Buchempfehlung Künstliche Künstler
Es erklärt eine Art Scheinwelt, die sich zwischen der Realität und dem Menschen, z.B. dem passionierten Gamer, zu etablieren beginnt: Die Welt der Simulation. Brisantestes Beispiel ist die so genannte künstliche Intelligenz. Sie behauptet, menschliche Eigenschaften nachbilden zu können. Dieser kecke Anspruch konfrontiert uns mit alten und neuen Fragen: Können Maschinen tatsächlich lernen? Sind sie gar intelligent? Kann ein Roboter mehr sein als Drähte, Transistoren und Programme? Und last but not least: Wer sind wir – die Menschen?
Zum Autor
Paul A. Truttmann promovierte an der ETH Zürich in Hochenergiephysik. Anschliessend studierte er Psychologie und Pädagogik an der Uni Zürich. Über dreissig Jahre lang unterrichtete er an einem Gymnasium Physik, Mathematik, Informatik und Psychologie und wirkte als pädagogisch-didaktischer Berater an der Uni und der ETH Zürich. Seit über vier Jahrzehnten berät er zudem in seiner psychologischen Praxis Menschen jeden Alters und jeglicher beruflicher Ausrichtung. Daneben bildet Paul A. Truttmann seit den neunziger Jahren in eigenen Weiterbildungsprogrammen an Fachhochschulen Führungskräfte aus und coacht sie. Der Autor verfügt nicht nur über ein enorm breites und fundiertes Fachwissen, sondern vermag auch wie kaum ein anderer die beiden Welten zusammenzuführen, die sich beim Thema dieses Buches verbinden: die Natur- und die Geisteswissenschaften.
Leseprobe: Einleitung des Buches Teil I: Grundlagen
1 Die Provokation Künstliche Intelligenz
Die so genannte Künstliche Intelligenz, die Frage nach menschenähnlichen Robotern, übt auf uns eine grosse Faszination aus: Die einen entwickeln Horrorszenarien von einer Intelligenzexplosion, die innert Tagen superintelligente Roboter hervorbringe, die den Menschen dann ausschalten. Andere phantasieren euphorisch Szenarien, wonach der Mensch ein gottähnliches Wesen schaffen und wir ab ca. 2045 in eine Phase des „Transhumanismus“ eintreten werden. All das basiert auf dem Glauben, dass lernende Maschinen angeblich intelligent sein könnten.
1.1 Was ist eigentlich das spezifisch Menschliche?
Können Maschinen tatsächlich lernen? Sind sie gar intelligent – eventuell sogar intelligenter als Menschen? Kann ein Roboter mehr sein als Drähte, Transistoren und Programme? Kann er Neues schaffen? Kann er gar kreativ sein? Kann ein Roboter denken? Kann er dann auch ein Selbstbild, ein Bewusstsein und eventuell eigene Interessen entwickeln? Und wenn nicht, ist Denken ohne Bewusstheit möglich? Stehen wir also vor einer nächsten Stufe der Evolution?
Roboter oder künstliche Intelligenz (KI) fordern uns ziemlich stark heraus. Viele Menschen fühlen sich überfordert und reagieren mit einer plumpen Antwort, zum Beispiel der Mensch sei interessanter als eine Kombination von 0 und 1. Wenn wir die Fragen aber ernst nehmen, lernen wir mehr über uns selbst als über Naturwissenschaften und Technik. Wir müssen über die menschliche Art nachdenken – und werden auf einige Beschränkungen stossen, bei denen uns Roboter überlegen sind. Und wir sind mit der Jahrhunderte alten Frage konfrontiert: Wer bin ich – und wer sind wir, die Menschen?
1.2 Das Verhältnis von Geist und Materie experimentell erkunden?
Wenn Roboter intelligent sein könnten, sind wir auch mit einer anderen Menschheitsfrage konfrontiert: dem Verhältnis von Materie und Geist. Von jeher bewegt sie die Philosophie. Durch Neurowissenschaften und die KI nähern wir uns dem Geist auf experimentelle Weise. Die philosophischen Fragestellungen zum Verhältnis von Geist und Materie werden dadurch einer empirischen Erforschung zugänglich. Indem wir den Geist in einem Computer zu simulieren versuchen, lernen wir mit einer typisch naturwissenschaftlichen Methode diesem Verhältnis auf die Schliche zu kommen. Das könnte spannend werden.
