Kern der menschlichen Person aus”.
Schützenhilfe für die alarmierten Kritiker der Ritalin-Katastrophe erfährt Moritz Nestor in der Titelgeschichte des SPIEGEL vom 6.2.2012 vom wissenschaftlichen Vater von ADHS, dem US-amerikanischen Psychiater Leon Eisenberg, der die Explosion der Verschreibungen von Medikamenten mit wachsendem Entsetzen verfolgte und in seinem letzten Interview im Alter von 87 Jahren sagte: “ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung”.

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling

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Quelle: Zeit-Fragen, Nr. 8 vom 20.2. 2012
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=690
DocCheck
http://news.doccheck.com/de/88424/beruf-diagnosenerfinder/#comment-50144