Bewusstseinsforscher mit Nervenzellen-Tattoo
Woher weiss ich, dass ich existiere? Woher weiss ich, dass überhaupt irgendetwas existiert? Und wie erzeugt eine rund eineinhalb Kilogramm schwere, vor allem aus Wasser, Fett, Eiweissen und Salzen bestehende Masse eine subjektive Erlebniswelt, darunter auch die ganze Palette an unterschiedlichen Gefühlszuständen?
«All dies hat denselben Ursprung in der Aktivität von Nervengewebe im Gehirn», sagt Christof Koch bei unserem Treffen im Hotel Marriott Marquis unmittelbar nach seinem Vortrag an der 10. Weltkonferenz für Wissenschaftsjournalismus in San Francisco. Bewusstsein sei ein Produkt aus Evolution und eigener Erfahrung. Wie es in unserem Kopf entstehe, sei aber weiterhin eines der grössten Rätsel der Wissenschaft, erklärt er weiter. Denn niemand wisse, wie wir mithilfe der geistlosen, nicht bewussten Atome und Moleküle im Gehirn etwa die Farbe des blauen Meers oder sogar uns selbst als Mensch wahrnehmen könnten.
Seit rund drei Jahrzehnten erforscht der amerikanische Neurowissenschaftler zusammen mit Kollegen die materielle Basis des Bewusstseins. Er will wissen, wie Neuronen und die mit ihnen assoziierten Synapsen und molekularen Prozesse persönliche Eindrücke und Empfindungen hervorbringen können. Etwa den unverkennbaren Geruch von Hunden, die zuvor im Regen waren, das bedrohliche Gefühl, wenn man nur noch an den Fingerkuppen hängend viele Meter über dem sicheren Boden in einer Felswand klettert, oder den unvergesslichen Geschmack eines edlen Weins.
Der 61-jährige Forscher ist seit sechs Jahren wissenschaftlicher Direktor des Allen-Instituts für Gehirnforschung in Seattle, das vom Microsoft-Mitgründer und Multimilliardär Paul Allen als eine Nonprofit-Forschungseinrichtung initiiert wurde. Koch, der als Sohn deutscher Diplomaten im Mittleren Westen der USA auf die Welt kam, lebte als Kind und Jugendlicher in Holland, Deutschland, Kanada und danach in Marokko, wo er im Lycée Descartes die französische Maturaprüfung machte. Anschliessend studierte er Physik und Philosophie an der Universität Tübingen und promovierte am Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik. 1986 nahm er einen Ruf ans California Institute of Technology in Pasadena an und blieb dort 27 Jahre. «Die beste Universität der Welt», schwärmt der Professor mit dem ungewöhnlichen Lebenslauf.
Begeisterter Forscher und Sportler
Mehr als 300 wissenschaftliche Veröffentlichungen sowie mehrere Sachbücher hat Koch inzwischen geschrieben. Kein Wunder, dass bei unserem Gespräch auch ein Buch in seiner Jackentasche steckt. Man müsse die Zeit effizient nutzen, sagt der Vater zweier längst erwachsener Kinder, der mit seiner Frau, die ebenfalls einen Professorentitel hat, und einem Berner Sennenhund in einem gelben Haus mit blau gestrichenen Fenstern in der Nähe des Waldes am Stadtrand von Seattle wohnt. Von dort fährt der passionierte Sportler jeden Tag mit dem Fahrrad eine Stunde zur Arbeit und wieder zurück. Früher sei er noch viel geklettert und auch Marathon gelaufen, heute rudere er dagegen regelmässig dreimal in der Woche im Achter.