Traditionell hat man angenommen, dass die Materie deterministisch und nur der Geist frei sei – das heisst, die Freiheit und die Kreativität wurden durch ein Hintertürchen, den so genannten Dualismus, eingeführt. Kann es denn Freiheit geben ohne diesen Zaubertrick? Die Theorie der komplexen Systeme (die «Chaos»-Theorie) wirft ein neues Licht auf das Verhältnis von Geist und Materie. Sie beschreibt, unter welchen Umständen selbst einfache physikalische Systeme unvorhersehbares Verhalten zeigen. Ein solcher Prozess könnte als Ursprung von Freiheit und Kreativität gelten.
Freiheit ist – wie viele andere Wörter auch, die wir antreffen werden – ein schwieriger Begriff. Vielleicht ist er gerade deshalb so schwierig, weil er uns so vertraut scheint. Was wir unter Freiheit – und anderen Begriffen wie Determinismus usw. – verstehen wollen, müssen wir miteinander im Folgenden aushandeln. In diesem Text wird es nicht darum gehen, wie wir Freiheit erringen können, sondern nur darum, ob ein materielles System, auf dem auch wir Menschen fussen, uns eine Freiheit überhaupt gewährt.
1.2.1 Sind Information und Materie äquivalent?
Als Leserin und Leser dieses Buches werden Sie ab und zu ziemlich gefordert. Wenn Sie aber die Geduld haben, uns Naturwissenschaftlern etwas länger zuzuhören, dann werden Sie Erstaunliches lernen. Es gibt moderne Physikerinnen und Physiker der Quantengravitation, die zum Beispiel der Meinung sind, Information und Masse seien äquivalent (Lyre 2002, S. 81). Was heisst das? Die meisten Menschen kennen die Formel der beiden Einstein (Mileva und Albert): E = mc2.
Sie drückt eine Äquivalenz aus, setzt Energie E und Masse m gleich. Sie ist Grundlage z.B. der Kernspaltung. Sind Information und Masse äquivalent, könnte man sie ineinander überführen und sogar ein Mass angeben, wie viel Information in einem Kilogramm Materie höchstens enthalten sein könne. Damit öffnet sich ein Weg, den jahrhundertealten Gegensatz zwischen Geist und Materie aufzulösen; aus dem Dualismus wird ein Monismus. Die philosophischen Diskussionen hinken den wissenschaftlichen Erkenntnissen oft etwas hinterher. Ich will einen Beitrag leisten, diese Kluft zu schliessen.
1.2.2 Ist Information beschränkt?
Dabei werden wir uns immer wieder mit dem Begriff der Information auseinandersetzen müssen. Information spielt eine wesentliche Rolle bei unseren naturwissenschaftlichen Modellen der Welt im Kleinen und im Grossen. Wir Naturwissenschaftler sollten uns fragen, ob die Natur beliebig viel Information liefert, und wenn nein, durch welche Prinzipien Information beschränkt wird. Eine solche Diskussion führt dann in schwer verständliche Gebiete wie Quantenmechanik, Heisenberg‘sche Unschärfe und Schwarze Löcher. Im Laufe des Buches und seiner Anhänge werden Sie hoffentlich ein bisschen vertrauter werden mit diesen Konzepten.
Natürlich werden Sie einwenden: Information ist nicht gleich Geist. Einverstanden. Aber der Träger bei der Übermittlung von Geist ist sie schon. Wir haben noch viel zu tun, weil auch hier eine Kluft besteht: Zwischen dem so genannten nachrichtentechnischen Informationskonzept und dem semiotischen. Letzteres gehört zu den Geistes- oder Sozialwissenschaften und beschäftigt sich mit Zeichen, zum Beispiel in Form von Wörtern und deren Bedeutung.
1.3 Was Sie erwarten dürfen
1.3.1 Die Struktur des Textes
In diesem Text will ich aus den grossen Themenkreisen um die künstliche Intelligenz zwei Fragen genauer untersuchen: Können Maschinen intelligent oder eventuell gar kreativ sein? Ist Kreativität nicht etwas typisch Menschliches, das Computer nie und nimmer erreichen können? Dazu müssen wir zuerst einige Schlüsselbegriffe klären und dann versuchen, das eigentlich Neue an den Strategien der KI zu identifizieren, z.B. den Versuch, Grundfunktionen des menschlichen Gehirns nachzubilden. Dabei spielen künstliche neuronale Netzwerke wie gesagt eine Schlüsselrolle. Damit befasst sich Kapitel 2.
