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jüngste Beiträge in »Der Wunsch nach Frieden«


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04. Januar 2025 Von: Stefano di Lorenzo - übernommen von globalbridge.ch
4. Januar 2025

Der beliebteste Feiertag: Neujahr in Russland zwischen Hoffnung und Krieg


Neujahr ist überall auf der Welt ein beliebtes Fest, aber in Russland gilt Neujahr oder Novyj God traditionell als der wichtigste Feiertag überhaupt.
Große Teile Russlands kennen strenge Winter. Die Bevölkerung ist es aber nicht nur gewohnt, sondern macht daraus zusätzlich Erfreuliches. Im Bild eine Eisbahn in St. Petersburg (Foto Stefano di Lorenzo)

(Red. Globalbridge) Schon wieder ein Beitrag über das Leben in Russland? Ja, und dies absichtlich: Wie sollen die Völker friedlich miteinander umgehen, wenn sie keine Ahnung voneinander haben? In welchen Bereichen denkt und lebt man ähnlich, wo gibt es große Differenzen? Vor allem aber braucht es auch ein Gegengewicht gegen all die Berichte in den großen westlichen Medien, in denen nicht nur Putin und der Kreml, sondern auch die ganz normalen Russen schlechtgeredet werden. Wann erschien   – ein Beispiel nur   – in den letzten Wochen eine NZZ, in der es KEINEN Artikel gab, der zum Russenhass aufforderte? (cm)

Zwischen Neujahr und Weihnachten, das nach dem orthodoxen Kalender 13 Tage später fällt als im übrigen Europa, haben die Russen mehr als eine Woche Urlaub. In Russland arbeiten die Geschäfte normalerweise jeden Tag, auch an Sonn- und Feiertagen, aber der erste Januar ist vielleicht der einzige Tag im Jahr, an dem viele Geschäfte geschlossen sind oder zumindest verkürzte Öffnungszeiten haben. 

Feiertage gibt es in Russland eine ganze Menge und die Russen sind sicherlich ein Volk, das zu feiern versteht. Aber Novyj God bleibt ein besonderer Feiertag, weil er die Bedeutung des europäischen Weihnachtsfestes und des Neujahrsfestes zusammenbringt: Die Russen beschenken einander gegenseitig und stellen den traditionell geschmückten Tannenbaum (die „Elka“) in ihren Häusern und auf den Straßen zu Neujahr und nicht zu Weihnachten auf. Auch das russische Pendant zum Weihnachtsmann, Ded Moros („Opa Frost“) bringt Kindern Freude und Geschenke in der Silvesternacht.

Weihnachten war traditionell ein wichtiger Feiertag in Russland auch, und für manche ist es das auch heute noch, aber es ist ein rein religiöser Feiertag und wird heute viel weniger als Neujahr beachtet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wollte sich Russland nach siebzig Jahren Kommunismus als christliche Nation neu erfinden, aber die Traditionen, die sich über ein paar Generationen hinweg herausgebildet hatten, sind bestehen geblieben.

Wie in allen Ländern weckt das neue Jahr auch in Russland hoffnungsvolle Sehnsüchte. Die festlichen Tage sind für viele eine Gelegenheit, ein wenig nachzudenken und einen Optimismus wiederzufinden, der manchmal verloren geht, wenn man sich nur mit den notwendigen Angelegenheiten des Alltags beschäftigt. Gestärkt durch den Urlaub und den Kontakt mit Familie und Freunden geben sich selbst die weniger Glücklichen manchmal einem Moment blinder, fast kindlicher Hoffnung hin, dass sich alles zum Besten wenden wird. Auch der russische Präsident sagte in seinen traditionellen Neujahrsgrüßen wenige Minuten vor Mitternacht: „Alles wird gut“

Und was erhoffen sich die Russen für das neue Jahr? Der Krieg in der Ukraine scheint viele zu beschäftigen. Auch wenn der Krieg für die Mehrheit der Russen etwas weit Entferntes bleibt, das nur auf den Fernsehbildschirmen zu sehen ist und das — trotz der Wirtschaftssanktionen, die zur völligen Isolierung Russlands hätten führen sollen — die Lebensweise der Menschen und ihr privates Glück nicht radikal verändert hat. 

