Kurztext: Merz in der Zwickmühle

Ich lese gerade Pioneers Morning Briefing. Der Koalitionsvertrag steht. Warum, fragt man sich, erscheint die SPD mit ihren popeligen 15 Prozent wie der Sieger?
Genau.
Die 24 Prozent der CDU sind auch nicht gerade supi.
Hätte die SPD den schwarz-roten Verhandlungstisch definitiv verlassen, wäre rein rechnerisch nur noch die Neuwahl geblieben; nach Lage der Dinge bekämen wir die nun wirklich „große“ Koalition: Schwarz-Blau oder richtiger: Blau-Schwarz.
Denn die nächste Wahl gewinnt Alice Weidel, wir hätten wieder einmal eine Frau an der Spitze des Bundeskanzleramts; Björn Höcke wird unser nächster Innenminister, Tino Chrupalla macht den Sicherheitsberater. An der Spitze der Schwarzen würde vermutlich Markus Söder der bis dahin wahrscheinlich geplatzten Annalena Baerbock zeigen, wie Außenminister geht.
Zum Anfang zurückzukommen: Alles mögliche ließe sich zum Thema Neuwahlen denken, nur eines stünde fest – Friedrich Merz würde auch im letzten Versuch die Latte reißen, für immer aus mit Bundeskanzler. Lars Klingbeil gibt also getrost den Jung-Siegfried in brünett, alles läuft für die in jeder Hinsicht abgewirtschaftete SPD wie am Schnürchen. SPD-Sahnehäubchen neben dem Verteidigungsressort: die Finanzen. Mit Jörg Kukies wäre in der kommenden Bundesregierung die Wall Street gleich in zwei Schlüsselpositionen vertreten: BlackRock auf dem Kanzlersessel, Goldman Sachs an der Kasse.
Was muss eigentlich in aller Öffentlichkeit noch alles passieren, bis die sogenannte „Masse“ begreift, wie der liberal-demokratische Hase läuft und was er unter „Volksherrschaft“ versteht?
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Stefan Siegert : Never in meinem nicht gar so kurzen Leben hatte ich mehr als heute den Eindruck: die Zeiten verändern sich spürbar bis in den Alltag und also wirklich und nicht bloß als herbeigeredete „Zeitenwende“. Es stürmt in der Weltgeschichte, der Himmel ist dunkel und werweiß, vielleicht wird es noch kälter im Land. Wir schauen täglich genauer auf die Preisschilder, wir haben täglich mehr Gelegenheit, uns ängstlicher umzugucken. Wir bemerken, wie es zweierlei Altgewordene gibt, die sich den roten Abfallkästen auf dem Hauptbahnhof nähern: die Gutgekleideten, sie gehen stabil auf den Mülleimer zu und werfen etwas gezielt hinein. Die anderen aber in den verschlissen unmodischen Klamotten, sie nehmen an Zahl und an Heruntergekommenheit in erschreckender Weise zu, nähern sich unscheinbar. Sie werfen gezielte Blicke ins dunkle Viereck oben im roten Behälter, manche haben Taschenlampen dabei und leuchten hinein, um ja nichts zu übersehen. Sie kramen und fischen eine leere Bierflasche, eine verbeulte, leichtmetallene Dose heraus und lassen sie in ihren Plastiksack gleiten und schleppen sich weiter zum nächsten Objekt ihrer Chancengleichheit.