Dann werden wir intensiv über den Zusammenhang von Information und Materie nachdenken müssen: Kann aus einer materiellen Grundlage von Drähten und Transistoren mittels eines Programmes neue Information entstehen? Oder ist das Neue eigentlich schon in den Grundbausteinen „versteckt“? Ich werde Ihnen zeigen, dass sich diese Frage nicht nur beim menschlichen Gehirn stellt, sondern bei so simplen physikalischen Dingen wie einem Pendel. Das wird Gegenstand des Kapitels 3 sein. Dieses Kapitel ist oft ziemlich mathematisch. Lassen Sie sich von den schwierigen Gedanken nicht abschrecken. Wenn Sie technische Fragen nicht so stark interessieren, genügt es, das Unterkapitel 3.5 zu lesen, um die Quintessenz aus diesem Kapitel zu verstehen.
Beim Menschen haben wir nicht nur ein Gehirn vor uns, sondern einen Organismus aus Fleisch und Blut. Wieso spielt der Körper beim Geist eine so grosse Rolle? Und wie kommt der Geist eigentlich ins Gehirn? Und last but not least: Menschen bewerten das, was sie erleben. Wie geht das und könnte es ein Computer auch? Teil II des Buches wird diese Grundfragen nur andenken können und regt Sie als Leserin vielleicht an, sich an den unglaublich interessanten Diskussionen unserer Zeit zu beteiligen.
Wenn wir zum Schluss gelangen, dass KI auch nur wenige Züge trägt, die auch Menschen charakterisieren, müssten wir dann nicht auch von KI ein ethisches Verhalten fordern? Und was müsste dies sein? Sollten wir z.B. fordern, auf die Fragilität und Gebrechlichkeit des Menschen Rücksicht zu nehmen? Darüber werden wir in Kapitel 8 nachdenken. Welche ethischen Normen fordern wir von uns und müssten einige davon auch für so genannte rationale Agenten (Roboter) gelten?
1.3.2 Die Anhänge: formale Beschreibung
Ich habe lange an der Schnittstelle zwischen Gymnasium und Universität unterrichtet. Vielen Studierenden fällt es schwer, den Übergang zu den stark formalisierten Darstellungen eines Stoffgebietes auf universitärem Niveau zu schaffen. Ich habe deshalb für die wichtigsten Konzepte, die ich in diesem Text aufgreife, auch einen Weg ausgearbeitet, wie man mit einer anschaulichen Begrifflichkeit einen Zugang zur formalen Beschreibung findet. Diese Texte können von der Internetseite des Verlags heruntergeladen werden. Ich verweise auf sie mit entsprechenden Fussnoten.
Leseprobe 2
In diesem Text will ich Sie als Leserin mit fünf sprachlichen Bildern, so genannten Metaphern, bekannt machen. Sie dienen dem obgenannten Ziel, einem interessierten Menschen einen anschaulichen Zugang zu einem schwierigen Konzept zu ermöglichen. /…/
1.3.7 Achilles und die Schildkröte
Als fünfte Veranschaulichung für ein sperriges Problem argumentiere ich mit der historischen Metapher von Achilles und der Schildkröte. Zenon und die eleatische Schule (5. Jh. v. u. Z.) erschütterten damit die Selbstgewissheit ihrer Zeitgenossen. Mit heutigen Worten würden wir das Problem folgendermassen formulieren: Eine Schildkröte hat 100 Meter Vorsprung und Achilles, der Usain Bolt der Antike, versucht sie zu überholen. Gehen wir davon aus, dass Achilles die 100 Meter in 10 Sekunden zurücklegt und die Schildkröte mit 1 Meter pro Sekunde kriecht. Die Denker um Zenon behaupteten nun, Achilles könne die Schildkröte nicht überholen: Wenn der Sprinter nämlich an der Stelle angelangt ist, an der die Schildkröte startete, ist diese bereits weitergekrochen. Nach 10 Sekunden befindet sie sich bei 110 Metern. Wenn Achilles nach 11 Sekunden dann auch bei diesen 110 Metern angekommen ist, ist die Schildkröte bereits wieder weiter: bei 111 Metern. Nach 11.1 Sekunden ist sie abermals weiter… usw. Achilles kann die Schildkröte nicht überholen. Jeder weiss, dass das ein Unsinn ist, aber wie lösen wir das gestellte Problem?