Auch als Wissenschaftler ist er ein Teamplayer mit Ausdauer und eisernem Willen. 24 Jahre hat er mit dem Nobelpreisträger Francis Crick, dem Mitentdecker der Doppelhelix-Struktur des Erbmoleküls DNA, versucht, den neuronalen Code für die Entstehung von Bewusstsein zu knacken. «Ich habe Crick damals unter dem Apfelbaum im Garten meines Doktorvaters Valentin Braitenberg kennen gelernt», erinnert sich Koch. Der an Darmkrebs erkrankte Crick redigierte am Tag seines Todes im Jahr 2004 noch das gemeinsam von beiden verfasste Paper, in dem sie das sogenannte Claustrum als Ort des Bewusstseins vorschlugen: eine dünne Schicht unterhalb der Grosshirnrinde und innerhalb der weissen Substanz. «Wir verglichen das Claustrum mit der Arbeit eines Dirigenten in einem Orchester, der bis zu hundert verschiedene Solisten synchronisiert, sodass eine Sinfonie entsteht», sagt Koch. Die Solisten wären demnach die einzelnen Areale der Grosshirnrinde und die Sinfonie das Bewusstsein.
«Bewusstsein ist ein Produkt aus Evolution und eigener Erfahrung.»
Hat sich diese Theorie als richtig erwiesen? «Zusammen mit meinen Kollegen bin ich immer noch daran, die neuronalen Mechanismen aufzuklären», antwortet er. Doch erst jetzt hat man die Technologie dazu, dies im lebenden Tier zu visualisieren. So haben sie vor kurzem bei Mäusen zeigen können, dass einzelne, extrem verzweigte Claustrum-Nervenzellen wie eine Dornenkrone in die Grosshirnrinde ragen. Per Zufall habe vor drei Jahren ein anderes Team während einer Behandlung in einem Spital ihre damalige Vermutung ebenfalls bestätigt: Eine 54-jährige Epilepsiepatientin hatte bei der durchgeführten Tiefenhirnstimulation jeweils kurze Bewusstseinsausfälle, wenn die Elektrode das Claustrum elektrisch stimulierte. Plötzlich hörte die Frau auf zu sprechen und hatte eine Erinnerungslücke, aber sonst keine Folgeschäden.
Wachkomapatienten untersuchen
Weil am Allen-Institut ein Grossteil aller Versuche an Mäusen durchgeführt wird, hat Koch sich als Selbstverpflichtung für die enorme Verantwortung am Anfang eines 10-Jahr-Programms mit einem Budget von einer Milliarde US-Dollar die Nervenzelle einer Maus auf seinen linken Arm tätowieren lassen. «Wir führen aber auch Experimente an menschlichen Zellen durch, die zum Beispiel von Gewebestücken nach einer Hirnoperation stammen und als medizinischer Abfall ansonsten weggeworfen werden würden», sagt der Forscher. Wie bei einer Organtransplantation wird diese kleine Probe des Gehirns mit dem vorherigen Einverständnis des Patienten gekühlt zum Institut transportiert. Die Zellen sind im Labor dann noch zwei bis drei Tage intakt und lassen sich elektrisch aktivieren.
Ist es möglich, Bewusstsein auch zu messen? Ein Kollege der Universität von Wisconsin habe ein geniales Instrument entwickelt, das jetzt in mehreren Ländern an Patienten im Wachkoma, mit Locked-in-Syndrom und bei Vollnarkose getestet wird, erzählt Koch. Es analysiert, mit welchen Strömen das Gehirn auf einen magnetischen Impuls reagiert, und berechnet den Grad an Bewusstheit. Denn Wachkomapatienten reagieren zum Beispiel praktisch nicht auf äussere Reize ihrer Umwelt, sodass Ärzte und Angehörige oft nicht wissen, was zu tun ist und ob sie vielleicht Schmerzen empfinden. Eine ähnlich prekäre Situation kommt auch bei Operationen immer wieder vor, wenn die Narkose nicht richtig wirkt. Der Patient kann sich in diesem Zustand meist nicht mehr mitteilen, ist aber bei Bewusstsein und bekommt dadurch einiges mit.
Was das mysteriöse Phänomen Bewusstsein bedeute und wie wichtig es im Alltag sei, sagt Koch, werde vielen Menschen oft aber erst bewusst, wenn es – aus welchen Gründen auch immer – verschwinde oder nicht mehr vollständig da sei.
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