Die Macht des Moralischen
Warum sollten wir Schweizer uns nicht mit den Holländern von Herzen mitfreuen dürfen? Haben sie nicht trotz Hunger, Armut, Leiden aller Art und Trauer um die Opfer des unbarmherzigen Unterdrückers ihrem Jubel freien Lauf gelassen? Haben nicht die Dänen und die Norweger ein gleiches getan? Hat nicht in würdevoller Bescheidenheit der Vorsitzende des englischen Unterhauses bei einem Dankgottesdienst dem Höchsten zwar nicht für den «Sieg», wohl aber für die «Erlösung aus den Händen des Feindes» gedankt? Hat sich nicht das Volk von Paris wie das Volk von Moskau, die jedes auf seine Art die Entbehrungen, Schrecken und Bitternisse eines langen Krieges bis zur Unerträglichkeit ausgekostet hatten, sich einer überbordenden Festfreude hingegeben? Wer hätte denn ein so enges Herz, es ihnen zu verdenken?
Doch wohl nur jene gotteslästerlichen Zyniker, die den letzten, verzweifelten Propagandaschlager aus der Teufelsküche des Dr.Goebbels nachbeteten, der folgendermassen lautete: «Geniesst den Krieg; denn der Friede wird fürchterlich sein!» Den Krieg geniessen hiess, sich darüber freuen, dass täglich Tausende oder gar Zehntausende Soldaten und Zivilisten diesem Krieg zum Opfer fielen, dass Städte und Dörfer in Schutt und Asche sanken, dass ganze Völker der ärgsten Unterdrückung wehrlos preisgegeben waren, dass in Konzentrationslagern unzählige Menschen die grausamsten Quälereien und den schrecklichsten Tod erleiden mussten.
Es ist nicht wahrscheinlich, dass der Grossteil des deutschen Volkes den Frieden, selbst nach einer vollständigen Niederlage, fürchterlicher finden wird als den Krieg. Das Aufhören der Bombardierungen wurde bereits vor Kriegsende in den von den Alliierten besetzten Gebieten Deutschlands von der Bevölkerung als Erleichterung empfunden. Nun ist zunächst auch für diese deutschen Menschen alles vorüber. Alles hatte getrogen, was man ihnen eingeredet und eingetrichtert hatte, und sie sind von einer Führung, die als «einmalig», «genial» und «unfehlbar» gepriesen wurde, um alles betrogen worden. «Wir haben alles von vornherein einkalkuliert», war einer der berühmtesten Aussprüche Hitlers. Also wohl auch den Untergang.
Denn nie war eine Politik so abenteuerlich und unrealistisch wie diejenige, die sich für höchste «Realpolitik» ausgab. Es ist eine vollkommene Täuschung, ja die grösste Utopie, eine Politik einzig und allein auf Macht aufbauen zu wollen; denn reine, unbeschränkte, gänzlich amoralische und bloss materielle Macht hat niemals Dauer. Sie ruft nach Gegenkräften, anderen Mächten, und nur diejenige Politik ist wahrhaft realistisch, die an sich selbst den Massstab vernünftiger Kritik anzulegen vermag, die das Vorhandensein anderer Völker, Strömungen, Gedanken wahrzunehmen und mit ihnen zu rechnen versteht, und die weiss, dass zwar die Macht des Amoralischen in der Welt gewaltig ist, dass jedoch auch die moralischen Mächte als ein unberechenbarer, aber manchmal unerwartet mächtig auftretender Faktor in den Ablauf der Menschheitsgeschichte einzugreifen vermögen.
19.05.2015 – Eine Seniora-Leserin schrieb spontan
Lieber Willy,
es hat mich sehr angerührt , dass Du diesen Artikel versendet hast.
Ich bin Jahrgang 45 , in Hannover geboren und die ersten Jahre nach dem Krieg lebte meine Familie nicht in dem von Engländern besetzten Elternhaus. Wir teilten uns mit 6 anderen Menschen einen kleinen Raum in einer uns zugewiesenen Wohnung in der Nähe
Wir – also meine Großmutter , bekamen zum Überleben mehrmals im Jahr Pakete mit den notwendigen Lebensmitteln aus der Schweiz geschickt , aus St. Gallen, von einer Familie Darmstädter.
Sie schickten Kakao und Kaffee und Zucker , so weit ich mich erinnere , aber sie schickten auch Bilderbücher für mich und meinen Bruder:
Schaffner Alois , mehrere Bände , Globi ( Gobi ? ) , ein kleiner Affe im Anzug mit karierter Mütze , aber am schönsten :
Zäh muntere Büseli , das Buch von den zehn kleinen Katzen , das ich heute noch gern meiner kleinen Freundin Greta vorlese.
Wir haben uns alle immer sehr über diese Pakete gefreut.
Das fiel mir ein , als ich Deine Nachricht las.
Vielen Dank also für den Artikel.
Viele Grüße
Weitere Beiträge in dieser Kategorie
- Russland wird wohl kein Getreide mehr an den Westen liefern
- Wird der globale Pandemievertrag der WHO uns den Dauer-Ausnahmezustand bringen? - Teil 2
- Wird der globale Pandemievertrag der WHO uns den Dauer-Ausnahmezustand bringen? - Teil 1
- Zur weiteren Ethik-Diskussion: COVID 19 Corona Ausstiegskonzept
- Zur Corona-Ethik-Diskussion
- «Impfungen als Allerheilmittel ist eine gefährliche Strategie»
- Evgeny Morozov: Das World Wide Web war nie ein Garten Eden
- Concierto de Aranjuez - Joaquín Rodrigo II. Adagio / Pablo Sáinz-Villegas - LIVE
- Ethik in Wissenschaft und Politik – ein Leserbrief und unsere Antwort
- Zur Bedeutung des Hippokratischen Eides in der heutigen Zeit
- «Der Mensch darf nie aufhören, Mensch zu sein» (A. Schweitzer)
- CRISPR Cas9 – «Wir sind weit davon entfernt, das ‹Konzert der Gene› des Menschen zu verstehen»
- Multipolare Welt gegen Krieg
- Auf dem Weg in den digital-autoritären Sicherheitsstaat?
- Solidarwerkstatt: Nein zur militärischen EU-Beistandsverpflichtung!
- Niemals vergessen
- Manifest für Europa – Wir wollen ein Europa des Friedens und des Rechts!
- Genauer erfassen: Ethik und Kultur – Leo Tolstoi, Ilja Repin und die «Wandermaler»
- Sprachrohre der Kriegstreiber gehören in keine deutsche Redaktion.
- «Kein assistierter Suizid in Deutschland!» Offener Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages
- Verschwörungstheoretiker blasen zur Hexenjagd auf Historiker Dr. Daniele Ganser
- Jeremy Corbyn – mehr als ein politischer Robin Hood
- Gedanken zur Präimplantationsdiagnostik PID
- Willy Wimmer zum beschlossenen Kriegseinsatz in Syrien und Mali: »Wir haben mit "Winkeladvokaten" zu tun, die das Gesetz kriegskompatibel auslegen.«