Wir wollen dieses Gedankenexperiment nun in zwei verschiedenen Computern simulieren: einem analogen, wie z.B. dem menschlichen Gehirn, und einem digitalen, der mit Zahlen rechnet und sie in Bits und Bytes darstellt. Den analogen Computer stelle ich mit zwei hohen Reagenzgläsern dar: links eines für Achilles und rechts eines für die Schildkröte. Am Boden sind die beiden Reagenzgläser mit einem Röhrchen verbunden, das eine Klappe enthält, die sich nach rechts öffnen kann. Die Reagenzgläser können mit Wasser gefüllt werden und – pour fixer les idées – stellen wir uns vor, jeder Meter des Weges entspreche einem Millimeter Wassersäule. Zu Beginn ist das rechte Reagenzglas mit 100 mm Wasser gefüllt und das linke ist leer. Die Klappe ist geschlossen, weil das Wasser von rechts gegen sie drückt. Nun wird Achilles’ Säule mit 10 Millimetern pro Sekunde (langer Pfeil) gefüllt und die der Schildkröte nur mit 1 Millimeter pro Sekunde (kurzer Pfeil). Achilles überholt die Schildkröte, wenn sich die Klappe öffnet. Das heisst, wenn die Wassersäule links höher ist als die rechts. Dann fliesst Wasser von links nach rechts. So funktioniert ein stark vereinfachtes Gehirn: Die beiden Reagenzgläser sind zwei Neuronen und die Verbindungsleitung am Boden nennt man Axon, die Klappe heisst Synapse. Das Gehirn funktioniert mit Strom und Spannung, diese Begriffe sind analog zu Wasserfluss und Druck. Wenn die Spannung im linken Neuron eine Schwelle überschreitet, drückt sie so stark auf die Klappe, dass sie sich öffnet und Strom vom linken zum rechten Neuron fliesst.
Fig. 1.4 a: Analoger Computer
Das Gedankenexperiment von Zenon ist eine frühe Form der Digitalisierung. Mit dem schrittweisen Prozess baut er eine Grösse auf, die die Zeit des Überholens als Information in Form einer Zahl anzugeben versucht. Dies gelingt nicht, die Zahl ist «unendlich»: 11.1111… Sie können immer eine zusätzliche, weitere Kommastelle hinzufügen. Es ist deshalb unmöglich, diese Zahl endgültig zu fassen. Sie besteht nicht in einem Zustand, den man hat, sondern in einem Prozess, der sich dem Zustand mit beliebiger Genauigkeit annähert.1 Die Digitalisierung schafft künstliche Unendlichkeiten, die in der realen Welt so nicht vorhanden sind. Das sollte uns zu denken geben.
Ich verwende diese Metapher, um die Schwierigkeiten der Digitalisierung zu veranschaulichen. Was denken Sie, wenn Sie dieses Wort hören? An digital im Sinne von 0 und 1 in einem Computer? An Digit, dem Wort für Stelle in einem Zahlsystem? An Zahlen oder gar an Begriffe, dargestellt durch Wörter und Zeichen? Materielle Systeme in der Natur, in unserem Körper und unserem Gehirn, sind analog. Solche Systeme wie z.B. das der zwei Reagenzgläser funktionieren völlig ohne Zahlen. Wenn wir sie aber «verstehen» und wenn wir dieses Verständnis an unsere Nachwelt weitergeben wollen, dann müssen wir sie beschreiben. Dabei generieren wir Information oder Daten wie Druck, Höhe der Wassersäule usw. Danach analysieren wir die Zusammenhänge in den Daten: Wenn der Druck gleich gross ist, öffnet sich die Klappe. Der Druck ist gleich gross, wenn die Wassersäulen gleich hoch sind usw. Wir wandeln das analoge System in Daten, in Information, um und analysieren deren Struktur. Können wir damit das analoge System vollständig abbilden? Mit dieser Frage sind wir während des folgenden Textes konfrontiert.
1 Im Anhang (www.nomos-shop.de/isbn/978-3-89665-968-2) finden Sie eine Erklärung des Begriffes Grenzwert, der dieses Problem löst (§ 9.5.1).
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