Drei Jahre nach dem Beginn einer speziellen Militäroperation, die eine begrenzte Anwendung von Gewalt zur Erreichung konkreter Ziele hätte bedeuten müssen, hoffen viele heute in Russland, dass 2025 der Konflikt in der Ukraine beendet sein wird — vorausgesetzt, es gibt einen russischen Sieg. In Europa und Amerika ist es absolut unvorstellbar, dass die russische Bevölkerung das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine in irgendeiner Weise unterstützen würde. Russlands Handlungen in der Ukraine zu unterstützen, könne nur etwas Absurdes, Wahnsinniges und Barbarisches sein. Es ist nicht so, dass die Russen kriegswilliger als andere Völker in der Welt sind. Aber für die Russen war der Krieg in der Ukraine eine extreme, aber notwendige Maßnahme, die in den Kontext des Drangs nach Osten der NATO, der antirussischen Radikalisierung der ukrainischen Gesellschaft und Politik nach der Maidan-Revolution 2014 und des Krieges im Donbass, der als Konterrevolution begann, verstanden werden muss. 

Man kann die russische Invasion von 2014 (in Wirklichkeit handelte es sich damals, abgesehen von der Krim, eher um sporadische russische Einfälle zur Unterstützung weitgehend lokaler Milizen als um eine echte Invasion) und 2022 verurteilen, so viel man will, aber ein rationaler Ansatz bedeutet auch, zu verstehen, was die wirklichen Ursachen waren, die zu diesem Akt von der Seite Russlands geführt hat. Russland — nicht nur der „Autokrat“ Putin, sondern ein großer Teil der russischen Elite und des Volkes, für das die Ukrainer bis vor wenigen Jahren wirklich ein Brudervolk waren — fühlte sich in die Enge getrieben und die NATO musste gestoppt werden, um Russlands Sicherheitsinteresse und die Russen im Donbass zu verteidigen. Das hört man in Russland ständig, wenn man nach den Gründen fragt, die zum Krieg in der Ukraine geführt haben. Im Westen wird diese Art von Argumenten in der Regel vorschnell als „russische Propaganda“ abgetan. Russische Propaganda soll aufgrund ihres verlogenen Charakters prinzipiell weder Aufmerksamkeit noch Beachtung verdienen. Es handle sich ja nur um russische Propaganda, man brauche sich nicht darum zu kümmern, welche Argumente sie vorbringt.

Nach Ansicht des Westens ist Russland durch nichts anderes motiviert als durch den imperialen Willen, die Ukraine zu unterwerfen, und einen tiefen Hass auf die Demokratie. Dies sind selbstgerechte und moralisierende Parolen, die wir in den letzten Jahren unendlich oft gehört haben. Als ob die Fragen der militärischen Sicherheit und Russlands rote Linie in Bezug auf einen möglichen Beitritt der Ukraine zur NATO, die Putin und Russland seit mindestens 15 Jahren vor dem endgültigen Einmarsch in die Ukraine erklärt hatten, Unsinn wären, den man nicht beachten sollte, ein Bluff. Für den derzeitigen — noch für eine kurze Zeit — deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz mag der ‘Völkermord’ im Donbass, der die Russen so beunruhigte, etwas Lächerliches gewesen sein. Für die Russen war er es nicht. Nun kann man lange darüber streiten, nach welchen wissenschaftlichen Kriterien man feststellt, was ein Völkermord ist und was nicht. Tatsache ist, dass im Donbass-Krieg zwischen 2014 und 2022 bereits fünfzehntausend Menschen ums Leben gekommen waren und eine Lösung nicht in Sicht war: Der antirussische Kurs der Ukraine schien immer unerbittlicher und radikaler, die Ukraine war bereit, militärische Mittel zu benutzen, um die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen, ohne sich viele Sorgen um die Leute in den okkupierten Regionen zu machen.

Mit dem Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 hat Russland gezeigt, dass es die Situation ernst meinte. So wie es auch heute es noch ernst meint: Russland will jetzt einen Waffenstillstand nicht um jeden Preis akzeptieren. Wie der russische Außenminister Lawrow kürzlich in einem Interview sagte, macht sich Russland keine Illusionen über die Möglichkeit, den Konflikt nach der Rückkehr von Donald Trump in kurzer Zeit zu beenden. Die Russen hoffen auf Frieden, aber auch darauf, dass ihr Land endlich respektiert wird und seine Interessen berücksichtigt werden.

Wird es dieses Jahr wirklich Frieden oder zumindest einen Waffenstillstand in der Ukraine geben? Die Zeichen in Russland scheinen vielversprechender zu sein als in den vergangenen Jahren, aber es handelt sich um komplizierte Fragen, bei denen jetzt nicht mehr alles nur von Russland abhängt. Im Moment denken die Russen daher lieber an die Feiertage und an schöne Momente mit Familie und Freunden. Auf den Straßen Moskaus, Sankt Petersburgs und anderer Städte in Russland herrscht, auch dank des vielen Schnees, eine Atmosphäre fieberhafter Aufregung und instinktiver Freude. Die großen Fragen können zumindest noch ein paar Wochen warten.

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Quelle: Globalbridge - Mit freundlicher Genehmigung übernommen